Uri Avnery, israelischer Autor
Uri Avnery, israelischer Autor
Anita Schiffer-Fuchs/VISUM
"Wir brauchen eine neue Politik..."
"...und ich bin bereit, mitzuwirken", sagt der 93-jährige Israeli Uri Avnery. Seit Jahrzehnten ruft er seine Landsleute zu Kompromissen auf – für den Frieden
Ruthe Zuntz
22.05.2017

chrismon: Herr Avnery, seit fast 70 Jahren engagieren Sie sich politisch, seit 50 Jahren für einen Ausgleich mit den Palästinensern, insgesamt zehn Jahre waren Sie ­israelischer Parlamentarier. Was haben Sie erreicht?

Uri Avnery

Uri Avnery ist ein altgedienter israelischer Redakteur, Politiker und Friedensaktivist. Noch im ­hohen Alter schreibt er wöchentlich eine Kolumne, die in der linksliberalen israe­li­schen Tageszeitung „Haaretz“ erscheint und in sechs weitere Sprachen übersetzt wird, auch ins ­Deutsche. Avnery setzt sich vor allem für einen Frieden Israels mit den Palästinensern und der arabischen Welt ein, für die Rechte der arabi­schen Israelis und für eine Trennung zwischen Staat und Religion. Internationalen Ruhm erlangte er 1982, als er mitten im Libanonkrieg den von israelischen Truppen belagerten PLO-Chef Jassir Arafat in Westbeirut besuchte. 1992 gründete Avnery die Friedensinitiative Gush Shalom, „Der Friedensblock“. 2016 erschien der zweite Band seiner auf Hebräisch verfassten Autobiografie: „Optimist“.

Uri Avnery: Heute besteht weltweit ein Konsens darüber, dass ein Staat Palästina neben dem Staat Israel entstehen muss. Wenn unsere Regierungen diese Politik verfolgt hätten, wäre auch die Mehrheit der Bevölkerung Israels dafür.

Seit Jahren befürworten zwei von drei Israelis Friedensverhandlungen mit den Palästinensern. Genauso viele ­sagen aber zugleich, solche Verhandlungen würden in den kommenden Jahren keinen Frieden bringen.

Der Durchschnittsisraeli ist der Ansicht, der Frieden wäre wunderbar, und würde auch einen Palästinenserstaat hinnehmen. Aber er meint zu Unrecht, ein solcher Frieden sei leider unmöglich, weil die Araber ihn nicht wollen.

Wie kann man diese Israelis umstimmen?

Darauf gibt es im Moment keine Antwort. Solange das Besatzungsregime in den Palästinensergebieten Aufruhr provoziert und wir in ständiger Unsicherheit leben, ist es sehr schwer, die Weltanschauung der meisten Israelis zu ändern. Dafür braucht Israel eine neue Führung.

Die dann das Volk in Richtung Frieden treibt?

Es ist immer ein wechselseitiger Prozess. Aber letztendlich brauchen wir einen vertrauenswürdigen Premierminister, der dorthin führen kann. Und die Friedensbewegung muss einen Teil der orientalischen Juden für
sich gewinnen. Die meisten von ihnen sind rechtsgerichtet und reagieren meist emotionaler als die Ashkenasim, die europäischen Juden. Bei ihnen kommt man mit logischen Argumenten nicht wirklich an.

Sehen Sie einen geeigneten Kandidaten am Horizont?

Nein. Aber Staatsmänner tauchen aus dem Nichts auf.

Avnery wurde 1923 in der Kleinstadt Beckum als Helmut Ostermann geboren und ist in einer liberalen, gutbürgerlichen säkularen Familie in Hannover aufgewachsen. ­ Sein Vater Alfred, ein Banker, schickte Helmut auf das katholische Gymnasium, weil er meinte, dass die Katholiken als Minderheit in Hannover gegenüber einem jüdischen Kind toleranter seien als die Protestanten. 1933 musste seine Familie aus Deutschland fliehen. I­n Palästina gab sich Helmut Ostermann den Namen Uri Avnery und schloss sich der rechtsnationalen jüdischen Untergrundbewegung „Etzel“ an. Er nahm am Unabhängigkeitskrieg 1948 teil und wurde mit seinem ersten patriotischen Buch ein Nationalheld. In seinem zweiten Buch, „Die Kehr­seite der Medaille“, schrieb Avnery 1950 über die dunk­len Seiten jenes Krieges – die Morde und Vertreibungen von Arabern, die Plünderungen und Deserteure. Damit und mit seinem regierungskritischen Nachrichtenmagazin ­„HaOlam HaZeh“ (Diese Welt), das er 40 Jahre leitete, etablierte sich Avnery zeitweise als der meistgehasste Israeli.

"Wenn ein Palästinenser in den Siedlungen arbeiten will, ist er ein Verräter"

Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel hat Minis­ter­­präsident Benjamin Netanjahu verärgert, weil er auf seiner Reise nach Israel mit Friedensaktivisten gesprochen hat. Was hätte Gabriel anders machen müssen?

