Ein Herz aus Briefmarken
Symbolfoto Illustration mit Briefmarken für chrismon spezial Bethel
Lisa Rienermann
Zack! Kiloware!
Schreibt eigentlich noch jemand Briefe, so richtig mit Marke drauf? Und sammelt die noch wer? Aber ja: In Bethel sortieren die Mitarbeiter, was Spender so schicken – über 30 Tonnen pro Jahr
23.03.2017

Audrey Hepburn war der Knaller. Und zwar nicht nur als Schaus­pielerin. Leidenschaftliche Sammler kennen die Geschichte: Im Jahr 2001 wollte die Deutsche Post ein Motiv aus dem Filmklassiker „Frühstück bei Tiffany“ herausbringen, Audrey Hepburn mit Hut und Zigarettenspitze. Aber dann stellten sich Hepburns Erben quer – Rauchen auf einer Wohlfahrtsmarke, das gefiel ihnen nicht. Millionen bereits gedruckter Marken ­wurden vernichtet. Doch ein paar schafften es aus der Bundesdruckerei heraus. Irgendwann fand ein Sammler eine von ihnen. „Und jetzt raten Sie mal, wo!“, sagt Gabriele Krane, die seit 14 Jahren in der Briefmarkensammelstelle in Bethel als Pädagogin arbeitet. „In einem Bethelpaket!“ Dass unter einem Wust aus Alltäglichem ein Schatz versteckt sein könnte, ist der Reiz, den die Briefmarkenstelle seit 1888 auf Briefmarkensammler, Philatelisten, ausübt. Sie bestellen kiloschwere Kartons mit Tausenden Marken und hoffen, ihre Kollektion vervollständigen zu können oder ein Kleinod günstig zu erstehen.

Jeden Tag treffen Pakete von Firmen, Umschläge von privaten Spendern und manchmal auch Alben aus Nachlässen in der Sammelstelle ein, mal 120, mal 350. In einem Jahr über 30 Tonnen Briefmarken – und das, obwohl Schreiben und Briefmarkensammeln ja ein bisschen aus der Mode gekommen sind. Eines der ledergebundenen Alben liegt auf einem massiven Schreibtisch. Mechthild Nickel, eine quirlige Frau mit Hornbrille und Strickpullover, beugt sich darüber, blättert die Pergaminseiten um und zupft flink die Briefmarken heraus. „Und wen haben wir da? Zack! Deutsches Reich, fünf Pfennig, postfrisch. Sieht man doch!“, ruft sie, dreht die Marke kurz um, begutachtet die Rückseite und legt sie in ein Kästchen, bevor sie sich auf die nächste Marke stürzt: „Zack! Postfrisch! Sieht man doch!“ Nickel sind die Motive und der Wert der Marken egal. Sie interes­siert nur: Sind es deutsche oder ausländische? Sind sie beschädigt oder nicht? Und vor allem: Sind sie gestempelt oder postfrisch? Postfrisch heißt unbenutzt. Sie haben also nie auf einem Brief geklebt, erkennbar am glänzenden Klebefilm auf der Rückseite. Die Fünf-Pfennig-Marke, die Nickel aus dem Album gezogen hat, landet später im Paket „Deutsches Reich, ungebraucht, 25 Gramm, circa 400 Stück“. Die Postfrischen sind aber die Ausnahme in der Briefmarkenstelle, die Regel sind Abgestempelte auf Papierresten oder ganzen Umschlägen. Die müssen dann noch ausgeschnitten und sortiert werden, landen schließlich meist als Kiloware bei Sammlern. Besonders beliebt ist ein halbes Kilo „Deutschland aktuell“, erhältlich für 14,50 Euro im Onlineshop der Briefmarkenstelle.

"Sammlern funkeln die Augen, die werden richtig nervös!"

Viele Sammler sind der Briefmarkenstelle seit Jahrzehnten treu, ebenso wie viele Spender. Gabriele Krane nennt als ein Beispiel eine regionale Tageszeitung. Deren Verlag bringt jedes Jahr tausende frankierte Postkarten vorbei, die Leser mit der Lösung des traditionellen Weihnachtsrätsels eingeschickt hatten. Die Postwertzeichen werden verwertet, die Postkarten datenneutral zu Altpapier. In der Sammelstelle werden die Marken von Mechthild Nickel und rund 120 oft psychisch kranken oder körperlich behin­derten Menschen gesichtet, sortiert, verpackt und wieder an Sammler verkauft. Und darum gehe es vor allem, sagt Gabriele Krane, sinnvolle Arbeit zu haben für Menschen, die den Anforderungen des Arbeitsmarktes an anderer Stelle nicht gewachsen wären.

Vor dem Fenster der Sammelstelle bläst der Wind trockene Blätter auf den Rasen, drinnen flattern Marken zu Boden. Gelbe Postkisten und grüne Kästen mit Aufschriften wie „BUMI“ (Bunte Mischung), „DA“ (Deutschland aktuell) oder „MABU“ (Massenware Bundesrepublik) stapeln sich kreuz und quer auf den Gängen. An den Schreibtischen sitzen die Mitarbeiter und sortieren geduldig Marke um Marke. Es riecht nach Karton, es raschelt leise und die Mitarbeiter schnippeln sorgsam an den Kuverts. Die meisten Marken werden ausgeschnitten, einige gewaschen, also durch mehrere Bäder vorsichtig vom Papier gelöst. Seit 1949 sind in der Bundesrepublik mehr als 3200 Briefmarkenmotive er­schienen. Und fast alle sind durch die Brief­markensammelstelle in Bethel gewandert. Ist das nicht ein Traumjob für Sammler? Natürlich, bloß: Gerade die dürfen nicht hier arbeiten. Sie erkenne das sofort, erklärt Gabriele Krane: „Sammler, die das erste Mal hier drin stehen, haben ein Funkeln in den Augen und werden richtig nervös.“ Wer hier arbeitet, muss die Marken schlicht als Arbeitsmaterial betrachten – damit nichts Wertvolles heimlich aussortiert wird. Fragt man die Mitarbeiter nach Lieblingsmotiven, hört man von Ausgefal­lenem: hölzerne Marken aus dem ost­afrika­nischen Dschibuti, Marken aus der Schweiz, die nach Schokolade riechen, oder Marken mit 3-D-Wackelbildern von Winston ­Churchill. „Einmal gab es auch welche mit Blaubeergeschmack, aber die rochen schlimm nach Klostein“, sagt Krane.

Nach wie vor treffen reichlich Marken in Bethel ein, nur der Verkauf läuft heute nicht mehr über einen Laden, sondern im Versand­handel, erklärt Hans-Werner Mohrmann, Leiter der Briefmarkensammelstelle. „Briefmarkenspenden und auch -verkauf haben gegen den Trend in der letzten Zeit zugenommen“, wundert er sich. Wenn Mohrmann von treuen Sammlern erzählt, dann sind das Geschichten von früher. So wie der Herr, der sich immer wieder von seinem Chauffeur nach Bethel fahren ließ und sich einen geräumigen Platz in der Briefmarkenstelle suchte. Er ließ einen ­Stapel Sammelalben vor sich aufbauen, die er stundenlang geduldig durchsah. Wenn er fertig war, sagte er: „Herr Mohrmann, ich nehme alles!“ In der Sammelstelle treffen täglich neue Marken ein. Vielleicht kommt sogar Audrey Hepburn wieder einmal zu Besuch, postfrisch oder gestempelt – und womöglich 80 000 Euro wert.

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