Wer ist eigentlich das Kind in der Krippe?
BETHLEHEM, WEST BANK - DECEMBER 14: Palestinian Christian children Adrianne Khader (L) and her brother Issa Khader pray in front of the doll representing the infant Jesus in St. Catherine's Church next to the Church of the Nativity, the traditional birthplace of Jesus Christ, on December 14, 2008 in the biblical town of Bethlehem in the West Bank. Just 10 days to go before Christmas, the city is bustling with tourists as Israeli and Palestinian forces are cooperating to make this the most cheerful Christmas since the second Palestinian Intifada broke out in September 2000. (Photo by David Silverman/Getty Images)
Getty Images/David Silverman
Hat Jesus schon vor der Geburt existiert?
Ein Riesengeheimnis umgibt die Geburt Jesu in Bethlehem. War diese Geburt ganz real – mit Wehen, Schmerzen, Wickeln und Stillen, also ein wirklicher Anfang? Oder hat Jesus schon vor seiner Geburt existiert, konnte sich gleichsam bei seiner eigenen Geburt zuschauen?
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
18.12.2017

Die ersten Lebkuchen sind schon verzehrt, Glühweine getrunken, Geschenke besorgt, die Gans (oder der vegane Nussbraten) ist bestellt. Es ist höchste Zeit, einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Wir haben Zugverbindungen rausgesucht und Platzkarten ausgedruckt. Die CDs mit den Weihnachtskonzerten laufen auch schon. Im Hauptbahnhof spielen Blechbläser zum Feierabend Weihnachtslieder.

Manche von uns haben die Krippen schon vom Dachboden geholt und aufgestellt. Das Wertvollste darin: ein neugeborener Säugling. Er ist es, um den sich alles in der Weihnachtszeit drehen wird. Er ist es, auf den sich alle Blicke richten und alle Aufmerksamkeit richtet. Über ihn gibt es wunderbare Lieder voller Emotionen.

Das Kind in der Krippe oder das zeitlose Wort?

Aber wer ist eigentlich das Kind in der Krippe? Familientraditionen sind ja sehr unterschiedlich. Das zeigt sich zum Beispiel daran, welches Weihnachtsevangelium aus der Bibel an Heiligabend vorgelesen wird. In manchen Familien ist das grundsätzlich das Lukasevangelium (Kapitel 2):

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde ... Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa ... in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“

Aber es gibt auch das erste Kapitel des Johannesevangeliums, den Prolog. Das Auffallende ist nur: Hier ist von einem Kind, einem Säugling nicht das Geringste zu finden. Es ist die Rede von einem „Wort“.

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. ... Und die Welt erkannte ihn (es) nicht. Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Kinder Gottes zu werden. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“

Kaum auf der Welt und schon erwachsen

Madonnen aus dem 12. Jahrhundert aus der Auvergne in Zentralfrankreich zeigen eine ungewöhnliche Szenerie. Maria sitzt auf einem Holzthron, ruhig, gelassen, in Gedanken ganz weit weg. Als ob sie weit über das Leben von uns Menschen und das ihres Sohnes hinwegblickt, in Räume, die uns unbekannt sind. Auf ihrem Schoß sitzt Jesus. Er hat nichts Säuglingshaftes an sich, wirkt schon fast erwachsen. Er sitzt aufrecht, strahlt Würde aus und blickt wissend in die Ferne. Ein junger Mann, stark und autark. Das ist ja auch kein Wunder, wenn er schon immer „in der Welt war“ (Johannesevangelium). Er ist aus Fleisch und Blut, aber auch zeitlos und größer und ganz anders als alle Kinder, die auf die Welt kommen.

Was stimmt denn nun: War Jesu Geburt ganz real – mit Wehen, Schmerzen, Wickeln und Stillen? War es ein wirklicher Anfang? So beschreibt es der Evangelist Lukas. Oder hat Jesus schon vor seiner Geburt existiert? Dann konnte er sich gleichsam bei seiner eigenen Geburt zuschauen. Demzufolge wäre Weihnachten, die Geburt Jesu, nur der Beginn einer Visite auf der Erde.

Es ist gut, dass es beide Erzähltraditionen gibt:

- das Kind aus Fleisch und Blut, umgeben von der Liebe seiner Eltern, dazu die Euphorie der Hirten und der Stolz der Engel. Blökende Schafe, funkelnde Sterne, ein knisterndes Lagerfeuer.

- das „Wort“, der logos, das alles auf den Kopf stellt, das alles Gewesene sprengt. Es ist eine gewaltige, zeitlose Kraft, der nichts widerstehen kann. Es ist etwas Größeres, es übertrifft diese kleine, berührende Szene im Stall. Mit seiner Geburt ändert sich vieles. Selbst der Herrscher Herodes zittert um seine Macht.

Kann man ein Wort etwa wickeln und stillen?

Wie kriegt man beides zusammen, die volksnahe Weihnachtserzählung aus dem Hirtenmilieu und die abstrakte Geschichte von der Erniedrigung und Erhöhung des „Wortes“. Kann man etwa ein Wort gebären? Kann man es stillen, es wickeln, es wiegen? Was ist das für eine merkwürdig körperlose Geschichte? Was fangen wir heute damit an? Wollen wir lieber die „Geburt eines Wortes“ miterleben oder doch eher einen echten Säugling besuchen?

Lukas ging es um die handgreiflich fassbare, körperlich reale Begründung des menschlichen Lebens. Denn nur, wer so geboren wurde, kann auch ganz real am Kreuz sterben. Da stirbt nicht ein Scheinleib, womöglich ohne Schmerzen, sondern ein wirklicher Mensch.

Heute, da jede Handelsbranche, jeder Weihnachtsmarkt die emotionale Geschichte mit der Krippe ausbeutet, hat die abstrakt anmutende Weihnachtsgeschichte des Johannes eine neue Berechtigung. Heute, da jeder menschliche Körper hundert Mal betrachtet, taxiert, therapiert und verschönert wird, hat das Unberührbare, das Geheimnisvolle des Lebens seinen eigenen Charme und seine eigene Berechtigung.

 

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