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Das allmähliche Sterben
In der Demenz wird deutlich, was auch die Passion Jesu lehrt: dass Leben und Vergehen enge Nachbarn sind.
Wolfgang HuberRolf Zöllner/epd-bild
15.11.2010

"Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen." Eindrücklich trat mir dieser mittelalterliche Wechselgesang unlängst entgegen. Ein Jahrtausend ist er alt; Martin Luther hat ihn zu einem Kirchenlied ausgestaltet. Aber nun war er ganz frisch und sprach unmittelbar zu mir.

Vor kaum etwas macht die Krankheit Halt

Auf einer Tagung über das "Leben mit Demenz" zitierte der Heidelberger Altersforscher Andreas Kruse dieses Lied. So beschrieb er die Erfahrung ungezählter Menschen. Denn für Betroffene wie für Angehörige, für Pflegekräfte und Besucher wird in der Demenz deutlich, was für uns alle gilt: Der Tod ist ein Teil unseres Lebens. Unwiederbringlich entschwindet das Gedächtnis. Was vertraut war, zerrinnt. Orientierung geht verloren. Das innere Koordinatensystem löst sich auf; vor kaum etwas macht die Krankheit Halt.

Demenzkranke scheinen in eine Welt einzutreten, in der bisher Bekanntes keinen Raum mehr hat. In bestimmten Stufen der Krankheit erkennen sie auch nächste Angehörige nicht mehr. Fremdheit entsteht auch für diese Angehörigen. Auch sie meinen, eine ihnen bisher vertraute Person nicht mehr wiederzuerkennen. Viele Familien sind mit den Auswirkungen von Demenz konfrontiert. Erst in jüngster Zeit wurde begonnen, diese Krankheit zu erforschen und ihren vielfältigen Ursachen nachzugehen. Doch unabhängig von zukünftigen Erkenntnissen wird es schwer bleiben, über die eigenen Ängste zu sprechen. Und niemand sollte die Augen davor verschließen, dass es die eigene Zukunft sein kann, von der da die Rede ist.

Die Botschaft der Auferstehung kann nur aus den Schatten des Todes erklingen

"Der Tod ist groß. /Wir sind die Seinen / lachenden Munds. /Wenn wir uns mitten im Leben meinen, /wagt er zu weinen/mitten in uns." Rainer Maria Rilke hat dies festgehalten. Der christliche Glaube verankert auf eine unüberbietbare Weise den Tod mitten im Leben. Er deutet Jesu Weg auf den Tod zu als einen Weg zum Leben.

Die Botschaft der Auferstehung kann nur aus den Schatten des Todes heraus erklingen. Die Passionszeit ist von beiden Themen geprägt. Die großen Passionen von Johann Sebastian Bach oder Heinrich Schütz geben diesen Erfahrungen Raum. Die Todesangst Jesu im Garten von Gethsemane steht stellvertretend für die Furcht vor dem Kommenden: In seiner Gefangennahme scheint unser Gefangensein durch die Mächte dieser Welt auf. Jesu Leiden und sein Tod am Kreuz geschehen für die leidende und gequälte Schöpfung.

"Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen." Die Passionszeit bereitet auch auf die Umkehr dieser Erfahrung vor: "Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen." Oder mit der Sprache des Hymnus: "Wer will uns aus solcher Not frei und ledig machen? Das tust du, Herr, alleine." Die Erinnerung an Jesu Passion kann zur Quelle dafür werden, dass wir lernen, mitten im Leben mit dem Tod umzugehen.

Trotz Anti-Aging - ewige Jugend gibt es nicht

Die Begegnung mit Demenzkranken führt uns an die Grenzen menschlicher Möglichkeiten. Und die Frage drängt sich auf, von welchem Menschenbild wir uns leiten lassen. So erfolgreich sich die "Anti-Aging"-Welle auch geben mag - eine Garantie ewiger Jugend gibt es nicht.

Mit steigendem Lebensalter wächst die Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung dramatisch an. Schon demografische Gründe nötigen dazu, dass wir uns auf ein "Leben mit Demenz" einrichten. Der Schutz des Lebens, der menschlichen Würde stellt nicht nur an seinem Beginn, sondern genauso an seinem Ende eine große Aufgabe dar. "Mensch, wo bist du?" Mit diesem Motto wird der Deutsche Evangelische Kirchentag 2009 in Bremen ein wichtiges Signal setzen. Die Frage nach dem Menschen rückt ins Zentrum.

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