Barbara Kittelberger und Julia Koschitz im Interview
Julia Koschitz (links) und Barbara Kittelberger im Münchner Theater im Fraunhofer
Sebastian Arlt
Gänsehaut und viel Licht
Die Stadtdekanin und die Schauspielerin über ihr Jahr 2015, über Charlie Hebdo und Flüchtlinge. Und die Weihnachtsgeschichte
Tim Wegner
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
22.11.2015

chrismon: Wie war Ihr Jahr?

Julia Koschitz: Ich habe viel gearbeitet. Und merke jetzt erst, wie weit ich in diesem Jahr vom echten Leben entfernt war. Ich war sieben Monate fast durchgehend weg, vier Filme nacheinander.

Was haben Sie gespielt?

Koschitz: Ich war eine Investmentbankerin, die in eine Intrige verstrickt wird, ich war die Ehefrau eines lebenslänglich verurteilten Mannes, die trotzdem an seine Unschuld glaubt, ich war eine Sterbebegleiterin – da hätte ich gerne vorher mit Ihnen, Frau Kittelberger, gesprochen. Der vierte Film war eine Liebesgeschichte...

Barbara Kittelberger: Ah, Erholung!

Koschitz: Na ja. Die Verfilmung von Siegfried Lenz’ „Schweigeminute“.

Kittelberger: Mein Jahr war ganz anders. Privat war es sehr befriedigend, weil mein Mann und ich beide 60 geworden sind. Wir sind 40 Jahre verheiratet! Dass wir zusammen alt werden können, macht mich glücklich und zufrieden. Wir haben dieses Jahr angefangen, alte Freunde zu besuchen, in Island, in Kanada – Leute, die wir in New York kennengelernt haben. Wir waren 27, als wir damals für drei Jahre in die USA zur Seelsorgeausbildung gegangen sind, wir waren unbekümmert und ungestüm. Das noch einmal anzuschauen, die Zeit, die wir dort verbracht haben, was sie aus uns gemacht hat – das war das eine. Und dann waren da die Menschen, zu denen wir immer noch Kontakt haben.

Erinnern Sie sich, wie das Jahr anfing? In Paris geschah der Anschlag auf Charlie Hebdo . . .

Kittelberger: Ich dachte sofort an unsere Partnerkirche in Paris. Das sind lutherische Christen, und ich weiß, dass das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen nicht immer einfach ist in diesen Gemeinden. Ich habe gleich eine Mail als Zeichen der Solidarität geschickt.

Koschitz: Ich habe sofort meine Mutter angerufen, die in Frankreich lebt. Ich war fassungslos. Diese Systematik hinter dem Anschlag hat mich erschreckt! Tröstlich fand ich, wie bei vielen Krisen in diesem Jahr, dass international sofort so viel Mitgefühl zu spüren war.

Kittelberger: Ich weiß noch, wie am Sonntag danach alle EU-Regierungschefs nach Paris gefahren und Hand in Hand durch die Straßen gelaufen sind – für mich der Versuch, dem Unfassbaren wieder einen Rahmen, eine Fassung zu geben. Andererseits geht mir das manchmal viel zu schnell. Vielleicht übergeht unsere Gesellschaft mit ihrem Aktionismus auch die Phase, in der es erst mal nichts gibt als Entsetzen.

Koschitz: Da sollte eine Säule der Demokratie zerschlagen ­werden, die Meinungsfreiheit! Die Kollegen der Opfer haben sich aber nicht einschüchtern lassen, sich über die Gefahr für das eigene Leben hinweggesetzt und getan, wovon sie überzeugt waren. Da kriege ich immer noch Gänsehaut.

"Wir brauchen Orte zum Reden - über Krankheit und Tod"

Und ganz kurz darauf, im März, brachte ein Pilot ein Flugzeug mit 144 Passagieren zum Absturz.

Koschitz: Was ich mich oft gefragt habe: Hätte man dieses Unglück verhindern können? Hätte man ihn an irgendeinem Punkt abholen können? Auch wenn es sicher kein garantiertes Heil­mittel ist, halte ich es für wichtig, im Gespräch zu bleiben.

