Anti-Ätsching
Muss es einem vor dem Ergrauen der Haare wirklich grauen?
Lena Uphoff
24.11.2017

"Wir werden unserer Mama zu Weihnachten eine Anti-Aging-Kur schenken." Natürlich ging mir diese Mitteilung meiner Cousine Cornelia unter die Haut. Ich würde meiner klugen, witzigen und in meinen Augen immer noch sehr frischen Tante Bettina kein einziges Enzym aufdrängen, das ihr "Altern hemmt". Und den Werbe­prospekt mit diesem Hinweis, den mir Cornelia vor die Nase hielt, ­würde ich gemeinsam mit Stoffwechsel­endprodukten wässrig entsorgen. Sie, liebe Lesende, wissen, was ich meine.

Cornelia konnte trotz gerade vollzogener Wimpernverlängerung sofort erkennen, wie ihre Geschenkidee bei mir ankam. Sie grinste derart selbstbewusst, dass ich ihr am liebs­ten ein lautes Anti-Ätsching entgegengebrüllt hätte. "Naja", murmelte sie, "Männer wissen halt nicht, was eine glatte Gesichts­haut wert ist. Die sind ja eher noch stolz drauf, wenn sich tiefe ­Falten in ihre Wangen graben, und meinen, dies sei der sichtbare Ausdruck wachsender Weisheit." Gerade von Conny hätte ich solche Sprüche nicht erwartet. Sie ist eine durch und durch genderbewusste, beruflich erfolgreiche Lady. Jederzeit kann man von ihr klare Sätze hören, wenn Männer Frauen sexuell bedrängen. Dass man "solchen Dreckskerlen sofort und brutal" das Handwerk 
legen müsse, würde Conny für eine altersmilde Formulierung halten.

Entscheidend ist, wie es drinnen aussieht

Gegenüber Kosmetikangeboten, die "dich attraktiver, jünger, aufregender machen", würde ich derartige Worte von ihr gerne mal hören. Ich zitiere die Werbeparole eines amerikanischen Haarfärbemittels namens "Goodbye Grey". Das Mittel stoppe das Ergrauen des Haares und "somit erhältst du dein Selbstvertrauen zurück und du vermeidest soziale Hilflosigkeit". Conny schüttelt ihr Haupt mit den üppigen, dunkelbraunen Locken. "Das halte ich in Sachen Gender nicht für problematisch. Das ist Werbung, die sich an Frauen wie Männer richtet." Dass mit solchen Parolen der Eindruck vermittelt wird, graue Haare machten minderwertig, zweitklassig, findet sie okay? Ich halte solche Geschäfte für eine Art Ablasshandel: "Du kaufst bei uns Selbstwert und Zuversicht!" Sie schmunzelt. Von ihrem Vetter hätte sie kaum etwas anderes erwartet. "Du musst alles gleich religiös überhöhen."

"Hast du dir noch nie die Haare tönen lassen?", fragt sie. Niemals! Ich glaube, Menschen, denen ich nicht gefalle, würden auch durch "Goodbye Grey, Anti-Grey Formula, Anti-Grey Supplement" oder ähnliche Produkte auf meinem Kopf nicht eines Besseren belehrt. Und jenen, die mich sympathisch finden, wird ziemlich gleichgültig sein, welche Farbe auf meinem Dach triumphiert. Entscheidend ist, wie es drinnen aussieht. Mit dem großen André Heller teile ich die Auffassung: "Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo."

Ob ich mal aktuelle Bilder von Tante Bettina sehen wolle, fragt Conny. Auf ihrem Smartphone zeigt sie mir eine ganze Serie, während sie mich triumphierend lächelnd von der ­Seite beobachtet. "Du bist geschockt! Ich sehe es." Nein, überhaupt nicht. "Warum schaust du dann so verdattert drein?" Nicht verdattert – überrascht. Mit Erstaunen registriere ich auf dem Dekolleté der verehrten ­Dame jene Halskette mit dem kleinen Andreas­kreuz, die sie schon bei Cornelias Taufe trug. Damals durfte ich, zehn Jahre älter als die Cousine, neben der Tante stehen und die Kerze halten. "Und das bewegt dich?" Ja. Wunderbare Erinnerungen sind das beste Anti-Aging-Programm. "Schön", murmelt Conny, "ich werde es Mama erzählen. Aber ein paar Falten weniger könnten dennoch nicht schaden." Das ist – im wahrsten Sinne des Wortes – Ansichtssache.

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