Massimo Berruti/VU/laif
"Eine ordentliche Stadt"
Taliban sind weltweit berüchtigt – als primitive islamistische Kämpfer. In der pakistanischen Hafenstadt Karatschi sind sie die Militanten aus den Stammesgebieten. Wie mächtig sind sie? Können sie die Regierung der Atommacht stürzen? Fragen an den Journalisten Zia Ur Rehman
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
13.05.2015

Gleich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stand Karatschi im Visier der Terrorfahnder. Einer der Hauptverantwortlichen für die Anschläge war zeitweilig in der Millionenstadt untergetaucht: Chalid Scheich Mohammed. Ein anderer Mitverschwörer, Ramzi Binalshibh, wurde hier nach einem Feuergefecht festgenommen. Zahlreiche Pakistanis sitzen im amerikani­schen Sicherheitsgefängnis Guantanamo auf Kuba ein, nur weil sie angeblich in Terrorherbergen in Karatschi unterge-kommen waren.

Pakistan

###drp|MOk02x2ARLbtMgAvatpOelgW00102314|i-40||Paschtschunische Stammesgebiete in Pakistan###

 

Dann war mehr als zehn Jahre über die Metropole wenig zu hören – bis im Juni 2014 Taliban ihren Flughafen stürmten. 28 Menschen starben, Flüge mussten umgelenkt werden, eine ganze Nacht war der Flughafen Kriegsschauplatz. Die Terrororganisation Al Kaida hatte den Angriff mitgeplant und gezeigt, wie gefährlich Taliban dieser Stadt werden können. Im vergangenen Dezember griffen Tali­ban eine Schule des Militärs in Peschawar an. Sie töteten 140 Kinder. Daraufhin verstärkte die Polizei im ganzen Land ihre Aktionen gegen Taliban – und ganz be­sonders die Polizei in Karatschi.

Karatschi zählt zu den größten Metropolen der Welt. Niemand weiß, wie viele Menschen heutzutage hier leben. Manche schätzen 15 Millionen, andere sagen, es könnten 23 Millionen Menschen sein. Pakistan ist eine Demokratie. Wenn man genau hinschaut und dabei westliche Maßstäbe anlegt, ist manchmal nicht leicht zu verstehen, warum dieses Land trotz aller Widrigkeiten noch einiger­maßen funktioniert.

chrismon: Bedroht Al Kaida den Atomstaat Pakistan?

Zia Ur Rehman

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Zia Ur Rehman ist Pakistani und berichtet schon seit Jahren über militante Gruppen in seiner Heimat – auch für interna­tionale Medien wie die „New York Times“. Für sein Buch „Karachi in Turmoil“ (Karatschi in Aufruhr, das Buch ist leider nicht ins Deutsche übersetzt) hat er die ­militante Talibanszene in seiner Heimatstadt unter die Lupe genommen.

Zia Ur Rehman: Al Kaida kann Anschläge organisieren. Das Terrornetzwerk kann aber nicht die Regierung stürzen – und schon gar nicht die Kontrolle über Pakis­tans Nuklearwaffen gewinnen. Denn diese Waffen sind militärisch gut gesichert. Al Kaida operiert auch gar nicht selbst in Pakistan, sondern nimmt Einfluss auf militante Gruppen wie den Tehrik-e-Taliban Pakistan, die TTP. Nach den Angriffen auf das World Trade Center wurden aber Al-Kaida-Aktivisten in Karatschi gefasst. Vor und nach dem 11. September 2001 ­haben einige bei den Paschtunen – und vor allem in den paschtunischen Stammes­gebieten – Zuflucht gesucht. Dort haben sie auch die pakistanischen Militanten ­militärisch und ideologisch ausgebildet. Aber die arabisch sprechenden Al-Kaida-Leute kämpfen hier nicht selbst.

Und der Angriff auf den Flughafen vor einem Jahr?

Die Taliban wollten den Aufmarsch für eine große Militäroperation in Nordwasiristan stören, in einem ihrer wichtigsten Rückzugsgebiete. Die Angreifer konnten mit Unterstützern und Sympathisanten auf dem Flughafengelände rechnen. Aber sie wussten auch, dass die Sicherheitskräfte sie nach wenigen Stunden stellen und töten würden.

Wollten sie nicht auch eine für die Stadt wichtige Einrichtung einnehmen?

Natürlich sind Flughäfen überall symbolträchtige und wichtige strategische Orte. Und, ja, die Taliban wollten auch internationale Flugverbindungen unterbrechen und so Pakistan vom Rest der Welt abschneiden. Sie konnten in Karatschi und sogar weltweit eine gewisse Panik auslösen. Vor allem aber wollten sie Druck auf die Regierung wegen ihres Angriffs auf Nordwasiristan ausüben.

Manche pakistanischen Politiker sagen: Taliban unter Einfluss von Al Kaida drohen, die Stadt zu übernehmen. Was steckt ­hinter dieser Warnung?

