Barbara Abdallah-Steinkopff
Barbara Abdallah-Steinkopff
Magdalena Jooss
Freizeit heißt auf Arabisch „Leere Zeit“
Was bedeutet: Essen kochen? Warum hilft einem Traumatisierten eher ein Job als eine Therapie?
Wieso spielen arabische Mütter nicht mit ihren Kindern? Erfahrungen aus dem Alltag mit Flüchtlingen
22.09.2015

chrismon: Menschen, die Züge stürmen, unbegleitete Kinder auf überladenen Schiffen, Umherirrende am Rand der Autobahnen – trotz vieler Gefahren drängen Hunderttausende nach Europa. Viele wollen nach Deutschland. Wie viele Fremde verträgt unsere Republik?

Abdallah-Steinkopff: Im Vergleich zu Ländern wie Jordanien, Pakistan und Libanon haben wir prozentual zur eigenen Bevölkerungszahl viel, viel weniger Flüchtlinge. Selbst wenn wie prognostiziert 800 000 in diesem Jahr nach Deutschland kommen, so ist das ein Prozent der Deutschen – und längst nicht alle werden Asyl erhalten. In Jordanien kommt ein Flüchtling auf sieben Einheimische. Von den Zahlen her ist das also immer noch eine Herausforderung, die wir meis­tern können.

Trotzdem kommt es an Orten, wo Flüchtlinge einquartiert werden, immer wieder zu Ausschreitungen, auch gewalttätigen.

Häufig wird mit den Einheimischen vor Ort nicht gut umge­gangen. Man kann die Fremden nicht einfach bei ihnen abladen, man muss sie integrieren. Dafür brauchen wir zuallererst Dol­metscher und Deutschkurse. Und man muss Begegnungen organisieren, um sich gegenseitig kennenzulernen. Häufig sind die Flüchtlinge jedoch in großer Zahl und auf engem Raum unter­gebracht. Das sind Brutstätten für Konflikte.

Ist es nicht ein zusätzliches Problem, dass viele der Angekomme­nen schlimme Erfahrungen mitbringen?

Nach dem Krieg war die Zahl der Traumatisierten in Deutschland sicherlich höher. Es gibt eine Studie, die 60- bis 90-jährige Deutsche mit derselben Altersgruppe aus England und Frankreich vergleicht: Bei uns ist der Anteil der posttraumatischen Belastungsstörungen erheblich größer. Das zeigt, dass Menschen trotz einer anhaltenden psychischen Belastung eine neue Existenz aufbauen konnten.

Gute Lebensbedingungen sind das Wichtigste

Was hat ihnen dabei geholfen?

Sie hatten eine gute Zukunftsperspektive – durch das Ende der Diktatur, den Marshallplan. Die Kriegsgeneration hat das Wirtschaftswunder geschaffen und Kinder großgezogen. Jetzt erst, ­ im Alter, kommen die alten Traumata wieder zum Vorschein, weil die Zukunftsorientierung fehlt. Das kennt man auch von Holocaust-Überlebenden in Israel.

Wie viele der Menschen, die hierher flüchten, brauchen therapeutische Hilfe?

Unter den Asylbewerbern sind es offiziell 40 Prozent. Der tatsächliche Anteil ist vermutlich noch höher. Aber eine posttraumatische Belastungsstörung ist nicht ununterbrochen präsent. Es gibt immer wieder Phasen der Symptomfreiheit. Außerdem sind die Traumata von außen zugefügt worden, man hat also auch die Chance, sie von außen zu heilen. Gute Lebensbedingungen sind deshalb wichtiger als jede Therapie. Wenn die Betroffenen zur Arbeit oder in die Schule gehen können, dann geht es ihnen sofort besser.

Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben bereits in Deutschland. Unterscheidet sie etwas von den Flüchtlingen, die jetzt kommen?

Migranten konnten selbst die Entscheidung treffen, ihr Land zu verlassen. Flüchtlinge mussten gehen – der Bruch in ihrer Bio­grafie ist ein anderer. Viele von ihnen sind besser gebildet und ­waren wohlhabend, sonst hätten sie sich die Flucht gar nicht ­leisten können. Im Ankunftsland haben sie dann alles verloren, sozialen Status, Freunde, Kultur. Ein Kameramann aus Teheran sagte mir: „Ich habe meine Identität an der Grenze hängen gelassen.“

Was bedeutet so ein Identitätsverlust?

