Regenwolke aus altem Kalenderpapier und Bueroklammern
Lisa Rienermann
Vertrauen und Vorsorge
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
27.01.2015

Die Deutschen lieben es, versichert zu sein. Sich finanziell gegen Gefahren und Schicksalsschläge abzusichern, mit diesem Wunsch finden sie bei der Versicherungswirtschaft offene Ohren. Haftpflicht, Berufsunfähigkeit, Unfälle: o. k.! Aber auch Urlaubssonne, Entführungs­risiko, Hochzeitsgarantie? Auf Nummer sicher gehen, raten Versicherungsvertreter. Mit dem Satz „Sorgt euch nicht um morgen“ wären Vertreter die längste Zeit bei ihren Firmen beschäftigt.

Dieser Satz steht auch nicht in einem Verkaufsprospekt, sondern in der Bergpredigt, jener programatischen Rede Jesu von Nazareth zu Beginn seiner öffent­lichen Auftritte in Galiläa. Sie ist berühmt geworden mit Empfehlungen wie: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch“ (Matthäus, Kapitel 6, Vers 26). Und hier finden sich auch die vielzitierten „Lilien auf dem Felde“: Sie werden, ganz ohne Anstrengung, von sich aus schön.

Es ist naiv, sich nicht um morgen zu sorgen, sagt Pastor Henning Kiene. Die Vorsorge ist wichtig, aber nicht alles im Leben muss abgesichert sein.

Sich nicht zu sorgen, ist das nicht naiv? Essen, Trinken, Kleidung – alles wird automatisch von höherer Stelle geregelt? „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht“, heißt es da. Eine sympathische, geradezu kindliche Vorstellung. Aber stimmt es überhaupt, dass Vögel keine Lebensmittel bunkern? Schon die Krähen beim Eiscafé um die Ecke bringen die ­Kekse in Sicherheit und verstecken sie in Blumenkübeln.

Die Einladung zur Sorglosigkeit klingt fast wie all die Psychotipps, die das Inter­net oder Esoterik-Buchläden anbieten: „Sorgen sind nicht gut für dich!“ „Sorgen sind Saboteure des Glücks.“ „Sorgen um das Morgen ruinieren dir das Heute“.

Was also ist gemeint? Die Sorge, die die Bergpredigt zu vertreiben sucht, hat mit dem „Kleinglauben“ zu tun. Es geht nicht darum, auf jede Vorsorge zu verzichten, sondern Wesentliches und Unwesentliches zu unterscheiden: Vertrauen zu haben statt alles zwanghaft selbst in die Hand zu nehmen. „Euch muss es zuerst um sein Reich (das des himmlischen Vaters) gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben“, steht in der Bergpredigt. Ein Rabbi Elazar aus Modiim hat Anfang des zweiten Jahrhunderts nach Christus den Satz geprägt: „Jeder, der für heute zu essen hat und sagt: Was soll ich morgen essen?, ist einer, der keinen Glauben hat.“

Die Bergpredigt steckt voller Friedens- und Sozialappelle

Der Ratschlag, nicht angstvoll an morgen zu denken, ist also eher symbolisch gemeint. Der Prediger redet nicht die tatsächlichen Zukunftsprobleme und Gefahren klein. Er kritisiert die unnötige und maßlose Angst. Sie kann sich im schlimmsten Fall zu einer „generalisierten Angststörung“ entwickeln, wie der Psychologe Rolf Merkle sagt. Wer daran leidet, ist kaum mehr fähig, irgendetwas zu tun.

Nur scheinbar lädt die Bergpredigt zur Sorglosigkeit ein, in Wirklichkeit steckt sie voller Friedens- und Sozialappelle. Walter Dirks, Linkskatholik, Journalist und Begründer der „Frankfurter Hefte“ schrieb in diesem Zusammenhang einmal: „Verbrecherisch wäre es, volkswirtschaftlich sorglos auf langfristige Vorsorge zu verzichten. Solche Konsequenzen würden nicht nur uns selbst, nicht nur die uns anvertrauten Mitmenschen und am meisten die Ärmsten . . . rasch in die Katastrophe führen.“

Haben Sie religiöse Fragen?

Schreiben Sie (bitte mit vollständiger Anschrift) an: chrismon, Stichwort: Religion für Einsteiger, Postfach 50 05 50, 60394 Frankfurt am Main, oder per E-Mail: religion-fuer-einsteiger@chrismon.de.

Und der Prediger und sein innerer Kreis − ließen sie womöglich im Vertrauen auf Gott alles gedankenlos laufen? Paul ­Claudel, der französische Schriftsteller, hat in einem Text über die Figuren der Bibel auch den zwielichtigen Judas einer Betrachtung unterzogen. Er, der später zum Verräter wurde, war zunächst eine Vertrauens­person im zwölfköpfigen Apostelkreis. Er führte die Gemeinschafts­kasse. Braucht man eine solche überhaupt, wenn man Sorglosigkeit predigt?

Claudel lässt den Judas, den er eher als pragmatischen Typ sieht, jedenfalls grimmig sagen: „Abends, wenn man fertig war, die Lilien auf dem Feld zu betrachten, freute man sich trotz allem, die Suppe auf dem Tisch zu finden.“ Ganz ohne alltägliche Fürsorge geht’s eben doch nicht. 
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Mobbing, Missbrauch, Diskriminierung, soziale Ungerechtigkeit sind die andere Seite dieser famosen Geschichte ! Sehr christlich, sehr sozial, sehr fürsorglich alles in allem, und schliesslich muss der Fortbestand der Welt mit ihrer Berufsorientierung gewährleistet sein. Eine sehr pragmatische Welt, in der wir leben !

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Soll man sich um morgen sorgen? Selbstverständlich nicht, wenn man denn treu und gänzlich unbeirrt (allein dies Wort ist in diesem Zusammenhang köstlich!) den Verheißungen folgt. Vögel haben kein Gewehr. Sind sie demnach auf Gedeih und Verderb unser Vorbild?

Demnach folgt nicht der der Bergpredigt, der sich um den MORGEN sorgt, der sich bewaffnet und der seine Haustür abschließt um sich vor dem Nächsten zu schützen.
Die Antwort der Bibelversteher und Bibelausleger lautet dann: Aber so soll das nicht verstanden werden!
Ja, wie denn dann? Etwa so, wie es jeder "Ausleger" (das ist eine sehr individuelle Auslegungsbezeichnung) es gerne möchte? Dann wäre ja jeder Ausleger sein eigener "Gerechter", sein eigener irdischer "Gott". Etwas unbedingt anders verstehen zu wollen, als es in der Bergpredigt steht, ist zudem eine subtile Art der Gotteslästerung.

Die Bibel führt so von einem Auslegungsnotstand zum nächsten mit der Konsequenz, dass sich jeder das für ihn Passende aussucht. Sonst wären ja auch die unzähligen christlichen Derivat-Vereinigungen, wie die Sekten, Grüppchen und Kirchen in der Kirche nicht zu begründen

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Zitat aus dem Artikel: "Nur scheinbar lädt die Bergpredigt zur Sorglosigkeit ein, in Wirklichkeit steckt sie voller Friedens- und Sozialappelle." Und dass dieser Satz nicht als beißende Kritik an der Bergpredigt gilt, sondern als Lob, zeigt die heutige herrschaftsdienliche Wirkung der Bergpredigt. Frieden und Wohlergehen sind Angelegenheiten, für die der Normalmensch appellieren soll. Das werden sich die Adressaten der Appelle, Staats- und Wirtschaftslenker nämlich, aber gewaltig zu Herzen nehmen!

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