Ines Geipel und Svenja Flaßpöhler im Gespräch
Ines Geipel und Svenja Flaßpöhler im Gespräch
Annette Hauschild/Ostkreuz
"Verzeihen – da wird’s einem warm ums Herz"
Aber manchmal ist es unmöglich. Finden die zwangs­gedopte Sportlerin und die verlassene Tochter. Ein Gespräch über skrupellose Trainer und kühle Mütter
Tim Wegner
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
28.09.2017

chrismon: Frau Geipel, was waren das für Trainer, die im DDR-Hochleistungssport ihre Zöglinge gequält und gedopt haben?

Ines Geipel: Meist Männer. Kriegskinder, die den verlore­nen Krieg ihrer Väter im Sport nachgewinnen mussten. Sie haben vor allem Mädchen und junge Frauen seelisch und körperlich enteignet. Sehr viele Trainer waren wie entgrenzt. Sobald ein Staat Doping legitimiert, ist der ­maximale Zugriff möglich. Heute spricht man bei der DDR in den Achtzigerjahren von einer bunten, kommoden Diktatur. Im Sport war sie genau das Gegenteil. ­Turnerinnen und Gymnastinnen erzählen: "Wir mussten uns an die Wand stellen, der Trainer war unzufrieden, er hat unseren Kopf an die Wand geknallt, bis wir Gehirn­erschütterungen hatten." Oder: "Er hat das Sprungbrett nach mir geschmissen." Die Berichte sind glaubhaft, weil sie so gehäuft kommen.

Sie waren selbst Leistungssportlerin, sie sind seit vier Jahren Vorsitzende des Vereins Doping-Opfer-Hilfe, . . .

Geipel: . . . und trotzdem erfahre ich jeden Tag Dinge, von denen ich noch nicht wusste. Wir tragen das zusammen, damit die Opfer zu ihren Geschichten kommen. Viele ­waren Kinder, sie hatten noch nicht mal ein Ich. Im Mai sah ich mir mit einer Frau ihre Akte an und sagte: "Was steht denn hier? Mit zehn Jahren einen Tripper?" Sie ­hatte keinerlei Erinnerung. Mittlerweile konnte das geklärt ­werden: Es war ihr Stiefvater, ein Sportarzt in Berlin. Und dazu die ganze Chemie, die männlichen Sexualhormone. Inzwischen wissen wir von anderthalbtausend Geschädigten. Einige 40-Jährige sind nur noch mit dem Rollator unterwegs. Andere kommen überhaupt nicht mehr aus dem Haus.  

"Die Schulen im Osten sind gut saniert, die Stadien proper, alles bestens. Aber was passiert im Gehäuse?"

Waren die Trainer für die Sportlerinnen wie Ersatzväter?

Geipel: Absolut. Der DDR-Leistungssport lief meist in ­Internaten. Es gab fürsorgliche Trainer, auch kritische, die aus dem System rausgedrängt wurden. Aber für die Mehrheit im DDR-Sport waren die Schutzbefohlenen Material. So sagen sie es auch heute noch. Wenn wir uns ernsthaft von autoritären Strukturen befreien wollen, müssten wir das weitergegebene Menschenbild genauer anschauen. Die Schulen im Osten sind gut saniert, die Stadien proper, alles bestens. Aber was passiert im Gehäuse?

Svenja Flaßpöhler: Derartige Gewalterfahrungen habe ich nie gemacht, trotzdem gibt es Anknüpfungspunkte. Ich bin 1975 geboren, im Westen, habe Tischtennis auf Leistungssportniveau gespielt. Auch für mich war der Trainer eine Art Vaterersatz. Ich komme aus einer Scheidungsfamilie, die Abwesenheit des realen Vaters kenne ich sehr gut.

Ines Geipel Annette Hauschild/Ostkreuz

Ines Geipel

Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin. Sie ist aber auch Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe und selbst anerkanntes Dopingopfer. Sie, die Weltklassesprinterin war, kämpft für die Aufarbeitung des Zwangsdopings in der DDR. Dafür erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Gerade erschien ihr neuer Roman "Tochter des Diktators" (Klett-Cotta, 20 Euro).
Svenja Flaßpöhler Annette Hauschild/Ostkreuz

Svenja Flaßpöhler

Svenja Flaßpöhler, Jahrgang 1975, Philosophin, leitende Redakteurin beim "Deutschlandfunk Kultur", und Buch­autorin. Zuletzt erschien "Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld" (DVA, 17,99 Euro), das auch autobiografische Züge trägt. Mit 14 von ihrer Mutter verlassen, aufgewachsen beim Stiefvater, reflektiert sie in ihren späten Dreißigern, ob sie nach Jahren der Psychoanalyse der Mutter verziehen hat.