Sie haben ja schon öfter in Filmen mitgespielt, in denen es um Suizid geht. Guckt man danach genauer hin?

Koschitz: Wenn ich mich auf eine Rolle vorbereite, setze ich mich mit den Sehnsüchten und Ängsten einer Figur auseinander und den Motiven für ihr Handeln. Was treibt einen Menschen in diese Ausweglosigkeit? Wie alleingelassen oder unverstanden fühlt er sich? Bestimmt schaut man da nachher genauer hin – manchmal ändere ich sogar meine ursprüngliche Haltung.

Zum Beispiel?

Koschitz: In dem Film „Hin und weg“ habe ich meinen Lebensgefährten nach Belgien begleitet, weil er Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollte. Ein Thema, das mich immer schon beschäftigt hat. Sollte man diese Entscheidung nicht für sich treffen dürfen? Ich bin nicht getauft, aber christlich geprägt und erzogen. Nach dem Dreh las ich einen Artikel darüber, dass alte und gebrechliche Menschen sich entwertet oder als Last fühlen könnten, wenn Sterbe­hilfe legalisiert wird. Ich habe dadurch meine Haltung nicht komplett geändert, aber dieser Text hat mich beeinflusst.

Kittelberger: Dass Menschen sich überflüssig fühlen könnten...

Koschitz: ...ja, und zum Sterben gedrängt werden könnten.

Kittelberger: Darum brauchen wir Orte, wo wir offen über solche Themen reden können. Über Krankheit und Tod und alles, was nicht so glatt ist im Leben. Vielleicht hätte dann auch der Pilot von Germanwings reden können.

Koschitz: Ja. In unserer Gesellschaft bekommt jemand, der sich ein Bein gebrochen hat, mehr Mitgefühl als jemand mit einer Depression.

Wir mussten bei „Hin und weg“ weinen, als der Mann starb. Sie auch?

Koschitz: Es ist selten, dass eine Szene einen automatisch emo­tional mitnimmt. Aber in diesem Fall musste ich mich nur auf den Moment einlassen – und weinen.

Und dann ist Pause, man isst eine Pizza, geht zurück in die Szene, und die Tränen kommen wieder?

Koschitz: Nein. Für mich hat das Spielen viel mit Konzentration zu tun. Essen fällt bei solchen Szenen für mich aus. Ich unterhalte mich auch nicht viel, ich werde dann relativ autistisch.

"Weihnachtspost? Das liebe ich"

Und dann weint man, und es verläuft die Wimperntusche?

Koschitz: Ja, die verläuft. Wie in echt auch. Als Schauspieler braucht man ein gutes Vorstellungsvermögen und kann es auch trainieren. Ich weiß nicht, wie es eines Tages sein wird, wenn meine Eltern sterben, aber eine Vorstellung habe ich davon. Und das hat eine Wucht!

Frau Kittelberger, Sie waren auch mal Krankenhausseelsorgerin. Da weint man nicht, oder?

Kittelberger: Wenn ich eine Mutter von zwei Kindern vor mir habe und ich weiß, dass sie das nicht überleben wird, kann mir das auch passieren. Aber ich kann dieser Frau nur eine Hilfe sein ...

Koschitz: ...wenn Sie Distanz behalten.

Kittelberger: Ja. Das war meine Aufgabe als Krankenhausseelsorgerin in dieser Situation. Ich sitze, bildlich gesprochen, nicht neben ihr, sondern bin ihr Gegenüber. Aber wenn ich da wieder rausgehe aus dem Krankenzimmer, habe ich schon ein Packerl auf meiner Schulter. Dann muss ich schauen, dass ich mich wieder neutralisiere, bevor ich ins nächste Gespräch gehe. Mir hilft dann beispielsweise, wenn ich zwei, drei Sätze mit dem Pflegepersonal wechsle. Oder ich laufe eine Runde oder setze mich in die Kapelle. Ich muss innerlich zur Ruhe kommen und feststellen, was ich da mitgebracht habe.