Das sagen Politiker der Muttahida-Qaumi-Bewegung, einer säkularen Partei. Sie sprechen für die etablierte Urdu-Minderheit, die 1947 aus Indien fliehen musste, und von denen sich viele in Karatschi ansiedelten. Ihre Warnung ist politisch mo­tiviert. Sie richtet sich gegen die ethnischen Rivalen, die Paschtunen, aus denen die Taliban stammen. Paschtunen sind überwiegend arm und kommen aus wirtschaftlichen Gründen nach Karatschi. Richtig ist an der Warnung dieser Politiker nur, dass die Taliban einen starken Einfluss unter den Paschtunen haben. Falsch ist aber der Eindruck, sie hätten die Mittel, Karatschi zu übernehmen. Das ist eine ordentliche Stadt, nicht zu ver­gleichen mit den gesetzlosen pasch­tunischen Stammesgebieten.

Arm gegen Reich

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Nach dem Anschlag auf das Büro einer Oberschichtspartei traut sich kaum noch jemand vor die Tür.

Fühlen Sie sich in Karatschi sicher?

Das mit der Sicherheit ist in Karatschi so eine Sache. Es bedrohen einen ja nicht nur die militanten Taliban. Es gibt kriminelle Banden, bewaffnete Ethno-Gangs und sektiererische Gruppen aller Art. Sie alle tragen zum Gefühl der Unsicherheit bei.

Konkurrierende Untergruppen der TTP haben sich in einigen Vierteln von Karatschi festgesetzt. Was sind das für Viertel?

Da leben arme Leute, überwiegend Paschtunen, die in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten nach Karatschi gezogen sind. Nachdem das pakistanische Militär gegen die Kämpfer der TTP im Swat, in Bajaur und Südwasiristan vorgegangen ist, wichen auch viele Militante nach ­Karatschi aus. Sie mischten sich unter zivile Kriegsflüchtlinge. In Pakistan haben wir seit 1998 keine Volkszählung mehr gehabt, aber man nimmt an, dass inzwischen etwa fünf Millionen Paschtunen in Karatschi leben. Da ist es für die Militanten leicht, in mehrheitlich paschtunischen Vierteln unterzutauchen. Dort organisierten sie sich und begannen mit ihren subversiven Aktionen.

Vor allem über Wasiristan kreisen viele US-Drohnen, von denen aus Terrorverdächtige erschossen werden.

Auch aus Furcht vor diesen Drohnen flohen viele Militante nach Karatschi. Der Gründer der TTP, Baitullah Mehsud, wurde 2009 auf die Weise getötet. Ebenso andere Anführer der TTP, von Al Kaida und dem Haqqani-Netzwerk, das für Terror­anschläge in Afghanistan verantwortlich ist. Auch die Al-Kaida-Leute sind wegen der Drohnen abgewandert – vor allem in den Jemen.

Die Paschtunen in den Stammesgebieten entlang der Grenze nach Afghanistan sind arm. Viele leben von dem Geld, das Verwandte aus den Golfstaaten schicken, die sich dort auf dem Bau oder als Hauspersonal verdingen. Ist Armut der einzige Grund dafür, dass die Leute nach Karatschi abwandern?

Armut ist der entscheidende Grund, Armut verbunden mit einer hohen Geburtenrate. Die Familien werden zu groß, sie finden in den Stammesgebieten keine Arbeit. Und Karatschi ist nun einmal Pakistans Hafen und die wichtigste Industrieregion des Landes. Fast alle Industriezweige, die nach 1947 aufgebaut wurden, haben sich in Karatschi angesiedelt.

Reich gegen Arm

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Paschtunische Geschäftsleute klagen an: Sie hätten nach einem politisch motivierten Überfall die Polizei gerufen. Doch statt zu helfen hätten, die Polizisten sie misshandelt.

Tragen auch Naturkatastrophen wie die Überflutung des Swat-Tales im Jahr 2010 zur Migration in die Großstadt bei?

Auf jeden Fall – und nicht nur die Flut­katastrophe. Ein Erdbeben mit der Stärke 7,6 auf der Richterskala traf den pakistanischen Teil Kaschmirs am 8. Oktober 2005. Es gab Beben im ganzen Land, aber ganz heftige in sechs nördlichen Bezirken der Grenzprovinz. Die pakistanische Regierung und Hilfsorganisationen wie die Internationale Organisation für Migra­tion (IOM) meldeten 73 000 Tote und etwa 69 000 Verletzte. In manchen Gegenden war die ganze Infrastruktur zerstört, alle Kommunikationswege fielen aus, 2,8 Millionen Menschen waren obdachlos. Damals habe ich darüber berichtet, und mir fiel auf, wie viele Paschtunen bei Verwandten in Karatschi Zuflucht suchten.

Junge bärtige Paschtunen reißen in ihren Volksgruppen die Macht an sich. Sie töten die Ältesten, die traditionell das Sagen hatten. Erleben die Paschtunen gerade eine islamische Revolution?