Aber Sie arbeiten sich an der abwesenden Mutter ab.

Flaßpöhler: Das hat sicher auch mit kulturellen Codierungen zu tun: Vätern, die gehen, verzeiht man das ja viel eher. Als ich 14 war, verließ meine Mutter auch ihren zweiten Mann, meinen Stiefvater, – und meine achtjährige Stiefschwester und mich. Das eigentlich Schlimme war aber nicht ihr Weggang, das hätten meine Schwester und ich wahrscheinlich verarbeiten können. Schlimm war, dass sie den Kontakt abgebrochen hat, uns auch nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen hat, weil sie ganz neu anfangen wollte. Ich wuchs dann bei meinem Stiefvater auf.

Was sagte sie, als sie ging?

Flaßpöhler: Für eine solche Situation gibt es keine Worte.

Sie sahen sich nicht mehr?

Flaßpöhler: Sporadisch auf Familienfesten. Aber es gab nie eine wirkliche Aussprache. Meine Mutter ist eine starke Frau, die klar gesagt hat: Das war mein Weg, ich bereue nichts.

Geipel: Ist das wirklich Stärke?

Flaßpöhler: Wenn Autonomie bedeutet, dass ein Mensch auch gesellschaftliche Hindernisse überwindet, um selbstbestimmt zu leben: ja. Trotzdem ist sicher auch Selbst­täuschung und Verdrängung im Spiel gewesen. Für uns Kinder war dieser Grad an Selbstbestimmtheit eine schwere Bürde, die ich in einer jahrelangen Psychoana­lyse versucht habe aufzuarbeiten. Gegen Ende der Analyse ­hatten wir wieder mehr Kontakt, ich bekam mein erstes Kind. Meine Mutter und ich telefonierten oft, ich fühlte mich ihr sehr nah. Aber sie kam nie, um ihre Enkelin zu sehen, das hat mich verletzt.

Und dann?

Flaßpöhler: Vier Jahre später hatte ich in Köln zu tun, wo sie in der Nähe wohnte. Wir gingen spazieren, und ich verspürte zum ersten Mal nicht mehr das Bedürfnis, über das Vergangene zu reden. Da fragte ich mich, ob ich ihr verzeihe – oder nur verdränge? So entstand mein Buch.

Verstehen Sie, warum Ihre Mutter damals gegangen ist?

Flaßpöhler: Bis zu einem bestimmten Punkt, ja. Ihre problematische Beziehung zu Männern lässt sich durch ihren Vater erklären, den sie als tyrannisch empfunden hat. Außerdem ist sie eine kluge Frau, die ihre starken berufli­chen Ambitionen nie mit der fürsorglichen Mutterrolle – die sie sich auch auszufüllen bemühte – vereinen konnte. Und dann war die Betreuungssituation in den 1970er und 80er Jahren kläglich, das Frauenbild wahnsinnig traditionell...

"Verzeihen geht nur, wo jemand eine Schuld hat"

Aber?

Flaßpöhler: Sie hatte trotz allem die Wahl. Sie hätte die Beziehung zu uns Kindern nach ihrem Weggang anders gestalten, sich selbst stärker hinterfragen können. Hier verläuft die Grenze meines Verstehens. Dahinter beginnt die Schuld meiner Mutter – und die Frage des Verzeihens.  

Fragen die Sportlerinnen auch nach den Beweggründen ihrer Trainer, warum die so rabiat waren?

Geipel: Unser Ansatz ist eher: Wie schafft es der Einzelne, der der Kälte der Mutter oder des Trainers ausgesetzt ist, seine Geschichte anzuerkennen? Zu uns kommt kein Täter und spricht mit dem Opfer. Wie soll da Verzeihen gehen? Bei Ihnen ist es womöglich anders, Frau Flaßpöhler. Sie haben ein Leben, Kinder, einen Beruf. Viele, mit denen wir zu tun haben, haben keinen Beruf, keine Beziehung. Sie können keine Kinder kriegen, weil die Chemie ihnen alles genommen hat. Wir versuchen, dass ihnen die Versöhnung mit sich selbst gelingt, mit ihrer Geschichte, mit dem Jetzt. In Ihrem Buch kommt der Opferbegriff doch ziemlich schlecht weg. Aber muss nicht das Opfer ein Maximum an Recht erhalten, sollte es nicht unsere Hand, unsere ganze Aufmerksamkeit bekommen?

