Jesiden in Deutschland
Jesiden in Deutschland
Tine Casper
Engel, Ehre, viele Kinder
Im Orient wurden sie verfolgt und schotteten sich ab. In der neuen Heimat müssen sich die Jesiden für die liberale Gesellschaft öffnen. Eine neue Serie über eingewanderte Religionen
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
17.07.2017

Meyan Tolans Grab war das erste auf dem Jesiden­friedhof. Am Anfang der Sandkruger Straße am Stadtrand von Oldenburg, wo Bümmerstede beginnt, wo Rhododen­dren die Privatgrundstücke säumen und große Eichen alles überwölben, liegt der ­Friedhof mit den Pfauengräbern. „Yezide“ oder „Yezidin“ steht auf jedem Grabstein – so bestimmt es die Vereinssatzung der einst ­orientalischen Religionsgemeinschaft.

„Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah“, steht auf einem Kindergrab. Vor einem an­deren Grab kniet ein junges Paar. Die Frau klagt laut, man hört es 20 Meter gegen den Wind. Vor ihr sind Laternen mit Kerzen und eine Schale mit Datteln, darauf ein gekochtes Ei. Kerzen und Lebensmittel bleiben zurück, als das Paar mit seinen Freunden den Friedhof verlässt. – Über 80 ihrer Mitglieder hat die jesidische Gemeinde hier schon bestattet.

„Jemand musste sich hier als Erster be­graben lassen, um den anderen zu zeigen: Wir bleiben hier bei unseren Toten.“ Das sagt der 70-jährige Mehmet Tolan. Er kam als Erster aus der Familie nach Deutschland. Meyan ­Tolan war seine Schwägerin.

Er wollte wissen, wie er gleichzeitig Deutscher und Jeside sein könne

Die Beerdigung war am 25. Dezember 1994. Da lebte Schwager Mehmet Tolan schon ein Vierteljahrhundert in Deutschland, hatte die 16-jährige Kurdin Safiyr aus der Heimat geheiratet, hatte bei der AEG Elektromotoren gebaut, hatte als Betriebsrat für die Interessen seiner Kollegen gestritten, hatte ein Haus gekauft, sieben Kinder bekommen. Seine Brüder waren auch nach Oldenburg gezogen und hatten viele Kinder bekommen. Und dann war da noch die jesidische Familie Tekce in Oldenburg, auch mehrere Geschwister, alle kinderreich. Und die jesidische Familie Oba aus Rastede. Und jesidische Familien in Wilhelmshaven, Varel, Leer, und wo sie überall wohnen. Sie waren inzwischen Hunderte.

Irgendwann entschloss sich Telim, Mehmet Tolans ältester Sohn: Ich gründe einen Verein für Jesiden. Das war ein Jahr, bevor seine Tante Meyan starb. So entstand der „Zentralrat der Jesiden in Deutschland“. Telim Tolan war damals 22 Jahre alt. Er wollte wissen, wie er gleichzeitig Deutscher und Jeside sein könne.

Ein Jugendlicher zeigt auf ein Bild in der Festhalle in Oldenburg. Es zeigt das jesidische Zentralheiligtum in Lalisch im Nordirak
Die erste Versammlung war in Mehmet und Safiyr Tolans Haus in Oldenburg-Evers­ten, Am Schießstand, Ecke Teeb­kengang, einer guten Wohngegend. Vor der südlichen Backsteinwand blüht ein Feigenbaum, in der Einfahrt steht ein Pfauenbild. Hochzeitsbilder der vier Söhne zieren Mehmets und Safiyrs Wohnzimmerwände.

Das Jesidentum sei die ursprüngliche Religion der Kurden, sagen viele

Und sie erzählen von ihren Kindern. Die ­Söhne sind Filial- und Vertriebsleiter, die Töchter haben studiert. Songül arbeitet am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Mit dem ARD-Moderator Reinhold Beckmann berichtete sie aus dem Irak über das Los der vom selbst ernannten „Islamischen Staat“ (IS) vertriebenen und geschändeten Jesiden. Die zweite lehrt am Berufsinformationszentrum Wuppertal. Die dritte ist Ärztin in London. Mehmet und Safiyr Tolan sind stolz auf das, was ihre Kinder erreicht haben. Schade nur, dass die Töchter in ihren Dreißigern noch ledig sind, findet ihr Vater.

