Antonia in Tel Aviv, Ausschnitt aus ARD-Film "Antonias Reise"
Antonia in Tel Aviv
Rita Knobel-Ulrich
Ein Jahr in einem komplizierten Land
Jugendliche aus Deutschland treffen in Israel auf Überlebende der Shoah. Die Journalistin Rita Knobel-Ulrich hat einen Fernsehfilm über sie gedreht
07.01.2015

Antonia spielt „Stadt, Land, Fluss“ mit uralten Damen: zerfurchte Gesichter, schlohweiße Haare, lebendige Augen. Buchstabe S: „Stolpe“ – „Solingen“ – „Saarbrücken“. Draußen herrscht brütende Hitze. Palmen rascheln im Wind. Im Speisesaal des Elternheims hängt das Menü des Tages auf Hebräisch und Deutsch aus.

Antonias Mitspielerinnen und Mit­spieler in Ramat Gan, einem Vorort von Tel Aviv, hießen früher Grete und Lotte, Heinrich und Hermann. Seit sie vor über siebzig Jahren aus Nazideutschland flüchteten, tragen sie hebräische Namen. Nichts, auch nicht ihr Name, sollte an das erinnern, was sie durchgemacht haben. Trotzdem sprechen sie noch fließend Deutsch.

Antonia ist 18 Jahre alt, eine Freiwillige der Aktion Sühnezeichen. Ihre Mitschüler fuhren nach dem Abitur auf Abenteuerurlaub nach Australien und Neuseeland. Sie entschloss sich zu einem Jahr Israel. In ihrem Leistungsfach Geschichte war natür­lich auch die Shoah Unterrichts­thema gewesen. „Jetzt habe ich manchmal das Gefühl, durch ein Geschichtsbuch zu wandern“, sagt sie. „Es gibt kaum ein schöneres Gefühl, als gebraucht zu werden. Das erfüllt mich sehr.“ Sie strahlt.

„Wir sind dankbar, dass junge Leute ein Jahr ihres Lebens geben, um uns ein schöneres Leben zu bereiten, uns die Kindheit wieder nahezubringen“, sagt Lotte Scharf, die heute Tamar heißt. „Wir fühlen uns jung. Auf einmal machen wir wieder das, was eigentlich junge Leute machen.“

Am Nachmittag besucht Antonia Israel Tsafuir. Er ist 103 Jahre alt und hat noch bei Sigmund Freud Psychologie studiert. „Bist du gern zur Schule gegangen?“, fragt Antonia. Israel nickt und erzählt von ­seiner Kindheit als Bub in Wien. „Ich hatte eine Lehrerin“, sagt er verschmitzt, „Fräulein Schneider. Und ich wusste nicht, steht sie nun über oder unter Gott. Ich habe mich entschieden: Sie steht neben Gott.“

Mitschüler wünschen Antonia einen "Bombenspaß"

40 Buben seien sie gewesen, alle katholisch, er der einzige Jude. Eines Tages kam ein neuer Religionslehrer, ein katholischer Priester. Er hat von Jesus erzählt. Geburt, Jugend – alles sei schnell gegangen, erst die Kreuzigung habe er in allen Einzelheiten ausgeschmückt. Die Juden seien schuld gewesen am Tod des Erlösers. 39 Augenpaare hätten sich damals auf ihn in der letzten Reihe gerichtet. „Bei uns ist auch ein Jude in der Klasse“, rief einer. Nach der Schule prügelten sie den kleinen Juden windelweich.

Antonia verlässt Israel Tsafuirs Zimmer und holt tief Luft. Sie hat schlaue Artikel und Analysen gelesen im Leistungskurs Geschichte. Aber das hier ist etwas anderes. „Es sind ja Geschichten, die man nicht irgendwo liest, sondern die Menschen erlebt haben, die ich jetzt kenne und schätze.“

Mit Agnes Gramse betrachtet Antonia ein Fotoalbum. Eine große Familie ist zu sehen, ein frommer Jude mit seinen Kindern, Agnes Gramses Vater. „Sie wurden alle vergast“, sagt die Dame. „Niemand ist mehr geblieben.“ Antonia greift nach der Hand der alten Frau, drückt sie fest, verharrt still und schluchzt. Nach ihrem Dienst geht Antonia manchmal ins quirlige, lebendige junge Tel Aviv und setzt sich ins Straßencafé. Sie muss verarbeiten, was sie Tag für Tag hört.

In diesen Tagen fliegen Raketen. Mehrmals am Tag er­tönen die Sirenen. Antonia und die anderen jungen Freiwilligen flüchten ins Treppenhaus. Einige Klassenkameraden hatten Antonia einen „Bombenspaß“ gewünscht, als sie in Deutschland erzählte, sie wolle nach dem Abitur nach Israel.