Flaßpöhler: Da müssen wir zwischen Gerechtigkeit und Verzeihen unterscheiden. Verzeihen ist nicht gerecht, im Gegenteil. Verzeihen heißt, auf Vergeltung zu verzichten. Man durchbricht die Tauschwertlogik, "Du hast mir was angetan, also zahle ich es dir heim".

Geipel: Wir diskutieren das in einem christianisierten Raum, in dem Verzeihen der End- oder Fluchtpunkt ist. Ich würde erst mal Verantwortung benennen wollen. Die Gesellschaft muss strukturelle Gewalt enttabuisieren, damit die Opfer, die es nicht schaffen, öffentlich zu werden, zu ihren Geschichten kommen. Verzeihen ist im privaten Bereich absolut verhandelbar, aber nicht, wenn Gewalt politisch nicht geklärt ist.

Flaßpöhler: Da gebe ich Ihnen recht. Als Bundespräsident Joachim Gauck 2014 im griechischen Bergdorf Ligiades für das Massaker der Wehrmacht um Verzeihung bat, war das ein Stellvertreterakt, den man kritisieren kann.  

"Zu uns kommt kein Täter und spricht mit dem Opfer. Wie soll da Verzeihen gehen?"

Die jüdische Auschwitzüberlebende Eva Mozes Kor verzieh am 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz allen Nazis. Auch ein kritikwürdiger Stellvertreterakt?

Flaßpöhler: Sie wollte kein Opfer mehr sein. Deshalb hat sie verziehen. Man kann sagen, dies ist ihr gutes Recht – auch wenn ihr andere Holocaustüberlebende vorhielten: "Wenn du in diesem Rahmen an einem öffentlichen Ort sprichst, sprichst du auch für uns, und das ist nicht ­legitim." Die Frage ist aber auch, ob man das Verzeihen für das eigene Seelenheil instrumentalisieren kann. Das Ver­zeihen lässt sich nicht willentlich herbeiführen. Es er­eignet sich.

Geipel: Es kann ja sein, dass der Schmerz so übermächtig ist, dass es nicht auszuhalten ist, erneut an ihm zu rühren. Das ist schwer zu beantworten, weil es immer eine individuelle Entscheidung ist, zu entschulden. Aber liegt der Schlüssel zu Ihrer Geschichte, Frau Flaßpöhler, nicht in Ihrer langjährigen Analyse? Man geht auf den Schmerz zu und schafft es, ihn anzuschauen und aufzulösen. Es gibt doch das Konstruktive des Schmerzes. Gelangt man nicht so in eine andere Position gegenüber dem Täter?

Flaßpöhler: Das stimmt. Aber man kann nicht sagen: Mach eine Psychoanalyse, dann kannst du verzeihen. Dem Verzeihen wohnt immer auch Unverfügbares inne. Dass es glückt, sich ereignet, hängt nicht nur von mir ab.

Geipel: Sicher, aber wir haben Opfergruppen, etwa aus der zweiten deutschen Diktatur, die noch gar nicht wissen, wie sehr sie traumatisiert sind. Das Verzeihen wird ihnen dennoch andauernd angetragen. Sie sind verkehrt, sie stören, weil sie sich nicht schnell genug enttraumatisiert, nicht schnell genug von sich aus die Hand gereicht haben. Das geht nicht! Das ist verletzend.

Flaßpöhler: Verzeihen kann nie verordnet werden, nicht einmal als erstrebenswertes Ziel propagiert werden. Für manche Menschen kann es auch besser sein, sich dem zu verschließen.

Geipel: An der Forderung nach Verzeihen hängt aber auch immer die nach dem Schlussstrich. Doch ohne Täter hast du auch keine Opfer mehr. So geht das leider im Umgang mit diktatorischen Regimen. Auf diese Verleugnung der Täter, und damit auch der Opfer, haben wir uns inzwischen eingeschossen. Über den Osten kann man kichern – ein bisschen Pittiplatsch, ein bisschen rosa und hellblau. Aber seine Gewaltdimension kommt nicht mehr zur Sprache, im Gegenteil, wir sakralisieren die DDR.  