Koschitz: Auf der Bestsellerliste steht gerade ein Buch, in dem es darum geht, was Menschen beschäftigt, die im Sterben liegen. Es heißt, sie bereuten oft, nicht alles ausgeschöpft zu haben. Mir fällt das schwer zu glauben. Wie sehen Sie das?

Kittelberger: Menschen blicken kaum auf das, was sie nicht getan haben. Sondern sie fragen sich: Wie kann ich das Leben jetzt leben? Es geht ja weiter, ich bin ja immer noch am Leben. Es wird ja nicht plötzlich angehalten, und dann ist man tot. Leben, was jetzt an Leben möglich ist – das ist das Thema.  

Oft klagen Menschen, sie hätten sich mehr um ihre Freunde kümmern sollen. Schreiben Sie Weihnachtspost?

Koschitz: Ganz schlecht. Obwohl mir meine Freunde sehr wichtig sind! Ich telefoniere viel mit ihnen. Und Gott sei Dank habe ich tolle Menschen um mich herum, die geduldig akzeptieren, dass ich so selten da bin. Ich kann auch nach Monaten anrufen und sagen: „Können wir uns heute Nachmittag sehen?“

Kittelberger: Ich liebe es, Weihnachtspost zu schreiben. Das ist ein Ritual! Dienstlich schreibe ich etwa 1000 Karten, alle handschriftlich unterschrieben. Gestempelte Unterschriften finde ich grauenhaft.

Wann fangen Sie damit an?

Kittelberger: Ende November. In der Familie schreiben wir uns ausführliche Weihnachtsbriefe. Im Weihnachtsbrief erzählt man sich, wie es geht. Mein Bruder ist in Norddeutschland, meine Schwester in der Nähe von Frankfurt, da dauert es, bis man sich mal sieht. Das finde ich total wichtig, und ich liebe es, Weihnachtspost zu kriegen. Es ist schon schön, die Karten zu kaufen, die dürfen auch kitschig sein, mit Schnee und Lichtern.

"Beeindruckend, wie viele sich in Deutschland für Flüchtlinge einsetzen"

Was für welche?

Kittelberger: Unicef. Da bin ich sozusagen fundamentalistisch.

Hat sich unter Ihren Freunden nach dem Finanzdebakel in ­Ihrem Dekanat die Spreu vom Weizen getrennt?

Kittelberger: Ich war in der glücklichen Lage, dass ganz viele Menschen um mich herum waren, die mich sehr getragen haben, auch in der Arbeit.

Wie war dann voriges Weihnachten für Sie?

Kittelberger: Auch nachdem das Verfahren beendet ist, stellt man sich natürlich immer wieder die Frage, ob und wann man Dinge hätte verhindern können – und vor allem künftig verhindern kann. Zugleich wird einem gerade an Weihnachten die Zerbrechlichkeit des Lebens bewusst. Wenn es um ganz existenzielle ­Fragen geht, wird die Bipolarität des Daseins deutlich.

Was machen Sie dieses Jahr an Weihnachten, Frau Koschitz?

Koschitz: Meine Mutter lebt in Frankreich, mein Bruder in New York, an Weihnachten kommen wir zusammen und essen und erzählen.

Kittelberger: Ich bin am Heiligen Abend oft auf die Intensiv­station gegangen, der Gegensatz hat mich immer sehr bewegt – draußen der Lichterglanz und drinnen die Verletzlichkeit des Lebens, das hat viel mit dem Jesus zu tun, der in seiner Krippe ankommt und eigentlich nichts zu bieten hat. Ich bin eine Grenz­gängerin an diesen Punkten des Lebens. Beides gehört zu­sammen. Leben und Sterben. Natürlich ist das traurig, aber ich fühle mich lebendig, wenn ich beides aushalten kann.

Koschitz: Ich finde es mutig, sich diesen Situationen auszusetzen.

