Edibe Diab in ihrer Wohnung mit ihren fünf Kindern
Edibe Diab in ihrer Wohnung mit ihren fünf jüngsten Kindern. Den Kleinsten nimmt sie mit, wenn sie zum Flaschensammeln loszieht.
Christoph Püschner/Diakonie Katastrophenhilfe
Edibe Diab soll hier bleiben
Der Flüchtlingsdeal sieht vor: Viel Geld fließt in die Türkei, dafür kommen nur wenige Flüchtlinge zu uns. Funktioniert das wirklich? chrismon-Reporter Burkhard Weitz reiste nach Diyarbakır. Er traf eine syrische Kriegswitwe, die Flaschen sammelt. Und Helfer, die tun, was sie können. Aber reicht das?
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
13.10.2016

Autofahrer schenken ihnen kaum noch Beachtung: den Kindern, die in Diyarbakır an roten Ampeln Windschutzscheiben putzen und auf einen kleinen Lohn ­hoffen. Den Alten und Behinderten, die mit offener Hand zwischen den Autoreihen herumlaufen. Den Frauen und Kindern, die Plastikflaschen einsammeln und sie in großen Säcken auf Karren durch den Verkehr schieben. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien sind es immer mehr geworden. Diyarbakır liegt im Südosten der Türkei, nur 230 Kilometer von Akçakale, dem türkischen Grenz­ort zu Syrien, entfernt.

Der Autor

###drp|4TnhcZvMaedoRuTX5AEJCzX_00125944|i-43||###Burkhard Weitz, 1965 geboren, flog mit der Diakonie Katastrophenhilfe nach Diyarbakır. Dort traf er auch den EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm (siehe "Auf ein Wort", chrismon 11/2016

Edibe Diab ist eine von den vielen Frauen mit faltigen Gesichtern und schwarzen, eng umgebundenen Kopftüchern. Fünf Kinder hat sie dabei, wenn sie ihrer Arbeit nachgeht: Plastikflaschen sammeln und sie an Händler verkaufen. Edibe Diab wirkt wie eine abge­arbeitete Rentnerin. Dabei ist sie erst 38 Jahre alt. Ihr jüngstes Kind ist vier.

Noch vor viereinhalb Jahren lebte sie ein ganz anderes Leben. Damals hatte Edibe Diab einen Mann, der als Lkw-Fahrer arbeitete, sechs Kinder und ein eigenes Haus in Aleppo. Ein siebtes Kind war unterwegs. Auch damals hatte sie Sorgen – aber verglichen mit denen von heute schienen sie beherrschbar. Zwei ihrer Kinder sind taub. Der damals achtjährige Muhammed sollte am Ohr operiert werden. Mit Hilfe einer Hörprothese, eines Cochlea-Implantats, so hofften die Eltern, hätte er vielleicht zu hören gelernt. Der Antrag auf staatliche Unterstützung für die Operation war fast durch. Dann begann der Bürgerkrieg, es wurde nichts daraus.

Nach wenigen Monaten beendete der Krieg Edibe Diabs ganzes bürgerliches Leben. Eine Bombe tötete ihren Mann im Stadt­zentrum von Aleppo. Seit diesem Tag verfolgt sie das Unglück. Sie sagt: „Gott prüft mich hart. Wir müssen ihm danken.“ Jeden Tag kämpft sie dafür, ihre Kinder durchzubringen. „Al-hamdu lillâh, Gott sei Dank bin ich stark und schaffe es!“

Man könnte denken, sie lebe in Sicherheit

Als Edibe Diab nach der Beerdigung ihres Mannes heimkehrte, hatte eine Bombe ihr Haus zerstört. Sie zog mit ihren sieben Kindern ins Dorf ihrer Eltern. Auch hierhin kamen die Hubschrauber der Regierungsarmee und warfen Bomben. Sie zog mit den Kindern in den oppositionellen Teil der Stadt. Dort erlebte sie, wie das Leben einer ganzen Familie ausgelöscht wurde. Sie zog mit den Kindern nach Rakka. Dort übernahm die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ die Stadt. Zwei Jahre harrte Edibe Diab aus, bis ihr die Flucht in Öltanklastern gelang – mit allen sieben Kindern. Am ersten Tag des Jahres 2016 betrat sie die Türkei, die bereits fast drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hatte, überwiegend mehr schlecht als recht. Nun ist sie in Diyarbakır, nur 330 Kilo­meter Luftlinie von ihrer Heimatstadt Aleppo entfernt.

Im fernen Deutschland könnte man denken, Edibe Diab lebe in Sicherheit. Doch auch in Diyarbakır ist Bürgerkrieg. Bis April 2016 beschoss das türkische Militär die kurdische Stadt und legte einen Stadtteil in Schutt und Asche. „Die Kinder sind starr vor Angst, wenn ein Militärjet über den Himmel donnert“, sagt sie.

250 000 Flüchtlinge hat die Regierung in Ankara in gut ausgestatteten Lagern untergebracht, mit syrischem Schulunterricht für die Kinder und voll funktionsfähigen Krankenstationen.

