Sein.Antlitz.Körper
Das erschreckte die Besucher: ,Die Flüchtlinge‘ von Helen Escobedo
Marcus Schneider
Wankende Ge stalten
So viel Elend in der barocken Pracht: Wie passt das zusammen? Der Berliner Kurator Alexander Ochs konfrontiert Kunst und Kirchenräume. Er zieht von Kirche zu Kirche und zeigt jedes Mal etwas anderes. Der EKD-Kultur­beauftragte Johann Hinrich Claussen über das, was bisher in Berliner Gottes­häusern zu sehen war
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
25.09.2016

Wer zeitgenössische Kunst in Kirchen ausstellt, wird immer noch gefragt: Darfst du das? Man hat Angst vor Verbotenem, sorgt sich um womöglich verletzte Gefühle, will aus Feigheit drohenden Streit vermeiden und verhindert, dass etwas geschieht. Die Kunst ist Freiheit, und die Kirche sollte es auch sein. Wenn beide sich begegnen, sollten Lust am Risiko, Freude am Unvorhergesehenen, Neugier auf Unberechenbares vorherrschen. Anspruch auf Meinungshoheit müssen die kirchlich Verantwortlichen dafür im eigenen Haus aufgeben. Aber das übt für den Dialog mit der Gesellschaft. Man braucht dafür eine gute Portion Demut, aber auch Gottvertrauen: Es wird schon etwas ins Wehen geraten.

###autor###Dem Berliner Kurator Alexander Ochs ist dieses Kunststück gelungen. Unter dem Titel „Sein.Antlitz.Körper“ bringt er über ein halbes Jahr verteilt moderne Kunstwerke in insgesamt neun Kirchen und eine Synagoge. Der Hauptteil der Wanderausstellung war von März bis September 2016 in sieben Berliner Kirchen sowie im Centrum Judaicum an der Oranienburger Straße zu sehen. Vom 8. Oktober bis 4. November folgt die Berliner Parochial­kirche, und vom 13. November bis 30. Dezember zum krönenden Abschluss die evangelische Erlöserkirche zu Jerusalem.

Die Kunst wird nicht benutzt, um die eigene Botschaft zu transportieren oder um sich eine neue Attraktivität herbeizu­zaubern, sondern sie wird eingeladen, damit etwas Neues und Uner­wartetes geschieht. Die Ausstellung „Sein.Antlitz.Körper“ folgt keinem sturen Konzept, versucht nicht, eine These zu belegen oder ein einziges Thema zu erörtern, sondern inszeniert vielfältigste Be­gegnungen in sehr verschiedenen Räumen. Zur ästhetischen Qualität der Exponate kam der Respekt vor dem Kirchraum.

Die Ausstellungsreihe gibt den Kirchen etwas von dem zurück, was sie auf dem Weg in die Moderne zu verlieren drohten – die Lust am Schauen, die Freude am Bild. So ist die Geschichte des modernen Kirchbaus auch eine Geschichte der Entbildlichung. Die anspruchsvollen Sakralarchitekturen beider Konfessionen nach dem Zweiten Weltkrieg kommen fast ohne Bilder aus. Sie bieten freie, leere Räume, in denen nur das gestaltete Licht eine Art von Bild darstellt. 

Berliner Dom

„Im Berliner Dom erschreckte eine Gruppe von Lumpenfiguren die Besucher: ,Die Flüchtlinge‘ von Helen Escobedo. Diese wankenden Gestalten waren keine fernen Elendsklischees, die man nur aus den Medien kannte, sondern wurden hier im Wortsinne zu ,Nächsten‘, mit denen man sich diese Kirche teilte. Die äußerliche Pracht des Doms erfuhr durch sie eine eigentümliche, höchst notwendige Brechung.“

St. Thomas von Aquin

„In der kleinen, aber sehr feinen Kapelle in der Katholischen Akademie zu Berlin kam es zu seltsam-schönen Überblendungen zwischen dem ganz Alten und dem sehr Neuen. Die Marienstatue war eingerahmt von Fotoarbeiten des koreanischen Künstlers Kyungwoo Chun: langzeitbelichtete Porträts junger Frauen, die über und über mit modischen Kleidungsstücken beladen sind, bekleidet-verkleidet, Ikonen einer zweifelhaften Weiblichkeit heute. Dazwischen die – zugegeben auch nicht ganz unelegant gewandete – Gottesmutter, die dennoch ein anderes ­Menschenbild vorstellt. Handelt es sich hier um Konkurrentinnen oder um heimliche Schwestern im Geist?“

Berliner Dom

„Keramikskulpturen der japanischen Künstlerin Leiko Ikemura füllen die Nischen unter der Empore und hinter der Kanzel. Sie sind über die Ausstellung hinaus bis nächstes Jahr, auch über den Kirchentag, im Dom zu sehen. Diese drei Frauengestalten besetzen Leerstellen, die beim Bau des Doms übrig geblieben sind. Und sie besitzen selbst eine solche genau dort, wo ihr Gesicht sein sollte.

Da ist kein Antlitz, sondern nur ein dunkles Loch. Anmutige Gestalten in feinen, heiligen Gewändern, deren Antlitzlosigkeit einen leisen Horror auslöst. Die Leere macht möglich, dass etwas ganz anderes zur Anschauung gelangt: die Ahnung eines Grundes, der zugleich ein Abgrund ist.

Wenn moderne Kunst etwas in christlichen Kirchen leisten soll, dann doch dies: die Bildlosigkeit zum Bild werden ­lassen. Das Christentum bezeugt die Unabbildbarkeit Gottes. Zugleich haben die Kirchen viele schöne, aber auch feste Bilder des Göttlichen geschaffen. Die Kirchen, denen an der Freiheit des Glaubens liegt, müssen ein eminentes Interesse an einer zeitgenössischen Kunst haben, die Bildklischees aufbricht, die auch die Bilder der christlichen Tradition durchlöchert, auflöst oder zerreißt, um den Blick von neuem ins Schweben zu bringen. Wie wäre es, wenn sie immer im Dom bleiben könnten?“

St. Marien

„Im Altarraum hatte Marta Deskur ihre Arbeit Fanshon II ausgebreitet: eine Fülle von Keramikfliesen, auf denen muslimische Kopftücher abgebildet waren – kunstvoll gewickelt, faltenreich und farbenfroh. Mal sah man das dazugehörige Gesicht im Profil, meist aber nicht. Durfte man tatsächlich das empörungsträchtigste Signal des religiösen Kulturkampfes der Gegenwart so in eine Kirche bringen, ganz ohne Kommentar und Kritik – und ausgerechnet im Altarraum? Und wie sollte man hier Abendmahl feiern, sollte man die Kopftuchfliesen in den Kreis der Feiernden aufnehmen?“

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