Warum soll er Netanjahu nicht verärgern? Je mehr er ihn verärgert, desto besser. Politisch repräsentiert Herr Netanjahu ungefähr die Hälfte von Israel. Die andere Hälfte verabscheut seine Politik. Der Außenminister hat gut gehandelt. Wenn ein israelischer Ministerpräsident nach Deutschland fährt, warum soll er nicht auch oppositionelle Kräfte treffen? Wenn so etwas bestritten würde, wäre ­Israel heute eine Art Nordkorea oder Kuba, wo bestimmt wird, wer getroffen werden darf und wer nicht.

Wenn in Deutschland Produkte aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten als solche gekennzeichnet werden, fühlen sich viele Deutsche an antijüdische Boykottaufrufe der Nazis erinnert. Was ist Ihre Haltung dazu?

Meine Bewegung „Gush Shalom“ war die erste Gruppe überhaupt, die einen Boykott gegen die Siedlungen verhängt und Listen von allen Produkten, die in den Siedlungen produziert werden, veröffentlicht hat. Wir haben aber nie dazu aufgerufen, Israel zu boykottieren – sondern nur die Siedlungen in den besetzten Gebieten!

Gerade wegen solch eines gezielten Boykotts der Siedlungen sind einige Fabriken aus den besetzten Gebieten abgezogen. Gelitten haben vor allem die Palästinenser, die dort zuvor gearbeitet hatten.

Das gehört dazu. Ein unterdrücktes Volk bringt Opfer, wenn es sich befreien will. Es ist ein ziemlich heuchlerisches Argument, zu sagen, die Palästinenser selbst wollten in den Siedlungen arbeiten. Wollen die Palästinenser besetzt sein – mit allen schrecklichen Folgen, die das jeden Tag in den besetzten Gebieten hat? Wenn ein Palästinenser in den Siedlungen arbeiten will, ist er ein Verräter.

Vor kurzem erzählte Uri Avnery in seiner Kolumne ­folgen­den Witz: Nach der Gründung Israels offenbarte sich Gott dem Staatsgründer David Ben Gurion und sagte: „Du hast viel für mein Volk geleistet. Äußere einen Wunsch und ich werde ihn erfüllen.“ Darauf Ben Gurion: „Ich möchte, dass Israel ein jüdischer und demokratischer Staat in den ­Grenzen zwischen Jordan und Mittelmeer sein wird.“ ­Der Allmächtige daraufhin: „Das ist zu viel sogar für mich! Aber ich werde zwei deiner drei Wünsche erfüllen.“ So erklärte Uri Avnery das Dilemma, in dem Israel ­seit dem Sechstagekrieg steckt: Der Staat kann jüdisch und demokratisch in den Grenzen von 1967 neben einem ­Palästinenserstaat sein; Israel kann eine Demo­kratie zusammen mit den Palästinensergebieten sein, in der die ­Juden zur Minderheit werden. Und es kann ein jüdischer Staat auf dem Gebiet des ganzen Landes bleiben – aber dann ist es keine Demokratie mehr, ­zumindest nicht für ­alle.

"Die Hauptpflicht im Land: Netanjahu und die Bande zu vertreiben"

Die Siedler sagen, sie tun in den besetzten Gebieten nur das, was die Staatsgründer 1948 auch getan hätten: sich Land von Palästinensern aneignen. Was antworten Sie?

Die USA haben Texas im Krieg mit Mexiko 1848 erobert, und die Welt akzeptiert heute Texas als Teil der USA, die allermeisten Texaner ebenfalls. Hätten die USA aber ­heute Mexiko überfallen und einen Teil des Landes besetzt, ­würde niemand dieses besetzte Gebiet als amerikanisch akzeptieren. Ebenso hat die Welt, de facto auch die arabische Welt, Israel in seinen ersten Grenzen anerkannt. Anders die 1967 besetzten Gebiete (Westbank, Golanhöhen, Sinaihalbinsel und Gazastreifen): Sie gelten nicht als Teil Israels.

Der 18-jährige Soldat Elor Azaria erschoss im März 2016 einen unbewaffneten und regungslos am Boden liegenden palästinensischen Attentäter. Sehen Sie auch darin eine Folge der 50-jährigen Besatzung?

Kriegsverbrechen hat es immer gegeben, viele davon im Unabhängigkeitskrieg von 1948, wo beide Seiten Verletzte und Kriegsgefangene töteten. Aber die Besatzung korrumpiert immer mehr. Das Neue ist, dass die meisten Israelis so ein Kriegsverbrechen unterstützen.

Zwei Drittel befürworten Azarias Begnadigung.

Ich war der Erste, der sich dafür aussprach – aber erst nachdem er sich voll und ganz zu seinem Kriegsver­brechen bekannt hat und schwer bestraft worden ist, um Trittbrettfahrer abzuschrecken. Nur weigert sich Azaria. Und er bekommt dafür Rückenwind, nicht zuletzt von seiner Familie und seinem Verteidiger, die die öffentliche Aufmerksamkeit offensichtlich genießen.

Welche Pläne haben Sie mit 93 Jahren?

Wir brauchen eine neue politische Kraft und ich bin absolut bereit, da mitzuwirken. Ich bin zu alt, um die organisatorische Initiative zu ergreifen. Aber ich würde Politiker dabei unterstützen, denn ich sehe es als die Hauptpflicht im Land, Benjamin Netanjahu und die ganze Bande zu vertreiben. Das ist lebenswichtig für Israel.

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