In einem dieser 26 Flüchtlingslager wären Edibe Diab und ihre Kinder sicher. Aber als sie es am 1. Januar 2016 endlich über die Grenze geschafft hatten, waren diese Lager längst voll.

Schweden ist gut, ja. Aber wo ist Schweden?

Inzwischen gewährt die Türkei den Flüchtlingen sogar Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, so war es in deutschen Zeitungen zu lesen. Aber die Hürden auf dem Arbeitsmarkt sind hoch. Ein Firmenchef darf einen Syrer nur einstellen, wenn er bereits zehn türkische Arbeitnehmer beschäftigt. Edibe Diab bekommt vom Staat weder Sozialhilfe noch medizinische Versorgung, auch nicht für ihre tauben Kinder, den inzwischen zwölfjährigen Muhammed und die zehnjährige Sanaa. Keines ihrer Kinder geht zur Schule.

Mehr zum Thema

###drp|5Ou8tKzf1qIVebYTvg6lBbJE00118166|i-40||###Mehr zum großen Thema Migratio​n und Flüchtlinge in Deutschland finden Sie auf unserer Schwerpunktseite: chrismon.de/fluechtlinge

Eine Erleichterung ist es für sie, dass ihr ältester Sohn Khalil mit 18 geheiratet und seine eigene Familie gegründet hat. Kummer macht ihr, dass ein entfernter Verwandter ihre 14-jährige Tochter Wafaa mit seinem Sohn verheiratet hat. Edibe Diab konnte nichts dagegen tun. In ihrem alten bürgerlichen Leben in Syrien hätte sie darauf bestanden, dass Wafaa 25 ist, bevor sie heiratet, sagt sie. Hier, in der Türkei, sind sie und die Kinder ohne männliche Begleitung schutz- und mittellos.

Kein Frieden, kein Geld, kein Recht auf ärztliche Versorgung und ein kümmerliches Leben für die Kinder – was hält Edibe Diab noch hier? „Schweden ist gut“, das hat ihr jemand gesagt: „Da helfen sie dir.“ Aber wo dieses Land sein könnte und wie man dahin kommt, darüber hat sie sich noch keine Gedanken ­gemacht. Bislang hatte Edibe Diab dafür weder Zeit noch Kraft.

Es klingt nach wenig. Aber es kann überlebenswichtig sein

Sie hat ja etwas in Diyarbakır erreicht. Sie bewohnt eine Zweizimmerwohnung im heruntergekommenen Viertel Muradiye, wo auch andere geflüchtete Syrer leben. Fromme muslimische Wohltäter sind auf sie aufmerksam geworden. Sie haben sie mit einem Sofa und einer Waschmaschine versorgt, ein örtlicher Nachrichtenkanal berichtete. „Bedürftigen zu helfen, ist Scharia“, sagt sie. Scharia hat für Edibe Diab wie für die ­meis­ten Muslime mit praktizierter Nächstenliebe, nicht mit religiösem Fanatismus zu tun.

Zudem wollen eine Menge Menschen nicht, dass Edibe Diab in die EU weiterzieht, Politiker in Brüssel und Berlin und in an­deren europäischen Hauptstädten. Sie wollen, dass die Flüchtlinge da bleiben, wo sie sind. Und deshalb haben sie ihnen jeden weiteren Fluchtweg versperrt. Dabei kommen etwa siebenmal mehr Flüchtlinge auf eine Million Türken als auf eine Million EU-Bürger.

Im März haben die EU und die Türkei vereinbart: Die türkischen Behörden verhindern jede illegale Überfahrt über die Ägäis nach Griechenland. Schaffen es Flüchtlinge übers Meer, nimmt die Türkei sie zurück. Für jeden Zurückgeschickten nimmt die EU einen anderen Flüchtling auf. Im Prinzip funktioniert das gut. Bislang kamen per Tauschverfahren gerade ein paar Hundert in die EU.

Außerdem will die EU den Geflüchteten vor Ort helfen, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen weiterzuziehen. Sie unter­stützt nichtstaatliche Hilfsorganisationen, die in der Türkei Flücht­lingen helfen. Allein für 2016 und 2017 stellt das Amt der Europäischen Kommission für Humanitäre Hilfe (ECHO) drei Milliarden Euro bereit. Eine Million Flüchtlinge in der Türkei sollen genug zu ­essen und zu trinken haben und ärztlich versorgt werden. Und sie sollen psychosozial betreut werden. Gemeint ist: Sozialarbeiter basteln und spielen mit Kindern. Und sie geben Frauen Nähkurse und verschaffen ihnen Kontakt zu anderen Frauen in ähnlicher Lage. Das klingt nach wenig. Aber für Menschen, die viel verloren haben, kann das überlebenswichtig sein.

Alle vier Monate werden sie neu registriert

Wie soll man so viel Geld an so viele Menschen verteilen? Wie soll man die Bedürftigen ausfindig ­machen? Woher weiß man, ob sie wirklich be­dürftig sind? Wer garantiert, dass nicht irgend­jemand das Geld abgezweigt und für andere Zwecke ausgibt?