Das Jesidentum soll eine sehr alte Religion sein. Die ursprüngliche Religion der Kurden, sagen viele, weil alle Jesiden Kurden sind. Die Religion der Meder zu Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends, sagen andere, weshalb der jesidische Fußballverein in Olden­burg FC Medya heißt. Es sei schon die Reli­gion der Sumerer gewesen und mindestens fünf Jahrtausende alt, sagen noch andere.

Unstrittig ist nur, dass ab dem späten elften Jahrhundert ein charismatischer Wunder­täter namens Scheikh Adi das Jesidentum erneuerte. Mystische Gedichte erzählen vom Pfauen­engel, der sich Gottes Willen widersetzte und deshalb zu höchsten Ehren er­hoben wurde. „Wir sollen unseren Verstand einschalten und nicht alles befolgen, was man uns befiehlt“, so deuten kluge Jesiden heute den Mythos. „Teufelsanbeter“, sagen orientalische Muslime und Christen. Für sie ist der gefallene Engel der Teufel.

Jesiden hei­raten Jesidinnen – das sollen sie

Schon immer waren Jesiden Pogromen ausgesetzt, Überfällen von Muslimen und Christen. Im türkisch-kurdischen Konflikt seit den 80er Jahren gerieten Jesiden zwischen die Fronten der türkischen und kurdischen Sunniten. Zuletzt ermordete der IS im Irak 3000 ihrer Männer und versklavte 5000 ihrer Frauen und Kinder.

Die Jesiden wichen vor dem Terror. Heute lebt die größte jesidische Diasporagemeinde in Deutschland. Bis zu 100 000 sollen es in­zwischen sein. 317 Familien aus dieser Generation haben sich dem Oldenburger Kulturverein schon angeschlossen. Die meisten dürften fünf oder sechs oder mehr Kinder haben.

Und sie halten seit jeher zusammen, um der feindlichen Umwelt zu trotzen. Jesiden hei­raten Jesidinnen – das sollen sie. In der Türkei, in Syrien und im Irak war das leicht durchzusetzen. In Deutschland ist das schwieriger.

Ein Pir und ein Scheikh segnen die Besucher, brennende Kohle symbolisiert die Sonne

Ehrenmorde in Oldenburg und Hannover

Manchmal passen die alte Welt des Orients und die neue Lebenswelt in Deutschland nicht zusammen. Im März 2016 erschoss der Jeside Sefin P., 22, seine Kusine Shilan Hassen, 21, während einer Hochzeitsfeier in Hannover. Es ärgerte ihn, dass sie einen anderen liebte, nicht seinen jesidischen Freund. Im Januar 2016 erstach ein jesidischer Flüchtling seine Exfrau in ­ihrer Wohnung in Nordenham bei Olden­burg. Angeblich hatte seine Familie dies zuvor beschlossen, weil sie sich von ihm getrennt hatte. Im April 2015 verschwand Hanaa S.; ­­sie war als Jugendliche im Irak verheiratet worden, kam mit ihrem Mann nach Düsseldorf, verließ ihn. Vor Gericht sagte ein V-Mann gegen ein Familienmitglied aus, das im Kiosk der Familie den Mord gestanden haben soll.

Acht solcher Morde aus dem vergangenen Jahrzehnt dokumentiert die Webseite ehrenmord.de, Morde innerhalb jesidischer Familien, dazu drei Mordversuche. Meist trieb die rigide Heiratsmoral zu den Wahnsinns­taten. Manchmal gelten die Täter als gut integriert, wie Adil und Mekin O., die Ende März 2014 in Kleve den geschiedenen Ehemann ihrer Schwester erstachen.

Mehmet Tolan schaut sehr betrübt, wenn man ihn mit solchen Themen konfrontiert. Einige dieser Leute kennt er ja persönlich. Erwarten er und seine Frau von ihren Kindern, dass sie Jesiden heiraten? „Meine Söhne haben es getan“, sagt der alte Mann. Darüber habe er sich gefreut. Von seinen Töchtern würde er es sich auch wünschen. „Aber es ist ihre Entscheidung“, betont er.

