Silke Schmidt
Rechner in der Radtasche
Walter sammelt Computer. Dabei hat der Hamburger ­keine Wohnung, geschweige einen Stromanschluss. Wozu braucht er die Rechner, und wie gebraucht er sie – auf der Straße?

Hamburg-Övelgönne ist eine feine Gegend, mit Blick auf die Elbe und den Hafen. Und hier oben im Park sitzt Walter sozusagen auf der Ehrentribüne, wenn gegenüber die großen Containerschiffe be- und entladen werden. Der 63-jährige Obdachlose hat seine Matratze auf eine Bank gelegt, eine olivfarbene Zeltplane bedeckt das Nachtlager und Walters Fahrradanhänger, in dem er seine Sachen verstaut hat: Dinge wie Küchen­rolle, Regenschirm, Klebeband, Tabak und Schlafsack. Außerdem besitzt Walter zwei Laptops, einen kleinen Fernseher, ­eine Digitalkamera, ein Smartphone und ein altes Handy. Und einen Benzingenerator, um seine elektronischen Geräte mit Strom zu versorgen.

Walter hat saubere Finger, sorgsam geschnittene Nägel, keine Alkoholfahne. Er trinkt schon lange nicht mehr. Haare und Bart sind struppig, aber nicht ungepflegt. Für ihn gehört es zur Menschenwürde, ­einen Computer und Internet zu haben. Er versteht nicht, warum ihn manche ­Spaziergänger – wenn er surft – anschauen, als sei er eine Attraktion.

Walter möchte geduzt werden, sein Nachname habe auf der Straße keine Bedeutung, sagt er. Durch seine Brille mit den neongelben Bügeln betrachtet  er den Containerterminal. Kreuzfahrtschiffe wie die „Queen Mary 2“ und die „AIDAluna“ fahren manchmal vorbei. „Ist nix Besonderes für mich, hab ich ja jeden Tag“, sagt er. Schiffe und Computer mit Internetzugang haben eines gemeinsam: Je neuer sie sind, desto schneller kommt man mit ihnen um die Welt. Walter sagt, er sei ein Einzelgänger. Seine Laptops sind schon ein paar Jahre alt. Er hat sie teils gebraucht erstanden, teils geschenkt bekommen. Er bastelt gern an ihnen herum, fügt neue Bauteile hinzu. Zurzeit schaltet sich Laptop Nummer eins regelmäßig aus. Walter glaubt, dass es irgendwas mit der Festplatte zu tun hat. Er wird sie ausbauen und das Problem lösen.

Sein Job brachte ihn nach Moskau und China, bis er ihn verlor

Wie genau man etwas repariert oder zusammenbaut, darüber informiert sich Walter auf speziellen Seiten im Internet; er surft viel herum. Wenn der Akku leer ist, wirft Walter seinen Benzingenerator an, gekauft auf dem Flohmarkt für 45 Euro. Es riecht dann immer wie an der Tanke. Hauptsache, die Geräte laufen einwandfrei.

Einmal war Walter mit dem Fahrrad in die Innenstadt gefahren, da fackelte ihm jemand den zurückgebliebenen Fahrradanhänger ab. Der Laptop verschmorte. Die Polizei fand nie heraus, wer das getan hat. Beklaut wurde Walter auch schon mehrfach. Mit seinem Besitz gilt er unter Wohnungslosen als wohlhabend. Walter hat sich damals einen neuen Fahrradanhänger besorgt und bald auch einen neuen Laptop.

Walter ist im Hamburger Raum aufgewachsen. Er lernte Bauschlosser und ar­beitete lange Zeit als Monteur von Klima- und Lüftungstechnik. Später installierte er Kälteanlagen. Seine Arbeit brachte ihn nach Moskau und China, bis er sie im Jahr 2000 verlor. Job weg, lange Arbeitslosigkeit, Alkohol, Frau weg, Wohnung weg. Seit viereinhalb Jahren lebt er auf der Straße. Er hat auch eine Tochter. Walter erwähnt nur, dass sie keinen Kontakt hätten.

Lieber redet er über Technik und führt sie vor. Laptop Nummer eins: ein Acer 7520 von 2008. Laptop zwei: ein IBM Thinkpad T42 von 2006. Dann die Digitalkamera: eine Medion Life P44024 von 2013. Das Smartphone: ein Huawei Ascend G510 von 2013. Das andere Handy ist nur ein altes Nokia-Modell – nicht erwähnenswert. Walters Geräte sind in Schuss, er streichelt über die Displays, wenn er sie vorstellt.

Mit den Computern ging es bei Walter schon 1983 los, als er seinen ersten CPM-Rechner bekam, einen ohne Festplatte. Alle Daten kamen von riesengroßen Disketten. Es folgten Computer mit dem Betriebssystem MS-DOS, in deren schwarzen Monitor man Befehle eingab wie „copy *.*“ und Dateien aufrief wie die „autoexec.bat“, die den Befehl „config.sys“ zum Hochladen brauchten. Er hatte einen 286er-Rechner, einen 386er, dann einen 486er. Auch beruflich hatte er mit Computern zu tun. Sie steuerten die großen Kühlanlagen. Walter weiß Bescheid.