Miran Walika, 27, hat einen weichen Händedruck, eine sanfte Stimme und einen melancholischen Blick. Auch er ist Syrer. ­Eigentlich wäre er jetzt gerne in Deutschland und würde Medizin studieren. Er hat auch schon einige Monate im Goethe-Institut Deutsch gelernt. Aber beim aktuellen Ansturm von Syrern hatte sein Visumsantrag keine Chance. Er musste den Plan aufgeben. Stattdessen hilft er jetzt dem örtlichen Büro der türkischen Hilfsorganisation „Support to Life“ in Diyarbakır und übersetzt für die Arabisch sprechenden Syrer. Ein Gelegenheitsjob.

Gerade hockt er auf einem der Teppiche in Edibe Diabs günstiger Wohnung. Die ­siebenjährige Nisrin ist auf seinen Schoß ­gekrochen. Da harrt sie ruhig aus, während der vierjährige Diab und die sechsjährige Fatme um die Mutter toben. Manchmal zieht Edibe Diab eines der Kinder zu sich, herzt es, schnuppert an seinen Haaren und streicht ihm über den Kopf.

Miran Walika übersetzt für Edibe Diab vom Arabischen ins Türkische – wenn seine Hilfsorganisation die Flüchtlinge registriert, sie nach ihren Lebensumständen befragt und wenn sie ihnen mitteilt, ob sie die Bedürftigkeitsprüfung bestanden haben. Alle vier Monate werden sie neu registriert, damit die Daten nicht veralten.

"Support to Life" macht seine Arbeit gut

Die unabhängige Organisation „Support to Life“ hat Erfahrungen damit, geflohene Syrer und Iraker ausfindig zu machen, die irgendwo in den Städten unterkommen, ­abseits der Flüchtlingslager. Sie war sogar die erste Hilfsorganisation in der Türkei, die bereits 2012 erkannte: Viele Flüchtlinge gehen gar nicht in die für sie vorgesehenen Lager. Sie suchen ihr Glück auf eigene Faust in einer der Städte.

Der Fotograf

###drp|Y5_z6oGBbPnSfSyi2oOTfuv400155147|i-43||###Christoph Püschner, Jahrgang 1958, wurde klar, wie wichtig Familienbande sind. Er hofft, dass Edibe Diab auch weiterhin ihre Kinder versorgen kann

Vor vier Jahren hatte die Organisation noch etwa zehn Angestellte. Heute beschäftigt sie 270 Mitarbeiter in der ganzen Türkei, so sehr ist die Not seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges gewachsen. Das Geld für die Arbeit kommt größtenteils aus dem Ausland. „Support to Life“ ist nur eine von vielen Hilfsorganisationen in der Türkei. Aber eine, die effizient und gut arbeitet. Die Diakonie Katastrophenhilfe hat schon oft mit ihren Initiatorinnen zusammengearbeitet, zum Beispiel 2005 nach dem Erdbeben in Pakistan und 2010 bei Überschwemmungen dort.

Die EU überlässt den großen europäischen Hilfswerken die mühselige Aufgabe, das viele Geld zu verteilen. Für die Diakonie Katastrophenhilfe bietet der plötzliche Geldregen die Chance, ­eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Sie leitet das Geld an die türkische Partnerorganisation weiter. Hilfsorganisationen vor Ort kennen sich besser aus. Und sie prüft, ob das Geld auch, wie vor­gesehen, bei den Flüchtlingen ankommt. Offenbar macht „Support to Life“ seine Arbeit gut und kann Bedürftige wie Edibe Diab irgendwo in der Hauptstadt der Millionenprovinz Diyarbakır aufstöbern. 6660 Personen sollen es in der ganzen Stadt sein, etwa 1500 Familien.

"Ich tu es für meine Kinder"

Edibe Diab bekommt eine elektronische Geldkarte, die jeden Monat neu aufgeladen wird. Für sich selbst und jedes der Kinder, das noch bei ihr ist, bekommt sie monatlich 62 Türkische Lira (umgerechnet etwa 18,20 Euro) gutgeschrieben, für die sechsköpfige Familie also 372 Lira (etwa 110 Euro) für Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Außerdem bekommt sie ärztliche Hilfe. „Support to Life“ übernimmt für vier Monate sogar ihre Mietkosten. So kann Edibe Diab mal ein bisschen zur Ruhe kommen. Flaschensammeln muss sie trotzdem. Das EU-Geld reicht nicht für alles.

Für Edibe Diabs Überleben und das ihrer Kinder ist gesorgt. Viel ist das nicht, aber immerhin. Ihr größter Wunsch ist es, dass ihre taub geborenen Kinder doch noch operiert werden. Ein Arzt sagte, für ein Cochlea-Implantat sei es nun zu spät. Aber irgendwas müsse man doch noch für sie tun können, hofft sie. In der Türkei, vielleicht auch woanders. Und sie kämpft weiter.

„Ich tu nichts, womit ich meine Würde verlieren kann“, sagt sie. „Ich sammle Flaschen ein, das ist ehrliche Arbeit, selbst wenn andere Leute darauf herabsehen. Ich tu es für meine Kinder.“ 

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