Flüchtlinge sind Fremde im neuen Land, darauf haben sie sich eingestellt. Viel drastischer aber ist, dass sie nun nirgendwo mehr zu Hause sind. Ich kenne Iraker, die zum Wählen wieder nach Bagdad gefahren sind, in der schiitischen Einheitskleidung, verhüllt. Trotzdem sagte man ihnen: „An euren Gesichtern sieht man, dass ihr keinen Krieg erlebt habt!“ Afghanen bekommen zu hören, dass sie „so deutsch“ geworden sind, weil sie mehr gestikulieren, seit sie im Ausland sind. Und die Kosovaren nennen den August den „Monat der Dummen“, weil da die Exilanten zu Besuch kommen, die keine Ahnung mehr haben, was dort vorgeht.

Flüchtlinge sind in der Ausbildung besonders motiviert

Die Hälfte der weltweiten Flüchtlinge sind Kinder. Tun sie sich leichter mit dem Neuanfang?

Kinder im Grundschulalter fühlen sich oft schuldig. Sie denken:  „Weil ich mit meiner Mutter gestritten habe, ist sie vergewal­tigt worden.“ Ihre Entwicklung ist beeinträchtigt. Ihr Intellekt reift, aber emotional bleiben sie auf dem Stand von sechs Jahren. ­ Das war sicher in der Nachkriegszeit in Deutschland sehr ähnlich.

Wie gut kann man sie integrieren?

Lesetipp

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Wer fremd ist, wird schneller krank

Kanada ist ein Einwanderungsland. Hier weiß man: Es kommen die Robusten, sie sind gesünder als die Einheimischen. Aber nach drei Jahren steigt die Rate an Depressionen. Deshalb müssen Ärzte und Therapeuten viel mehr wissen über Tabus, Scham und Körperbilder in anderen Kulturen. Lesen Sie die Chrismon-Titelgeschichte Oktober 2015.

Sehr gut, wenn sie Anschluss finden. Die Schule, ein Ausbildungsplatz, ein Fußballverein schaffen mehr, als ich in einer Therapie geben kann. Kürzlich hatte ich Kontakt mit einem afrikanischen Jugendlichen, der schwer traumatisiert war. Er konnte nicht über Brücken gehen, weil er auf der Flucht mit einem Boot gekentert war. Danach war er noch in Libyen inhaftiert, er hat grauenhafte Dinge erlebt. Heute hat er einen guten Ausbildungsplatz, verdient Geld, ist selbstständig – und schafft es, die Isar zu überqueren.

Wie reagieren Arbeitgeber und Schule auf Flüchtlinge?

Sehr positiv, vor allem die Wirtschaft. Das liegt auch daran, dass die unbegleiteten Minderjährigen unglaublich motiviert sind – denn wenn sie einen Ausbildungsplatz haben, werden sie nicht abgeschoben. In diesem Punkt muss man deutlich die Flüchtlingskinder von den jugendlichen Migranten unterscheiden, die häufig einen schwierigen Bildungsweg haben. Ein Flüchtlingskind fühlt sich außerdem der Familie zu Hause verpflichtet, die erwartet, dass etwas aus ihm wird. Da haben manchmal ganze Dörfer für eine Flucht gesammelt. Verantwortung ist für diese jungen Menschen ein zentraler Begriff.

Was brauchen Flüchtlinge?

Aktivität, Autonomie. Früher durften sie drei lange Jahre nicht arbeiten, das wurde jetzt auf wenige Monate verkürzt. Sich selbst Essen kochen zu können, ist Luxus – lange Zeit bekamen Flüchtlinge kein Geld, nur Sachleistungen. Das dreht sich allerdings gerade wieder.

Die Familie - Schutz oder Belastung?

Was bedeutet eine Flucht für eine Familie?

Wenn alle Mitglieder zusammenbleiben, ist die Familie ein starker Schutzfaktor. Eine besondere Belastung ist das Asyl ­jedoch für die Kinder: Sie werden „parentifiziert“. Das bedeutet, sie müssen viele Aufgaben von Erwachsenen übernehmen, weil die noch nicht Deutsch sprechen, schlechter Anschluss finden, ihre Autorität als Familienvorstand verlieren. Ich kenne ein sechs­jähriges Mädchen, dessen Mutter bereits zweimal versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Das Kind geht als Erstes zu Hause an die Schublade mit den Tabletten und kontrolliert, ob welche fehlen.

Die ältere Generation tut sich schwerer mit dem Neuanfang?

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Die Eltern leben häufig nur noch für die Kinder, sie haben keine andere Chance. Ein arabischer Lehrer putzt jetzt in einem Großmarkt die Böden, seine Frau, ebenfalls Lehrerin, putzt die Toi­letten. Ihre Tochter arbeitet dagegen in der öffentlichen Ver­waltung. Sie hat es geschafft, die Ehre der Eltern zu retten – indem sie Höchstleistungen erbracht hat.

