Ixtepec, Mexico. Padre Solalinde, Flüchtlingslager.Reunion. ©AntoniaZennaro/Zeitenspiegel
Antonia Zennaro
Sie nennen ihn Padre
Regierung, lokale ­Behörden und kriminelle Banden ­machen Flüchtlingen in ­Mexiko das Leben zur Hölle. Die Schutzsuchenden ­kommen dennoch, 400 000 ­jedes Jahr. Pfarrer ­Alejandro ­Solalinde kämpft für sie
21.03.2017

Der Mann, auf dem alle Hoffnung ruht, erscheint in Weiß, an einem warmen Vormittag im Juni. Er trägt eine große Brille im schmalen Gesicht, ein dickes Holzkreuz baumelt an seinem Hals. Er geht die Treppe von seinem Zimmer hinunter in den Hof und grüßt alle, die tagelang auf seine Rückkehr gewartet haben. Sie schauen ihm nach, ehrfürchtig, hoffnungsvoll. Einige sehen ihn zum ersten Mal: Padre Alejandro Solalinde Guerra – der berühmteste Pfarrer und Menschenrechtsaktivist Mexikos.

Gerade noch besuchte er in Los Angeles den US-Politiker Bernie Sanders, um dessen Migrationspolitik zu unterstützen. Jetzt steht er vor der Kapelle, die er mit aufgebaut hat, unter dem Baum, den er gepflanzt hat. „Es ist nicht wichtig, schnell weiterzukommen. Wichtiger ist es, zu überleben“, beginnt Solalinde, der von allen nur ­Padre genannt wird. Seine Stimme ist leise, aber klar. Er tupft sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.

Etwa 200 Schutzsuchende wohnen in seiner Herberge „Hermanos en el camino“ („Geschwister auf dem Weg“), die weniger als 100 Schlafplätze hat. Wer kein Bett hat, übernachtet im Freien. Die Flüchtlingsunterkunft liegt am Ende einer erdigen ­Straße in Ixtepec, einer verarmten Stadt im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca.

Die Bewohner sitzen auf Bänken im Hof, liegen unter Bäumen. Halbwüchsige spielen Dame mit Flaschenkapseln, ein Mann macht Klimmzüge an einer Kletterstange, daneben lungern Kinder auf einer Plas­tikrutsche. Die Unterkunft ist eine von mittlerweile 72 in ganz Mexiko, in denen Geistliche und andere Freiwillige Tausenden von Flüchtlingen aus Mittelamerika Zuflucht bieten. Hier hat Solalinde den Grundstein für eine Flüchtlingshilfe gelegt, die sich bald darauf in ganz Mexiko ausbreitete.

Wer nicht mit den Banden kooperiert, wird verstümmelt oder verbrannt

Immer mehr Menschen versammeln sich im Hof um den kleinen Mann. „Mit einem Visum habt ihr 70 Prozent Über­lebenschance“, sagt er und meint damit das humanitäre Visum, das seit 2012 jeder beantragen kann, der auf seiner Flucht Opfer eines Verbrechens wurde – das betrifft fast alle. Das Papier erlaubt es ihnen, sich ein Jahr in Mexiko aufzuhalten, und ist die einfachste Art, legal weiterzureisen. Doch es zu bekommen dauert oft Monate, zu lange für jene, die so schnell wie möglich in den Norden wollen. Viele warten nicht. „Denkt darüber nach, in Mexiko zu bleiben“, fährt Solalinde fort. „In den USA seid ihr nicht willkommen.“ Doch er weiß, dass er sie nicht von ihren Plänen abhalten kann.

Julio hört aufmerksam zu. Der 16-Jährige aus Honduras ist erst vor wenigen ­Tagen hier gestrandet, für ihn steht fest: Er will in die USA, nach Louisiana zu seiner Mutter. Zehn Jahre hat er sie nicht mehr gesehen. „Sie erzählte, ich habe zwei ­kleine Brüder.“ Julio lächelt. Aus seinem linken Auge läuft Eiter, seinen Oberkörper zeichnen vier Stichverletzungen. „Die Maras“, sagt er und meint damit die Jugendbanden, die Honduras fest im Griff haben. „Sie wollten, dass ich Menschen umbringe.“ Als er sich weigerte, wurde er beinahe selbst getötet. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, verließ er seine Heimat auf direktem Weg.

