Darf man Vorurteile haben
Lisa Rienermann
Darf man Vorurteile haben?
Frauen können nicht rechnen, Politiker nicht ehrlich sein
 und behinderte Menschen nicht bei der Arbeit zupacken. Stimmt doch – oder auch nicht.
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
25.10.2017

Friederike hatte einen ­guten Start ins Leben. Ihre Eltern förderten sie als Kind und Jugendliche intensiv. Als die junge Frau mit Downsyndrom mit 18 Jahren eine Arbeit suchte, stieß sie bei mehreren Personalchefs auf viel Freundlichkeit, aber auf noch mehr Zurückhaltung. Nach etlichen vergeblichen Bewerbungen konnte sie in einem Hotel in Hamburg als ­Küchenhilfe und Servicekraft an­fangen. Ihr Chef sagt heute über sie: Es war ein Glücksfall, diese fleißige und stets ausgeglichene Frau eingestellt ­zu haben.

Vorurteile sind Pauschalurteile über ganze Gruppen: Frauen sind schlechter in Mathematik und Physik als Männer. Flüchtlinge sind häufiger kriminell als alle anderen. Hartz-IV-Empfänger sind bequemer als Erwerbstätige. Muslime unterdrücken ihre Frauen. Der Islam predigt Gewalt. Politiker hören nicht aufs Volk und lügen. Und eben: Behinderte Menschen bringen weniger Leistung im Beruf.

Grundsätzlich haben Vorurteile einen unbestreitbaren Nutzen: Sie erleichtern die Orientierung in einer unübersichtlichen Gesellschaft. Sie helfen, die Mengen an Informationen zu ordnen, die auf uns einstürmen. Da liegt es nahe, Kennzeichen wie ­Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Vermögen, Religion als Hilfskriterien anzulegen – wenn denn diese Raster nur erste Wahrnehmungshilfen wären und nicht, wie so oft, dauernde Werturteile einschlössen: Frauen sollten besser nicht Physik studieren, Flüchtlinge in ihrer Heimat bleiben, Hartz-IV-Empfänger für ihre Bequemlichkeit nicht noch belohnt werden.  

Die Opfer von Vorurteilen übernehmen oft die Abwertung durch andere

Es sind die Abwertungen, die Vorurteile so gefährlich machen. Sie trüben nicht nur die eigene Wahrnehmung und Neugier, oft übernehmen sogar die Beurteilten diese Wertungen – positive wie negative. Viele amerikanische Kinder lernen, die Hautfarbe Schwarz gegenüber der weißen abzu­werten. Und dieses Urteil übernehmen sogar die diskriminierten afroamerikanischen Kinder für sich selbst. 

Warum klaffen die Wirklichkeit und ihre subjektive Bewertung so oft auseinander? Warum löst sich zum Beispiel die subjektive Stimmung der „Wutbürger“ von der Realität, bekommen bei ihnen Angst, Missgunst, vielleicht sogar Hass so eine große Bedeutung? 

Die Abwertung anderer hat viel mit der eigenen seelischen Entwicklung zu tun. Wer eine autoritäre oder lieblose Erziehung genossen hat, deshalb nur ein schwaches Ich entwickeln und wenig Selbstvertrauen gewinnen konnte, dem fällt es schwerer als anderen, mit Konflikten sachlich umgehen. Er wird sich vielleicht selbst zu einer autoritären Persönlichkeit entwickeln, die kritische Selbstbeob­achtung verweigert und sachliche Anfragen überhört.

Die Inklusionsdebatte ist voller Vorurteile

Nicht Kritik zu üben ist das Problem, sondern die möglicherweise ­dahinterstehende pauschale Abwertung anderer. Wer mit den eigenen Vorurteilen aufräumen will, muss also auch kritisch seine verborgenen Werturteile hinterfragen. Dann kommt er vielleicht auch dem bib­lischen Ideal näher: „Hier ist nicht ­Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau ...“ ­(Galaterbrief 3,28).

Beim Thema Inklusion in der Schule kann man beobachten, wie wichtig es ist, mit Vorurteilen bedacht umzugehen. Denn manche Kritik ­an der Inklusion wurzelt in verständlichen Ängsten und Einschätzungen der Beteiligten. Eltern von Kindern mit Behinderung agieren überzogen fürsorglich. Lehrer befürchten schnell, mit diesen Schülern überfordert zu sein und zu wenig Unterstützung durch die Schulbehörde zu bekommen – was ja nicht selten auch den Tatsachen entspricht. Mitschüler beklagen, dass das Leistungsniveau ­der Klasse sinken könnte. Medien machen aus alldem eine Geschichte über mangelnde Inklusionsbereitschaft. Am Ende sieht sich jede Seite mit ihren Vorurteilen bestätigt.