Ob er in seiner Ehre gekränkt wäre, wenn sie Nichtjesiden heiraten? „Die Asiaten reden viel von Ehre“, sagt Mehmet Tolan. „Aber Mord hat nichts mit Ehre zu tun. Wir Jesiden haben keinen Propheten, wir glauben keinem Menschen. Man soll nicht so sehr auf das hören, was andere reden.“ – Wie kommt eine orientalische Religion in der deutschen Wirklichkeit an? Was muss sich ändern? Was muss bleiben, damit niemand seine Identität preisgibt?

Mit ihrer Spindel dreht Safiyr Tolan Armbänder. Sie stehen für Glück, Fruchtbarkeit - jeder sagt etwas anderes

Indem er ihre Religion verschriftlichte, veränderte er sie

Pir Xidir Sulayman ist eine Auto­rität auf dem Gebiet religiöser Reformen. Als junger Student des Kurdischen Anfang der 70er Jahre in Bagdad wollte er mehr über seine Religion er­fahren. Öffentlich sprechen Jesiden wenig darüber. Alles Wissen bleibt in den Familien und wird von Vater zu Sohn tradiert. Die Familien gehören Kasten an: Scheikhs, Pîrs oder Murids. Und auch Kas­ten heiraten unter sich.

Beharrlich bat Pir Xidir Sulayman das religiöse Oberhaupt Baba Scheikh, dass er die mündliche Überlieferung aufschreiben dürfe. Es dauerte eine Weile, bis das Oberhaupt einwilligte. Pir Xidir Sulayman interviewte die Qewals, die Erzähler, transkribierte ihre religiösen Lieder, verglich die Versionen, ordnete sie Überlieferungstraditionen zu. Er beschrieb die Bräuche und erforschte die jesidische Geschichte. Er trat im irakischen Fernsehen auf, wurde berühmt unter den irakischen Jesiden.

Und indem er ihre Religion verschriftlichte, veränderte er sie. Pir Xidir Sulayman ist über­zeugt: Das Jesidentum wird sich auch in Deutschland weiter ändern. Nur braucht das Zeit. Man will die Verbindung zu den Jesiden im Irak und in Syrien nicht abreißen lassen.

"Jesiden müssen lernen, nach dem Sinn ihrer Regeln zu fragen"

Manche religiöse Neuerung scheint aus ­irakischer Sicht riesig, für deutsche Ohren ist sie eine Selbstverständlichkeit. Zum Beispiel diese: Die irakischen Jesiden haben die freigelassenen Frauen und Töchter wieder bei sich aufgenommen, nachdem der IS im Sommer 2014 die Ebene nordwestlich der irakischen Stadt Mossul bis zum Sindschar-Gebirge gestürmt und alle ihre Frauen und Töchter als Sexsklavinnen verkauft hatte. Wiederaufnah­me in die jesidische Gesellschaft, das war früher nicht möglich. Einmal konvertiert, und sei es aus Zwang, hieß früher: für immer verstoßen.

Pir Xidir Sulayman sagt: „Jesiden müssen lernen, nach dem Sinn ihrer Regeln zu fragen.“ Er hat deshalb Anfang der 90er Jahre beim jesidischen Zentralheiligtum von Lalisch nördlich von Mossul ein Bildungszentrum aufgebaut. Dann musste er raus aus dem Irak, 1997 bekam er Asyl in Deutschland. In Oldenburg machte er weiter. Er sammelte alles. Auch das, was auf Reform hindeutet. Etwa, dass einige jesidische Dörfer in Syrien den Heiratszwang innerhalb der Kasten aufgehoben haben.

Die deutschen Nachbarn wissen nicht, wie bedeutend Pir Xidir Sulayman ist. Für sie ist er ein alter, altmodisch gekleideter Kurde. Er läuft barfuß durch sein Einfamilienhaus in Oldenburg-Kreyenbrück. Es ist kühl, er trägt eine leichte Sommerjacke über dem Hemd und eine Lammfellmütze auf dem Kopf.

In vielen jesidischen Kulturvereinen wirbt die PKK um Einfluss und Geld

Jeside ist, wer jesidische Eltern hat. Man kann nicht Jeside werden. Um den Fortbestand ihrer Religion zu sichern, dürfen Jesiden nur ihresgleichen heiraten. Frage an Pir Xidir Sulayman: Könnten es die Jesiden so regeln wie die Juden: Wer eine jesidische Mutter hat, ist automatisch Jeside? Dann wäre freie Partnerwahl möglich, auch außerhalb der Gemeinschaft.