"Verzeihen ist ein Vertrauensvorschuss, ein Kredit: Man glaubt an den anderen und braucht kein Schuldeingeständnis"

Müssen wir von Tätern Reue verlangen?

Geipel: Am Verzeihen hängt schon die aktive Reue. Aber DDR-Trainer wurden Bundestrainer, ohne ein öffent­liches Bekenntnis, ohne den Satz: "Ich war eingebunden in etwas Schlimmes, heute denke ich anders." Bei steuer­finanzierten Berufen sollte das aber abverlangt werden.

Flaßpöhler: Zwei jüdische Philosophen, Hannah Arendt und Vladimir Jankélévitch, haben in Bezug auf den Nationalsozialismus gesagt: Man braucht in jedem Fall ein Schuldeingeständnis, bevor man verzeihen kann. Aber das Böse darf selbst dann nicht verziehen werden. Da­gegen meint Jacques Derrida, auch jüdischer Abstammung, dass das "reine" Verzeihen radikal voraussetzungslos sei. Es bedürfe keiner Reue. Zudem rufe nur das Unverzeihbare nach Verzeihung. Gerade das Böse ist aus Sicht Derridas Gegenstand des Verzeihens.

Geipel: Das widerspricht sich nicht.

Flaßpöhler: Aber ja. Arendt sagt, das Böse sei die Grenze. Und Derrida sagt, da liege genau die Herausforderung. Und dass das Verzeihen eben keine Reue voraussetze. Derridas Kollege Paul Ricœur wird noch präziser: Wird einem Täter verziehen, kommt er möglicherweise erst dazu, zu bereuen. Denn erst dann bricht sein Panzer auf. Bei meiner Mutter war das so. Das Verzeihen ist so gesehen ein Vertrauensvorschuss, ein Kredit: Man glaubt an den anderen und braucht kein Schuldeingeständnis.

Geipel: Aber was ist im politischen Raum damit ge­wonnen? Im vereinten Sport nach 1990 wollte man das stärkste Land der Welt werden. Dafür sind auch all die belasteten Trainer angetreten. Sie mussten nicht umdenken. Sie sagten: "Wo gehobelt wird, da fallen Späne." So geht die Gewalt immer weiter.

Flaßpöhler: Ja natürlich. Da muss man überhaupt erst mal aufdecken, was geschehen ist.

Geipel: Verzeihen kann man im Privaten wunderbar, da wird doch jedem das Herz warm. Aber hier muss richtig geackert werden, damit so viel gebrochenes Leben überhaupt halbwegs aufgefangen werden kann.

Flaßpöhler: Vielleicht sagt ja trotzdem eine ehemalige Sportlerin irgendwann einmal für sich: "Ich habe damit abgeschlossen, ich verzeihe meinem Trainer."

Geipel: Viele kommen zu uns und sagen als Allererstes: "Ich erzähle meine Geschichte, aber meinem Trainer darf nichts passieren." Das ist aber genau derjenige, der ihnen die Gewalt angetan hat. Was Ihnen gelungen ist, Frau Flaßpöhler, ist bestimmt großartig, aber ist es zu em­pfehlen, wenn politisch nichts geklärt ist? Wir haben unser Verhältnis zu Kälte, Gewalt und Zugriff nicht verändert, sondern sind eher frivol geworden im Umgang damit. Wir sind schon ziemlich feiste Aufarbeiter. 

Flaßpöhler: Sicher, die Opfer müssen erst mal ihre Geschichten erzählen. In meinem Buch gebe ich aber auch meiner Mutter eine Stimme. Es existiert schließlich auch auf der anderen Seite eine Geschichte.  

Geipel: Ja, wir können unsere Elterngenerationen bis ins feinnervigste Detail verstehen und wunderbar erklären: die Eltern, die Trainer, die Stasi-Leute. Aber ich frage mich schon, wo Sie in Ihrem Buch geblieben sind. Wo ist Ihr Schmerz? Sie sind immer die, die erklärt und weiß.

Flaßpöhler: Das sehe ich anders. Ausgangspunkt des Buches ist ein erfahrenes Leid. Und bedenken Sie, dass mein Buch "Verzeihen" heißt und nicht "Rache".  

Geipel: Aber warum wollen Sie nicht, dass anerkannt wird, was Ihnen geschehen ist, wie allein Sie gelassen wurden?