„Hier ist alles wertvoller“, sagt Antonias Freundin Leonie, „weil das Leben oft bedroht ist. Ich habe gelernt, den ­Moment bewusster wahrzunehmen. Alles ist wertvoller, Freundschaften, Beziehungen, alles.“ Nach jedem Alarm melden die Jugendlichen der örtlichen Leitung von Aktion Sühnezeichen, ob alles in Ordnung ist. Krieg kannten Marieke, Nils und Leo­nie aus Antonias Wohngemeinschaft bisher nur aus der Zeitung. Nun kommt er ihnen sehr nahe. Und auf einmal ist es ziemlich unwichtig, welcher Freiwillige welches Fach im Kühlschrank bekommt, wer Putz- und wer Küchendienst hat.

„Antonias Reise“, 25. Januar, 17.30 Uhr, ARD.
Einfache Lösungen für die politischen Verwerfungen gibt es in diesem komplizier­ten Land nicht. Bevor er nach Israel kam, hatte Nils in der Schule wunderbare Rezepte diskutiert, wie der Nahostkonflikt zu lösen sei. Den Glauben an einfache Lösungen hat er verloren. „Je länger ich in Israel bin, desto komplizierter werden die Dinge“, sagt er.

Nils hilft dem Künstler Jehuda Bacon, einem alten Mann, Post zu beantworten. Er besucht ihn in seiner Wohnung in der Jordei-Hasira-Straße in Jerusalem, geht für ihn einkaufen und hört seinen Erzählungen zu. Jehuda Bacon verarbeitet in seinen Bildern Kindheitserinnerungen an Auschwitz: Ein kleiner Junge in der Gewalt des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengele. Er sah seine Familie ins Gas gehen, konnte jahrelang nicht weinen und fand nur mühsam ins Leben zurück. „Ich wollte ver­stehen, woher das Böse kommt, was es aus einem Menschen macht, wenn er Gewalt über andere hat und keine Verantwortung“, sagt Bacon. Die Frage nach dem Bösen wurde zum Leitmotiv seines Lebens.

"Es ist ein Geschenk, wie sie mich als Deutsche empfängt"

Marieke  kommt aus Bergen, unweit des früheren Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Sie wollte nach der Schule unbedingt nach Israel. Die 19-Jährige ist froh, in einer WG zu leben, auch wenn das Zusammenleben nicht immer konfliktfrei verläuft. Es tue gut, abends über die Begegnungen des Tages miteinander sprechen zu können.

Marieke ist auf dem Weg zu Marianne Karmon. Die 93-Jährige lebt allein in einer großen Dreizimmerwohnung in der Jabotinski-Straße mitten in Jerusalem. Mariannes Familie entkam der Shoah, sie konnte rechtzeitig emigrieren. Auch Marianne spricht noch fließend Deutsch. „Marieke ist meine Adoptivenkelin. Sie gehört jetzt zu meinem Leben und wird auch darin bleiben“, sagt sie. – „Es ist ein Geschenk für mich, dass ich ihr begegnen darf und dass sie mich als Deutsche mit offenen Armen empfängt“, sagt Marieke. Marianne Karmon lacht ein bisschen. „Ich denke gar nicht daran, ob du eine Deutsche bist. Du bist Marieke, und ich habe mich jede Woche auf Montag gefreut. Wenn du wegfährst, ist da ein großes Loch.“

Leonie kümmert sich um zwei uralte Schwestern im Siegried-Moses-Elternheim in Jerusalem. Fanny Ludinger und Hedi Steinberg. Fanny ist 92 Jahre alt, Hedi 90. Als junge Frauen flohen sie aus Halberstadt im heutigen Sachsen-Anhalt, mussten sich in Israels Wüste ein neues Leben aufbauen. „Es war noch nie anders“, erzählen die beiden, als Leonie vom Raketen­angriff berichtet. Als Fanny und Hedi so alt waren wie Leonie heute, kämpften sie in der Untergrundarmee, der Haganah, gegen die Engländer und für die Unabhängigkeit Israels. Sie trans­portierten Waffen, arbeiteten als Kundschafterinnen und Spione.

„Grüßen Sie mir die Bleibtreustraße und den Südwestkorso“, sagt eine alte Berlinerin, als sich Antonia nach ihrem einjährigen Dienst im Elternheim verabschiedet. Ihre Mitbewohnerin Lotte Scherf meint: „Wenn sie heimkehrt, wird sie von uns erzählen, davon, dass wir hier ganz normale Menschen sind, die in Frieden mit ihren Kindern und Enkeln leben wollen.“

Als sich Antonia von Israel Tsafuir verabschiedet, fängt sie bitterlich an zu weinen. „Lehitraot, auf Wiedersehen“, sagt sie. Wahrscheinlich wird es ein Abschied für immer sein.

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