Besser wäre es, die Ängste und Vorurteile ruhig aufzuarbeiten – und ernsthaft auf sie einzugehen. Das setzt Offenheit auf allen Seiten voraus. Noch besser wäre: die Menschen, um die es geht, erst einmal gründlich persönlich kennenzulernen.

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Der Artikel trägt sehr dazu bei, mit Vorurteilen angemessen umzugehen. Sie haben einen „unbestreitbaren Nutzen“, worauf der Autor zu Recht hinweist, erleichtern sie doch die „Orientierung in einer unübersichtlichen Gesellschaft“ mit ihrem Wust an Informationen, Geschehnissen, Meinungen und Erfahrungen.
Aber, wie der Name Vor – Urteil sagt, sind sie nicht endgültig sondern nur vorläufig, um überhaupt ein erstes Zurechtfinden zu ermöglichen. Werden weitere Informationen gewonnen, verdichtet sich dieses immer mehr vom Vor – Urteil zum End – Urteil, wobei auch ein solches keine Ewigkeitsgarantie beanspruchen kann.
Und hier liegt auch im Alltag seine große Schwäche, nämlich, dass man beinahe unmerklich das Vorurteil zum Endurteil werden lässt, ohne dass dieses durch neue Erkenntnisse gerechtfertigt wäre.
Vorurteile können dem Einzelfall nicht genügen. Man läuft daher Gefahr , Menschen, Situationen etc. nicht gerecht zu werden und so Schaden anzurichten.
Gelingt es aber, Vorurteilen mit Distanz und den nötigen Vorbehalten zu begegnen, sie nicht einfach ungeprüft zu übernehmen, wird man kaum jemanden durch ein erstes Vorurteil schädigen.

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"Vorurteile sind Pauschalurteile über ganze Gruppen" heißt es im Artikel. Solche Vorurteile gibt es auch. Es gibt allerdings noch ganz andere Vorurteile, die ihren Dienst folgenreich und unverdrossen verrichten. Eines dieser Vorurteile, dessen sich auch der vorliegende Artikel wie selbstverständlich bedient, ist die Behauptung, diese Gesellschaft sei unübersichtlich.

Was bitte soll an dieser Gesellschaft unübersichtlich sein? Es ist völlig klar, dass jeder mit dem klarzukommen hat, was ihm zur Verfügung steht. Für den Normalmenschen ist das sein Lohn, sein Gehalt oder seine Rente. Deren Höhe hat überhaupt nicht die Tendenz, unübersichtlich zu sein. Ganz im Gegenteil. So ca. 40% geht für die Miete drauf, der Rest muss eingeteilt werden für die sonstigen Lebensnotwendigkeiten. Von unübersichtlichen Überschüssen ist mir nichts bekannt.

Neben dem Geld ist auch die Zeiteinteilung weit entfernt von Unübersichtlichkeit. Wer einen Job hat, hat mit diesem und der zugehörigen stundenlangen Pendelei einen ziemlich übersichtlich strukturierten Tagesplan. Haushalt und Kinder sorgen auch nicht dafür, dass ein unübersichtlicher Haufen von Freizeit herausspringen würde.

Ansonsten hat der anständige Mensch immer mal wieder zur Wahl anzutreten. Ganz nach Geschmack darf er dann über "die da droben" schimpfen oder sich einbilden, er hätte etwas zu bestellen. Dann ist er sehr einfallsreich mit konstruktiven Verbesserungsvorschlägen für Gott und die Welt. Zu halten hat er sich allerdings genau an dieselben Vorgaben wie die von ihm verachteten, unengagierten Zeitgenossen.

Diese Gesellschaft zeichnet sich durch ein hohes Maß an Übersichtlichkeit aus.

Fritz Kurz

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"Besser wäre es, die Ängste und Vorurteile ruhig aufzuarbeiten – und ernsthaft auf sie einzugehen. Das setzt Offenheit auf allen Seiten voraus. Noch besser wäre: die Menschen, um die es geht, erst einmal gründlich persönlich kennenzulernen."
Ein wunderbarer Satz. Seit langem begleite ich dieses Blatt, meistens mit Kritik. Aber mit Sicherheit hat sich nie jemand in der Redaktion gefragt, warum ich es tue.

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