Flaßpöhler: Das war für mich wirklich nicht das Problem. Mein Umfeld hat mir mein Unglück immer vorgehalten: "Mein Gott, du Arme, das ist schrecklich, was dir passiert ist. So eine schlimme Mutter!" Das ist bei Ihnen anders.

Geipel: Es fällt immerhin auf, dass es bei Freud kein Verzeihen gibt. Also geht es um den Wunsch nach trans­zendenter Gerechtigkeit oder um das schiefe Rückgrat einer Gesellschaft, weil nichts geklärt ist? Mein Vater war Terroragent, er fuhr 15 Jahre in den Westen. Als ich das öffentlich machen musste, weil es sonst kein eigenes Leben gegeben hätte, hat er mich verhöhnt. Mein Trainer war bei der Stasi, die Freunde, die Lehrer waren es. Von denen keinen Satz. Mit wem darüber sprechen? Dennoch gibt es ihn ja, den inneren Auftrag unserer Generation, diese Zugriffe, Zumutungen, Brüche so aufzulösen, damit wir sie nicht an die nächste Generation weitergeben.

Flaßpöhler: Genau das war mein Impuls, dieses Buch zu schreiben. Ich will meine Geschichte nicht auf meine Kinder übertragen und habe mich gefragt, welche Rolle dabei das Verzeihen spielt.

"Kein Spitzel, kein Lehrer, kein Trainer, kein Vater hat sich je verantwortlich gefühlt"

Ihr Trainer hat Sie gedopt. Jemand hat Sie verraten, weil Sie sich in den Westen absetzen wollten. Ärzte haben Sie bei einer Operation verstümmelt . . .

Geipel: Es hat im Osten viel Unrecht, unendlich viel Gewalt gegeben. Es geht um Verbrechen.

Haben Sie die Verantwortlichen zur Rede gestellt? 

Geipel: Ich habe versucht, die Ärzte zu finden. Vergebens. Kein Spitzel, kein Lehrer, kein Trainer, kein Vater hat sich je verantwortlich gefühlt.

Flaßpöhler: Das ist fürchterlich. Viele Menschen zer­brechen an einer solchen Erfahrung.

Geipel: Das hätte Ihnen auch passieren können.

Flaßpöhler: Das ist das, was ich mit Unverfügbarkeit ­meine. Manche Menschen zerbrechen nicht und können das Leid in Kraft verwandeln. Nicht umsonst spricht man hier von einer Gabe.

Geipel: Das ist nicht unser Problem. Es geht nicht um ­Rache und auch nicht um Verzeihen. Unsere tägliche reale Erfahrung ist, dass diese Gewalt überhaupt erst einmal anerkannt werden muss. Sie hat stattgefunden und verlangt Anerkennung, in der Gesellschaft, im Opfer, im Täter.

Nebenbei gefragt

Frau Geipel, 2006 ließen Sie Ihren Namen aus der DDR-Rekordliste streichen . . .

Ja. Ursprünglich dachte ich, das ist die Steilvorlage für den Leichtathletikverband: Jetzt geht die
Aufarbeitung los.

Und dann?

Es lief genau anders herum, ich musste mir juristisch erkämpfen, dass ich aus dem Rekord rauskam.

Haben Sie erreicht, was Sie wollten?

Ich wollte vor allem Distanz. Es ging immerhin um vorsätzliche Körperverletzung. Und jetzt bin ich draußen!

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Den Opfern eine Geschichte geben, auch um die schweigende Mehrheit mit ihrer Verantwortlichkeit zu konfrontieren, dies ist für mich die Aufgabe von Kirche. Also Danke für dieses Gespräch.
Persönlich habe ich u.a. folgendes mitgenommen.
1. Kriegskinder mussten den verlorenen Krieg nachgewinnen.
2. Die Allgemeinheit erhöhte sich über die Siege ihrer Helden, schaute bei der Gewalt weg und sagte hinterher :"Davon habe ich nichts gewußt". Also, davon wollte ich nichts wissen.
3. Verzeihen kann man nicht verordnen. Es läßt sich weder willentlich noch therapeutisch herbeiführen. (Deswegen brauche ich Christus.)
Auch deshalb, weil ein verlangtes Verzeihen eine Entwürdigung der Opfer dargstellt. Denn ohne Täter gibt es auch kein Opfer mehr.
4. Solange alle, Täter, Zeugen und Nutznießer sich nicht zu ihrer Verantwortung bekennen, schämen sich die Opfer stellvertretend für die Scham der anderen, der schweigenden Mehrheit.

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