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Manfred Brockmann mit einer E-Mail aus Wladiwostok
01.04.2015

###autor###Ich lebe seit 22 Jahren in Wladiwostok – im tiefsten Russland also, am Japanischen Meer. Auch hier erreichte uns die Nachricht vom Mord an Boris Nemzow. Die erste Reaktion war oft: „Was geht uns das an?“ Die russische Hauptstadt ist sieben Zeitzonen entfernt, mit der Transsibirischen Eisenbahn fährt man eine Woche. Die Bindung ist lose – von beiden Seiten. Es ist bekannt, dass Politiker und Leute der Wirtschaft, Bildung oder Musik, die von Moskau hergeschickt werden, unsere Stadt bald wieder verlassen.

Moskau hat enorme Mittel hierhergepumpt, als Wladiwostok 2012 Gast­geber des Gipfeltreffens der Pazifikanrainer­staaten (APEC) war. Wir haben jetzt einen modernen Flughafen mit S-Bahn-Anschluss, und eine große Brücke führt über die Bucht  „Goldenes Horn“, die die Stadt teilt. Das ist gut. Aber die Universität im ehemaligen APEC-Tagungszentrum ist voller baulicher Mängel und zu weit draußen. Das nagelneue Ozeanarium geht ein. Ein geplantes Hotel endete als Bauruine. Das alles entfacht wieder Unzufriedenheit mit Moskau und befördert den Wunsch nach Dezentralisation. Die Menschen ­wissen sehr wohl, dass es hier von 1920 bis 1922 eine eigene „Fernöstliche Republik” gab. Und schöpfen daraus ein besonderes Selbstbewusstsein.

Aber das eigentliche Schlüsselwort für ihr Leben lautet: Erschöpfung. Viele Leute sind arm und dabei ständig der groben Reklame „Kaufen, kaufen!“ aus­gesetzt. Um den Mord im fernen Moskau wird hier schon auch spekuliert: „Das waren Putin und sein Apparat“, „Ukrainische Terroristen wollten Russland destabilisieren“, „Nemzow war für die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft und deshalb unbeliebt.“ Für morali­sche Entrüstung fehlen im harten Alltag aber Zeit und Energie. Doch es bleibt ein Gefühl der Unzufriedenheit mit der politischen Lage.

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