Früher suchten die Flüchtlinge in den USA nach einer besseren Zukunft. Heute geht es den meisten nur ums Überleben. Sie kommen aus El Salvador, Honduras oder Guatemala – gemessen an der Mord­rate gehören sie zu den gefährlichsten ­Ländern der Welt. Wer nicht mit den Banden kooperiert, stirbt, wird verstümmelt oder verbrannt, egal ob Mann, Frau oder Kind. NGOs und der UNHCR schätzen, dass Jahr für Jahr 400 000 Menschen aus Mittelamerika die Grenze zu Mexiko überqueren. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit in anderen Ländern bewegen sie sich auf einer der gefährlichsten Fluchtrouten weltweit.

„Im Norden wird es noch riskanter, dort warten die Drogenkartelle auf euch“, warnt Solalinde. „Aber die Migrationspo­lizei ist und bleibt das schlimmste Kartell.“ Einige lachen, obwohl es nichts zu lachen gibt. Seine schonungslosen Urteile haben den Padre bekanntgemacht. Zuvor war er ein einfacher Dorfpfarrer, mit sechzig ­Jahren fing er an zu zweifeln: „Ich wollte nicht mehr in halbleeren Kirchen predigen.“ Er legte ein Sabbatjahr ein und noch eines, studierte Psychologie und Familientherapie, ging nach Afrika. Bis ihm klar wurde, dass es Hilfsbedürftige ganz in seiner Nähe gibt.

Er hat sich viele Feinde gemacht

Als er die Herberge 2007 eröffnete, galt die Einreise nach Mexiko ohne Papiere als Straftat. Flüchtlingen zu helfen war illegal. Dass das heute nicht mehr so ist, hat viel mit seinem Engagement zu tun. Er war der Erste, der die Zustände erfolgreich öffentlich machte: die Entführungen, Erpressungen, Morde und Vergewaltigungen der Flüchtlinge durch die Drogenkartelle; die Tatenlosigkeit der Politiker, die oft mit den Verbrechern unter einer Decke stecken; die unmenschliche Abschiebepraxis der Einwanderungsbehörde. Nicht zuletzt die Passivität der katholischen Kirche, die sich nicht kümmerte. Der Druck auf die Regierung wuchs, schließlich schaltete sich die UNO ein. Solalinde selbst saß im Senat, als 2011 das sogenannte Migrationsgesetz verabschiedet wurde, das seine humanitäre Arbeit legalisierte. „Eigene Wege zu gehen“, sagt der Padre, „habe ich von den Flüchtlingen gelernt.“

Er hat sich damit viele Feinde gemacht. Die Migrationsbehörde beschuldigte ihn als Schlepper, Unbekannte versuchten, die Herberge in Brand zu stecken, Mitglieder der Zetas, eines besonders grausamen mexikanischen Drogenkartells, drohten, ihn umzubringen, und schließlich wollte ihm sein Bischof die Flüchtlingshilfe verbieten. Daraufhin verließ Solalinde 2012 das Land und tourte durch Europa, um über das Elend zu berichten. Als er nach wenigen Monaten zurückkehrte, erhielt er den ­mexikanischen Menschenrechtspreis – und zwei Leibwächter. Er ersetzte sie später durch eigene Beschützer: Raúl und Salomé. Heute ist Solalinde 71 Jahre alt, und seine Arbeit ist noch lange nicht getan. „Wenn euch die Migrationsbehörde Probleme macht, dann ruft mich an“, schließt er die Versammlung unter dem Baum.

Wie fast alle Flüchtlinge ging auch Julio zu Fuß durch Mexiko bis nach Ixtepec. Zwar liegen nur einen Steinwurf von den Schlafsälen der Herberge entfernt die Zuggleise, doch kaum einer erklimmt noch die Waggons. Der Grund dafür ist das Programm „Frontera Sur“, das die Regierung 2014 mit US-Unterstützung auflegte und das zu einer massiven Aufstockung von Polizei und Militär an der gesamten Südgrenze Mexikos führte. Wer mit dem Zug reist, wird leicht erwischt und zurückgeschickt. 166 000 Menschen waren es nach einem aktuellen Bericht der NGO Inter­national Crisis Group im Jahr 2015, da­runter 30 000 unbegleitete Kinder wie Julio. Das sind neun Mal so viele Festnahmen wie noch vor fünf Jahren.