Refugio veranstaltet Kurse, die Flüchtlingseltern die Integration erleichtern sollen.

Wir können die Nachfrage kaum befriedigen. Der Ursprung ­waren Frauen, die in meine Therapie kamen und sagten: „Danke für die Trauma-Arbeit, aber können Sie mir nicht auch helfen, wieder eine gute Mutter zu sein?“ Seit 2005 gibt es deshalb ein muttersprachliches Elterntraining.

Was sind die Themen?

Wir vermitteln Integrationswissen – zum Beispiel: Wann sind wir gute Eltern? Einen Elternabend zu besuchen würde zum Beispiel im Kosovo als Misstrauen gegenüber der Schule gedeutet. Der Lehrer ist eine Respektsperson, man mischt sich nicht ein. Warum ist das in Deutschland wichtig? Die größte Umstellung ist jedoch der Wechsel von der Groß- zur Kleinfamilie. Zu Hause sorgt die Mutter für den Haushalt, der Vater verdient das Geld, die Oma erzählt Geschichten, der Onkel übernimmt vielleicht die moralische Erziehung. Für die Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf, heißt es in Afrika. In der Fremde passt das alles nicht mehr.

Freiheiten müssen Schritt für Schritt zunehmen

Welche Konflikte entstehen dabei?

Wenn Eltern nicht mit ihren Kindern spielen, gilt das beim ­Jugendamt als Vernachlässigung. Aber so etwas kennen viele Kulturen gar nicht – Freizeit heißt „leere Zeit“ im Arabischen. Außerdem gab es dort, wo man herkam, immer viele andere Kinder. Spielen ist zum Überleben nicht wichtig. Die Mütter sagen: Ich will nicht, dass mein Kind zeichnet; ich will, dass es Ärztin wird. Man kann nur dann für Aktivitäten, die Kreativität fördern, Interesse wecken, wenn man klarmacht, dass sie auch die Schul­leistung verbessern.

Wie ist das mit der Autorität der Eltern?

Die Autorin

###drp|78MU_fSfJBBIzzydYvt0XNSI00118489|i-38||###Petra Thorbrietz, Wissenschaftsjournalistin, wurde oft gefragt, wie die Deutschen mit ihrer Identität umgehen.
Eine wichtige Frage ist: Wie geht man mit Konflikten um? Zwei Drittel der Flüchtlinge schlagen ihre Kinder, nicht unbedingt mit brachialer Gewalt, aber doch. Sie halten das für notwendig, um ihre Kinder auf einen guten Weg zu bringen. Da ist es sehr wichtig zu erklären, warum das bei uns verboten ist. Traumatisierte Menschen schlagen nicht selten auch im Affekt, weil sie zum Beispiel Kindergeschrei an etwas Schlimmes erinnert. Mit ihnen erarbeiten wir Methoden, wie sie sich in der Situation beruhigen können. Wenn man den Kindern zu früh sagt, sie sollten sich zur Wehr setzen, kommen sie in einen Loyalitätskonflikt. Es geht um einen pragmatischen Kompromiss: Ideal ist, wenn der familiäre Zusammenhalt bleibt, einzelne Freiheiten aber Schritt für Schritt zunehmen.

Sind muslimische Familien besonders schwierig oder ist das ein Vorurteil?

Toleranz hängt mehr von der Bildung ab als vom Glauben. Aber Frauen sind im Islam schon stärker unter Beobachtung, in einigen Ländern zumindest. Eine Afghanin, Wirtschaftswissenschaft­lerin, hatte riesige Probleme in der Unterkunft, weil sie kein ­Kopftuch trug. Die soziale Kontrolle wird durch die digitalen ­Medien verstärkt: Junge Mädchen in moderner Kleidung werden fotografiert und das Bild nach Hause geschickt. Wir reden deshalb mit den Eltern auch viel darüber, wie sie ihr neues Umfeld der Verwandtschaft erklären können.

Der Anti-Islamismus, wird der unter muslimischen Flüchtlingen wahrgenommen?

Selbstverständlich. Der Krieg zu Hause war schon schlimm genug, nun aber mit denen in einen Topf geworfen zu werden, vor denen man fliehen musste, das verstehen viele nicht. Aber wir müssen auch realistisch sein: Natürlich sind unter den Neuankommenden auch IS-Kämpfer oder andere Fundamentalisten.  Wir müssen uns immer wieder über unsere eigenen Werte klarwerden, um sie anderen verständlich machen zu können.

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