Pir Xidir Sulayman lächelt verschmitzt. Er widerspricht nicht. Er sagt: „Wir müssen Geduld haben.“ Die religiöse Autorität Baba Scheikh sei alt und gebrechlich. Sein Bruder, der wahrscheinliche Nachfolger, verstehe ­besser, dass Reformen nötig seien.

An einem Mittwoch im April feiern Hunderte Jesiden aus Oldenburg und Umgebung ihr Neujahrsfest. Es soll ein unpolitisches Fest sein. Gerade die Oldenburger bemühen sich, die Politik des Orients fernzuhalten und etwa der kurdischen Terrororganisation PKK kein Forum zu geben. In vielen jesidischen Kulturvereinen wirbt die PKK um Einfluss und Geld. Ihr Argument: Nur sie könne die irakischen Glaubensgeschwister vorm IS schützen. Die Oldenburger aber fühlen sich als Deutsche, ihnen geht es um Religion und Tradition.

Die jungen Erwachsenen reihen sich zum Tanz auf
Das jesidische Kulturzentrum ist eine Mehrzweckhalle, vorne Büros, hinten ein Saal, darin ein Podest mit Mikrofonen. Da­rüber eine Deutschlandfahne und ein Foto von Altbundespräsident Joachim Gauck.
Vorm Podest ein Tisch mit Pfauenstandarte und Ziyaret, einem Spitzturm, der mit seinem gezackten Grundriss die Strahlen der Sonne andeutet. Musiker schlagen die Kermance (ein Saiteninstrument), blasen die Zurma ohren­betäubend laut und hauen auf die Pauke.

"Jesiden, Eritreer, ­Iraner, sie können gut miteinander"

Safiyr Tolan dreht mit ihrer Spindel Armbänder. Samir und Samand Deeno, 19 und 20 Jahre alt, stellen sich an. Vor sieben Jahren ­flohen sie aus der Gegend von Mossul. Jetzt leben sie in Wilhelmshaven. Einer wird Bäcker, der andere Friseur. Yaseer Aleas, 26, hat einen Friseurladen in Leer. 2015 hat der Bayerische Rundfunk ein Video über seine Flucht aus dem Irak gedreht. Die jungen Männer sind zielstrebig. Auf dem Fest treffen sie vielleicht ein Mädchen, in das sie sich verlieben.

Wisam Khalf filmt das Gedränge. Er spricht kaum Deutsch. 2016 kam er auf dem Landweg nach Deutschland. Aber er hat schon einen Praktikumsplatz, der Vorsitzende des Zentralrats hat ihn vermittelt. Wisams Vater – ein irakischer Journalist – war ein Jahr zuvor geflohen. Er hält sein Handy hoch. Gerade ist er per Skype mit seiner Frau im Irak ver­bunden. Sie soll sehen, was für ein buntes Treiben sie erwartet, wenn sie bald nachzieht.

Behiye Tolan, 51, schaut auch beim Fest vorbei. Die Jesidin hat 17 Jahre lang die Frauen­arbeit in ihrem Kulturverein geleitet. Bei den regelmäßigen Teestuben und Frauennachmittagen hat sie mit Frauen geredet, Vertrauen aufgebaut, sich Gewaltgeschichten aus den Familien angehört, den Vereinsvorstand eingeschaltet, mit den Vätern geredet und vermittelt.

Nun ist Behiye Tolan hauptberuflich in der Flüchtlingsarbeit der Diakonie aktiv, nicht nur für Jesiden, auch für Eritreer, Iraner, ­Syrer, ­Iraker. Alle seien durcheinander untergebracht. „Sie harmonieren gut“, sagt Behiye Tolan. Sie kann gut Kurdisch, spricht auch ein bisschen Arabisch. In ihrer Heimat Oldenburg kann sie diese Fähigkeiten einbringen. Damit auch diejenigen in der westlichen Gesellschaft ankommen, die mit ihren Freiheiten noch fremdeln.

Infobox

Serie Religionen

In fünf Folgen berichtet ­chrismon plus über fremde religiöse Gemeinschaften, die in Deutschland heimisch werden, die ihre Sitten und Bräuche der neuen Welt anpassen müssen. Wie geht das? Und wo stoßen sie an ihre Grenzen?

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