"Wir haben bereits Tausende an die Drogenkartelle verloren", sagt Solalinde

Das Programm war ein harter Schlag für die Arbeit von Solalinde. Er spricht von „ethnischer Säuberung“. Doch er ist ein Mann der Tat: „Es gibt für alles eine Lösung, man muss sie nur finden“, sagte er sich und eröffnete zwei neue Herbergen weiter im Süden. Nach ihren tagelangen Fußmärschen benötigten die Flüchtlinge nun bereits viel früher Hilfe. Die neuen Hürden hatten nicht die Zahl der Flüchtlinge ver­ändert, sondern lediglich ihre Routen.

„Wir waren fünfzehn“, erzählt Julio beim Mittagessen in der Küche, einer Baracke mit Wellblechdach. Das Trommeln eines Platzregens vermischt sich mit dem Stimmengewirr. Es gibt Reis und Gemüse aus bunten Plastikschalen. „Wir gingen nachts an den Gleisen entlang, um nicht von der Migrationspolizei erwischt zu ­werden.“ Zuerst wurden sie von Banden ­bis aufs Hemd ausgeraubt, danach von der Polizei verfolgt. Sie rannten weg, verstreuten sich, versteckten sich in den Bergen. Zwei weitere Male mussten sie vor der Polizei fliehen. Ausgehungert und dem Verdurs­ten nah erreichte Julio nach zwei Wochen die Herberge. „Ich habe es als ­Einziger geschafft“, sagt er.

Pfarrer Solalinde will das Leben von unbegleiteten Kindern wie Julio verbessern. „Wir müssen dafür sorgen, dass ihre Rechte respektiert werden“, sagt er in seiner sanf­ten, aber bestimmten Art. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter kümmern sich vor allem darum, dass gesetzlich verankerte Rechte auch umgesetzt werden. In der Herberge sind Anhörungsräume eingerichtet, die freiwilligen Mitarbeiter nehmen An­zeigen entgegen, helfen beim Ausfüllen der Visa-Anträge und gehen mit den Flüchtlingen zu den Behörden. Doch unbegleitete Minderjährige benötigen dafür einen Vormund, und für diese Aufgabe lässt sich nur sehr selten jemand finden. Die verantwortlichen Konsulate kümmern sich nicht. Die Jugendlichen müssen warten, bis sie 18 sind, die meisten reisen illegal weiter. „Wir haben bereits Tausende an die Drogenkartelle verloren“, sagt Solalinde.

Zweimal wurde sie vergewaltigt. Jetzt ist sie schwanger

Das will er ändern, und er hat bereits einen Plan, für den er das gesamte vergangene Jahr gearbeitet und mittlerweile auch wichtige Verbündete gewonnen hat: etwa das UNHCR, die Internationale Organisa­tion für Migration und die Nationale Institution zur Familienentwicklung. „Bald schon ist es so weit“, sagt er.

Nach dem Essen führt der Pfarrer mit den Bewohnern Einzelgespräche in der Küche. Geduldig hört er zu, händigt Telefonnummern aus, hantiert mit seinen zwei Handys, organisiert Transporte, wird umarmt und geküsst. Dann steht plötzlich Alba vor ihm. Seit Tagen kann sie nur noch weinen. Sie presst ihre Finger in einen gestrickten Stoffball.

Die 27-jährige Honduranerin nahm nachts allein die Route entlang der Gleise. Auf ihrer Flucht wurde sie zwei Mal vergewaltigt, jetzt ist sie schwanger. Sie hält den Kopf schief und zieht die Schultern verkrampft nach oben, während Solalinde mit ihr spricht. „Ich werde diesen Fall vor Gericht bringen“, empört er sich. Am Nachmittag vereinbart er einen Termin mit der Untersuchungskommission, kontaktiert einen Anwalt, organisiert psychologischen Beistand. „Ich werde mich nie an diese furchtbaren Dinge gewöhnen.“

Auch heute ist der Padre mit zwei Beschützern unterwegs: Raúl und Salomé

Als sich seine Wut etwas gelegt hat, sagt er: „Ich möchte diese Vergewaltiger treffen und fragen: Was hat dich dazu gebracht, so etwas zu tun?“ Vor fünf Jahren hat er Aufsehen erregt, als er das Zeta-Kartell öffentlich um Verzeihung bat. Seiner Überzeugung nach sind auch sie nur Opfer eines kranken Systems. „Wir müssen unsere Herzen ändern“, sagt er. Deshalb hat er ein Büchlein geschrieben, 58 Seiten: „Das Reich Gottes – radikales Überdenken des Lebens“. Erst gestern Nacht ist er damit fertig geworden.