Neulich hat er sich mit seinem Löt­kolben einen Stromregler gebastelt. Walter brauchte dafür eine Anleitung. Er gab die Frage in Google ein und forschte so lange nach, bis er die Seite fand, auf der alles erklärt war. Dabei hatte sich Walter für das Internet erst gar nicht begeistern können. „Dieses E-Mail-Ding, dieses Chatten und dieses Immer-in-Kontakt-Bleiben fand ich sofort nervig. Ich will gar nicht immer in Kontakt bleiben.“ Für Walter wurde das Netz erst spannend, als er die guten Techniktipps entdeckte, die er sich aus den Foren holen kann.

Wer die Technik versteht, der versteht die Welt

Der nächste Tag. Walter schaut auf seinem Smartphone nach: Wie warm wird es heute in Hamburg? Die Antwort: 14 Grad. Eine Viertelstunde später stellt er in Altona sein silbernes Damenrad ab. Er will etwas essen. In „La Cantina“ erhalten Bedürftige nachmittags für 40 Cent eine warme Speise. Heute gibt es Fleisch mit Rosenkohl und Kartoffelbrei, als Nachtisch zwei Kiwis. Der Kaffee kostet extra, zehn Cent pro Tasse. Walter kommt nicht jeden Tag. Oft wärmt er sich abends auch eine Konservendose auf dem Gaskocher.

Ein Mann vom Nebentisch beobachtet Walter, als er den Laptop auf seinen Tisch stellt und wie ein Schmuckkästchen aufklappt. „Jeder Obdachlose sollte so ein Ding bekommen“, sagt er. Walter nickt. Der Mann: „Aber das würden die Behörden nicht machen. Weil, dann könnten alle Obdachlosen ihre Lebensgeschichte aufschreiben. Da kämen bestimmt ein paar Bestseller heraus. Das meine ich ernst.“

Schreiben wäre für Walter eher ein Graus. Er bleibt lieber bei der Technik. Seit er die Digicam hat, brachte er sich mit Tipps aus dem Netz das Fotografieren bei. „Tiere und Pflanzen sind meine Motive. Pflanzen vor allem, wie sie wachsen, sich verändern, grün werden. Menschen zu ­fotografieren, finde ich nicht spannend.“ Obwohl er sich in Hamburg gut auskennt, will Walter bald die Navigation bei seinem Smartphone aktualisieren. Man weiß ja nie, wo man noch hinmuss. Wer die Technik versteht, der versteht die Welt.

Walter

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Das "Café May" auf St. Pauli bietet viel: Strom, WLAN und einen Sitzplatz nahe am Ausgang.

Draußen auf seiner Bank kann er ­meis­tens auf das passwortfreie WLAN des Nobelaltersheims Augustinum in der Nachbarschaft zugreifen. Oder er surft über einen UMTS-Stick. Da ist er überall schnell „drin“. Walter schaut sich gerne ­Dokus und die Nachrichten in der Mediathek an. Oder er lädt sich einen Blockbuster herunter für abends vor dem Schlafen­gehen.
Das „Café May“ auf St. Pauli ist wie für Walter gemacht, vor allem der Tisch gleich neben dem Eingang. Da hat man Strom in Steckweite, um den Akku aufzuladen, man kann das WLAN nutzen – und jederzeit wieder zur Tür hinaus verschwinden. Drinnen sitzen vor allem junge Leute, viele Studenten. Der Filterkaffee kostet 1,50 Euro. Walter ist hier fast jeden Abend ab 18 Uhr und daddelt herum. „Hier habe ich Ruhe, vor allem wenn es regnet. Heute schaue ich im Internet nach Schaltungen. Kann man immer gebrauchen.“ Mit anderen Café-Besuchern spricht er nicht.

Rund 390 Euro im Monat braucht Walter für seinen Sprit, seine Guthaben auf dem UMTS-Stick, die Handys, für Essen und Trinken. Früher ging er dafür Flaschen ­sammeln und reparierte anderer Leute Fahrräder. Seit einem Jahr bezieht er Hartz IV, worauf auch Obdachlose Anspruch ­haben. Einmal im Monat holt er seinen Scheck auf der Postbank. Da er kein Konto hat, muss er fünf Euro Gebühr bezahlen.

Abends geht er mit einem Kanister Benzin an der Tanke zapfen. Zurück bei seiner Bank befüllt er den Generator und startet ihn. Er will ein bisschen fernsehen und ­nebenbei surfen. Vermutlich fühlt er sich dabei ähnlich wie andere Menschen abends in ihrem Ohrensessel im Wohnzimmer. Über den Winter sucht er sich eine Not­unterkunft. Zwar gibt es dafür immer mehr Bewerber als Wohncontainer in Hamburg. Aber Walter schätzt Pünktlichkeit, bewirbt sich als einer der ersten und bekommt einen Platz. „Weißt du, ich habe ein ziemlich langweiliges Leben. Ich kann machen, was ich will, und darum mache ich meistens nichts.“ Heute Abend sieht er sich eine ­Doku über Vulkane an.

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