Es stimmt, dass die Ältesten getötet wurden und die traditionelle Sozialstruktur praktisch ausgelöscht ist. Aber eine islamische Revolution kann man das nicht nennen. Älteste zu töten zählt zu den Hauptstra­tegien der paschtunischen Taliban. Sie hatten damit anfangs in Afghanistan Erfolg, dann in den Stammesgebieten und kürzlich auch in Karatschi. Es war eine regelrechte Kampagne, bei der einflussreiche paschtunische Anführer ausgeschaltet wurden. Die säkulare Awami National-
partei, bisher die stärk­ste politische Macht unter den pakistanischen Paschtunen, musste die meisten ihrer politischen Hochburgen räumen, so dass nun alle mehrheitlich paschtunischen Viertel in Karatschi unter dem Einfluss der TTP stehen.

Massimo Berruti

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Massimo Berruti, 36, geboren in Rom, fotografiert schon seit Jahren Aufruhr und Gewalt in Pakistan - und wurde dafür vielfach ausgezeichnet.

Kämpfen die Taliban für den Islam?

Nein. Sie beschaffen sich Geld in Karatschi für ihre Rebellion gegen die Regionalregierung in den Stammesgebieten. Der TTP waren die Einnahmen ausgegangen, weil die pakistanische Regierung Überweisungen aus dem Ausland, vor allem aus den Golfstaaten, unterbunden hat. Die TTP-Führung hat ihre Untergruppen angewiesen, durch Schutzgelderpressung und Entführungen Geld von Geschäftsleuten und Transportunternehmern aus den Stammesgebieten einzutreiben. Von dem Geld kaufen sie Waffen und finanzieren die Aufstände in den Stammesgebieten.

Aber die Taliban sagen, dass sie den wahren Islam vertreten!

Ja. Aber darüber hinaus haben zahlreiche religiöse Autoritäten verkündet, dass die Bewegung der Taliban nichts mit dem Islam zu tun habe. Ebenso wenig ihre Taten: Unschuldige zu töten, Kinder und Frauen, auch Nichtmuslime. Menschen schließen sich diesen Gruppen wegen der Arbeitslosigkeit und der Armut an. Viele bekommen gar keinen Anschluss an die pakistanische Mehrheitsgesellschaft, weil sie abgeschieden leben. Die pakistanische Bundesregierung soll diese Gebiete ver-walten, setzt diese Menschen aber der Willkür der Maliks aus, der Stammesführer. Und da, wo der Staat ein Machtvakuum hinterlässt, übernehmen bewaffnete Gruppen die Kontrolle.

Die Polizei in Karatschi beansprucht, die Kriminalität in den vergangenen beiden Jahren erfolgreich bekämpft zu haben. Zu Recht?

Leute, die über das TTP-Netzwerk in ­Karatschi gut informiert sind, bestätigen, dass bei Polizeiaktionen tatsächlich wichtige Führungspersonen getötet wurden. Vor allem nach dem Überfall auf eine Schule des Militärs in Peschawar im ­Dezember, bei dem über 140 Kinder getötet wurden, hat die Polizei ihre Ermittlungen in Karatschi massiv verstärkt. Ansonsten bekämpfen sie nur Straßen­kriminalität.

Kritiker sagen, die Polizei töte Verdächtige willkürlich, ohne Rechtsgrundlage.

Ein ernstzunehmender Vorwurf. Menschenrechtsaktivisten sagen, allein 2014 habe die Polizei von Karatschi 450 Menschen in Schießereien getötet. Mitte Dezember habe ich nach der Tötung eines paschtunischen Fernfahrers recherchiert. Damals hatte die Polizei von Karatschi 13 Verdächtige getötet – in Schieße­reien, wie es offiziell hieß. Die Paschtunen, mit denen ich sprach, sagten mir, sie würden aufgrund ihrer Stammeszugehörigkeit ver­folgt und willkürlich getötet. Und dass die Polizei Schießereien inszeniere, indem sie Verdächtige in einschlägige Stadtvier­tel bringe und dann losschieße. Dabei kämen auch Unbeteiligte ums Leben. Inzwischen würden Geschäftsleute sogar früheren Schutzgeld­erpressern Unterschlupf geben, weil die Polizeiwillkür so zugenommen habe.

Die meisten pakistanischen Menschenrechtsaktivisten, von denen in Deutschland berichtet wird, stammen aus anderen Städten. Ist Karatschi eine konservative Stadt?

Ja, genau.

Immerhin stammt der Blogger Jibran ­Nasir aus Karatschi, der die Liberalen auffordert, die Moscheen wieder für sich zu beanspruchen – und den Scharf­machern entgegenzutreten.

Seine Kampagne ist nur in Pakistans Oberschicht bekannt, und diese Schicht ist von der Militanz, von der wir hier reden, nicht direkt betroffen. Sie lebt in vornehmen und bewachten Vierteln. Die überwiegend armen Leute, die der Gewalt der Taliban ausgesetzt sind, bekommen von solchen Initiativen in den sozialen Netzwerken kaum etwas mit.

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