Kittelberger: Das habe ich niemals so empfunden. Vielleicht hat mir da der liebe Gott auch die nötige Unbefangenheit gegeben. Außerdem weiß ich: Da kommt eine Energie, eine Lebendigkeit zurück, die so unendlich wertvoll ist. Ich frage nicht: „Was könnte in diesem Zimmer alles passieren?“ Sondern gehe mit Neugierde und Gottvertrauen hinein und will wissen, wen ich da treffe.

Jetzt können wir gerade ganz viel Neugierde gebrauchen. Wie erlebten Sie den Ansturm der Flüchtlinge?

Koschitz: Ich habe zu dem Zeitpunkt auf Bornholm gedreht und hatte nur dänisches Fernsehen und schlechtes WLAN. Mein Blick aufs Geschehen war also eingeschränkt und aus der Distanz. Ich habe mich in dem Moment gefreut, in Deutschland zu leben. Beeindruckend, wie viele sich für Flüchtlinge eingesetzt haben! ­Als ich zurückgekommen bin, hatten sich manche meiner Freunde verändert, sich beruflich umorientiert, um Flüchtlingen zu helfen. Natürlich stellen sich viele Fragen. Wie viel Kapazität haben wir in diesem Land? Und wie können wir sie ausdehnen? Aber ich finde es auch wichtig, die Menschen anzuhören, die sich bedroht fühlen. Und ihnen mit besserer Information vielleicht Angst zu nehmen. Abgesehen davon: Man kann nur hoffen, dass Europa zusammenhält und eine gute Lösung findet.

"Und so viele junge Leute – man sagt zu Unrecht, unsere Jugend sei unpolitisch"

Frau Kittelberger, ist die Stadt eher wärmer geworden oder ­reagiert sie doch kälter auf diesen Flüchtlingsansturm?

Kittelberger: Ich war in München viel am Bahnhof, und ich war überwältigt von der Wärme der Menschen, die da standen, Polizisten, Ehrenamtliche, auch Politiker. Ich mache sonst nicht viel mit dem Smartphone, aber wir haben immer weitergegeben, was wir brauchen, an Windeln, Getränken, und dann sind die Leute zum Supermarkt gefahren. Unsere Bürgergesellschaft hat funktioniert! Ganz viele junge Leute waren dort, man sagt zu Unrecht, dass unsere Jugend unpolitisch sei. In den Kirchengemeinden haben sich noch viel mehr Flüchtlingshelferkreise gebildet, nicht nur bei den Evangelischen, sondern überhaupt, man hat ganz ökumenisch gesagt: Alle, die was tun wollen, koordinieren sich.

Und – schaffen wir das?

Kittelberger: Wir können es schaffen. Wir sind so reich in unserem Land.

Wie sagen Sie das denen, die trotzdem Zweifel haben?

Kittelberger: Es fällt uns nicht so leicht, unbefangen vom Reichtum abzugeben. Es lohnt sich, zu teilen. Manchmal braucht es dazu die Geschichte eines Einzelnen. Ich darf ja an Heiligabend Gottesdienst halten und freue mich, da zu predigen.

Koschitz: Wo tun Sie das denn?

Kittelberger: In der Markuskirche. Die Weihnachtsbotschaft ­ist doch, dass gleich neben dem Reichtum in dem Palast des Herodes ein kleines Kind zur Welt kommt. Die Eltern waren wegen einer Volkszählung unterwegs und wussten auch nicht, wo sie unterkommen sollten. Nachher mussten sie fliehen, weil Herodes das Jesuskind töten wollte. Sie sind um ihr Leben geflohen. Wir dürfen die Parallelen nicht überstrapazieren – aber wenn es um Leben oder Tod geht, wenn man seine eigenen Kinder schützen will, dann bleibt nur die Flucht ins Unbekannte. Wir müssen die Menschen dazu bringen, sich auf etwas Fremdes, etwas Unbekanntes, auf die verletzliche Seite einzulassen.

Haben Sie eine Botschaft zu Weihnachten?

Kittelberger: Jesaja 9. Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.

Koschitz: Diese Botschaft kann man nicht toppen.

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