Eva von Tiele-Winckler
Eva von Tiele-Winckler (1866–1930): Sie betreute früh Kinder und Jugendliche in familiären Wohngruppen
Marco Wagner
Eine neue, andere Familie
In Wohngruppen brachte Eva von Tiele-Winckler hilfsbedürftige und verwaiste Kinder unter. Ein Familienmodell, das später populär wurde
13.10.2016

Das kann doch nur eine jugendliche Schwärmerei sein! Hubert von Tiele war über seine Tochter entsetzt. Zwar hatte er, als Besitzer von Kohlegruben und Eisenhütten einer der reichsten Männer seiner Zeit, durchaus einen Blick für die bittere Armut im oberschlesischen Bergbaurevier. Und er ließ auch in der Küche seines Wohnsitzes, Schloss Miechowitz bei Beuthen (Bytom), Essen an arme Dorfbewohner austeilen. Doch die Sympathie seiner Tochter zu diesen Armen ging ihm ent­schieden zu weit. Als die 17-Jährige einen Jungen, der im Abfall nach Essensresten suchte, mit Nahrung versorgte und wusch, dann auch den Amtsvorsteher des Dorfes aufforderte, ihm eine Unterkunft zu beschaffen, schritt der Vater ein. Er verbot seiner Tochter den ­Kontakt zu den Dorfbewohnern.

Doch Eva von Tiele-Winckler blieb hartnäckig. Ein Bekehrungserlebnis in ihrer Konfirmandenzeit hatte bei ihr den Wunsch geweckt, ihr Leben den Armen zu widmen. Sie lernte heimlich Polnisch, die Sprache der Arbeiter. Ihr Vater hingegen hatte vor allem im Sinn, sie standesgemäß zu verheiraten. Eva, die bei einer Reise die diakonische Anstalt Bethel in Bielefeld kennengelernt hatte, wünschte sich, dort die Krankenpflege zu erlernen. Schließlich gab ihr Vater ihrem Drängen nach. 1887 reiste sie nach Bethel, arbeitete dort als Hilfsschwester in der Evangelischen Heil- und Pflegeanstalt und gewann deren Gründer und Leiter Friedrich von Bodelschwingh als ihren Berater.

Dessen Unterstützung konnte sie gut brauchen, als sie im Jahr darauf nach Schlesien zurückkehrte. Ihr Vater hatte sich mit der Entscheidung seiner Tochter abgefunden und schenkte ihr ein kleines Haus. In diesen „Friedenshort“ nahm Eva von Tiele-Winckler Waisenkinder, Kinder mit Behinderungen, kranke Frauen und pflegebedürftige Alte auf. Friedrich von Bodelschwingh half beim Aufbau mit Rat und Tat: Er entsandte einige Schwestern aus Bethel und riet seiner Schülerin, eine eigene Schwesternschaft zu gründen.

Konfessionelle Grenzen spielten für sie kaum eine Rolle

Im Friedenshort entstand auch eine zukunftsweisende Form der diakonischen Betreuung. Wie in einer großen Familie lebten hier zehn bis 15 Kinder verschiede­nen Alters bis zum Zeitpunkt ihrer Schulentlassung zusammen. Eine Schwes­ter ­leitete als „Mütterchen“ diese Ersatz­familie. Wenn nötig, unterstützt von ein bis zwei Schwestern als „Kindertanten“. Nach ­ihrer Familienzeit gingen die Jugendlichen zur Berufsausbildung fort, blieben aber mit ihrer Familie weiter in Kontakt. Solche Familien wurden ähnlich nach dem Zweiten Weltkrieg in den SOS-Kinder­dörfern eingerichtet.

Einige Jahre später übernahm Eva ­von Tiele-Winckler gegen den Widerstand des Friedenshort-Vorstands, der die Fi­nanzierung gefährdet sah, ein weiteres Waisenhaus im Süden Oberschlesiens. Auch hier führte sie das Familiensystem ein. 1910 folgte ein Haus bei Breslau mit bis zu 90 Kindern. Doch der Bedarf war viel größer. Statt die Einrichtungen ­weiter auszubauen, entschied sich Eva von Tiele-Winckler, einzelne Familien in angemieteten Wohnungen unterzubringen. „Heimat für Heimatlose“ nannte sie nun ihr Werk. Sie erhielt Häuser geschenkt, eröffnete weitere „Kinderheimaten“. Mit diesen Wohngruppen, bald über ganz Nord- und Ostdeutschland verbreitet, nahm Eva von Tiele-Winckler die Idee der dezentralen Wohngruppe vorweg, wie sie sich erst sehr viel später in den diakonischen Einrichtungen durchsetzte.

Konfessionelle Grenzen spielten, anders als für die meisten Christen im katholisch dominierten Oberschlesien, für Eva von Tiele-Winckler kaum eine Rolle. Durch ­ihre katholische Mutter hatte sie die katholische Mystik und Frömmigkeit kennengelernt, ihr Vater und dessen zweite Frau hatten sie mit der evangelischen Kirche vertraut gemacht. Friedrich von Bodelschwingh hatte ihr geraten, sich nicht mit konfessionellen Streitfragen aufzuhalten, sondern Jesus Christus in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelte der Friedenshort nach Freudenberg im Siegerland und Heiligengrabe in Brandenburg über. Heute ist die Einrichtung mit Wohngruppen und vielen Angeboten der Jugend-, Behinderten- und Altenhilfe in ganz Deutschland präsent.

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