Abends zieht er sich zurück in sein Zimmer, einen kleinen Raum mit kahlen Betonwänden, einem langen Bücherregal und einer Hängematte als Bett. Vor der Tür stapeln sich Säcke mit Kleiderspenden, daneben steht ein gedeckter Plastiktisch. Zusammen mit seinen zwei Beschützern isst er Bohnen mit Brot zu Abend. Was er früher so schätzte, Einsamkeit, Stille, ist ihm heute fast fremd geworden. Aber er bereut nichts: „Hier in der Herberge habe ich Gott getroffen, nicht in der Kirche.“

Wenige Tage später macht Solalinde einen Abstecher in die Hauptstadt von ­Oaxaca. Kleine farbige Häuser ducken sich neben gepflasterten Wegen. Vor der Kirche zur Heiligen Jungfrau gibt er einem honduranischen Fernsehsender ein Interview. Danach hat er noch mindestens fünf Termine, so genau weiß er es nicht. „Meine Beschützer haben den Überblick“, sagt er und deutet auf Raúl und Salomé, die keine zehn Meter von ihm entfernt stehen. Es soll noch ein Treffen mit der Wahrheitskommission geben, die er leitet.

Das Thema: Menschenrechtsverletzungen in Oaxaca. Danach steht Rat der indigenen Gemeinschaften auf der Liste, später eine Organisation für Frauenrechte. Daran schließt sich ein Gespräch mit der Migra­tionsbehörde zur Situation der unbegleiteten Kinder an. „Bekannt sein ist anstrengend, aber es öffnet viele Türen“, sagt Solalinde. Das will er nutzen, um Dinge zu verändern. Einige kritisieren ihn dafür: Muss er sich so inszenieren und zu allem etwas sagen? Er meint, er muss.

Die erste Einrichtung dieser Art in Mexiko

Zurück in der Herberge hält er die Zeit für gekommen, über seinen lange vorbereiteten Plan zu sprechen. Er trommelt alle Jugendlichen unter 18 Jahren unter dem Dach der Kapelle zusammen. Sie kommen auf ihn zu, schmale Gestalten in Tanktops, Zigarette hinter dem Ohr, abgekämpfte Blicke. „Wir haben ein Haus in Mexiko-Stadt“, verkündet der Padre stolz. „Wir werden dafür sorgen, dass jeder einen Vormund bekommt. So etwas wie einen Freund.“Julio hat das noch nicht genau verstanden, ist sich aber sicher: „Er wird uns helfen.“

Bereits wenige Wochen später wird dieses Haus eingeweiht. Es heißt „Adolescentes en el camino“ – Jugendliche auf dem Weg. Julio ist umgezogen und mit ihm zwanzig weitere Minderjährige, immer mehr kommen hinzu. Julio wartet auf sein Visum, noch braucht er viel Geduld. Auch Sola­linde hat die Herberge in Ixtepec nach all den Jahren verlassen und wohnt nun in der Hauptstadt. Ehrenamtliche helfen den Jugendlichen dabei, eine Arbeit oder einen Schulplatz zu finden, bieten Workshops und psychologische Betreuung an. Es ist die erste Einrichtung dieser Art im Land.

Derweil plant der Pfarrer zwei weitere Unterkünfte in Mexiko-Stadt, auch für Erwachsene. Außerdem schwebt ihm eine dritte speziell für Rückkehrer vor, die von den USA abgeschoben wurden. Vor allem wegen der Nähe zu wichtigen zivilen Organisationen will er die Flüchtlingshilfe in die großen Städte verlagern.

„Die Gewalt in Mittelamerika nimmt von Jahr zu Jahr zu“, sagt Solalinde, der die Nachbarländer bereits mehrmals bereist hat. Mit der Wahl von Donald Trump verdunkle sich die Aussicht der Flüchtlinge auf ein Leben in den USA dramatisch. „Mexiko muss endlich dafür sorgen, dass die Flüchtlinge hier gut leben können.“ Bis es so weit ist, will er sich darum kümmern.

 

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