Luca Schenardi
Rettet die Geheimnisse!
Ohne sie gäbe es kaum eigenständige Urteile und kein Gewissen. Der Medienfachmann Bernhard Pörksen über den Verrat von Mysterien
Bernd Brundert
28.04.2014

Josh Harris, der gescheiterte Internetunter­nehmer und verrückte Künstler, ist ein seltsamer Botschafter einer Zukunft, die heute als unsere Gegenwart erscheint. In der Euphoriephase der New Economy der späten 90er Jahre wird er mit seinen Netzfirmen reich und beschließt, fortan an der eigenen Unsterblichkeit zu arbeiten, dem Ruhm der großen Tat. Er lädt zur Jahrtausendwende Künstler und Bohemiens ein, ruft Gestrauchelte und Suchende zusammen, die mit ihm in einen Bunker in Manhattan ziehen, einen komplett verkabelten Ort voller Kameras, die sich in den Duschräumen genauso finden wie auf den Toiletten, die den Schießstand zeigen und die tempel­ähnlichen Arrangements, die er mit seinem Geld unter Tage hat anlegen lassen.

Mehr als hundert Menschen kommen zusammen und zelebrieren einen eigenwilligen Kult des Beobachtetwerdens. Manche nehmen Drogen. Es gibt fade Alltäglichkeit. Aber auch Gewalt. Und Sex. Einmal kommt es zu einer inszenierten Orgie, die Josh Harris mit einer Clownsmaske begleitet, um als eine Art Superguru die Grenzüberschreitung zu erzwingen und einen Gruppenorgasmus herbeizudirigieren.

Als die Polizei den Bunker stürmt und das Experiment in einem Akt der Gnade beendet, setzt es Josh Harris mit seiner Freundin in einem Apartment in New York fort, in dem sich die Kameras nun auch im Kühlschrank finden, im Napf der Katze. Alles wird jetzt öffentlich – der Streit, das gemeinsame Zähneputzen, der Moment, als die New-Economy-Blase platzt und Harris innerhalb kürzester Zeit sein Geld verliert und von seiner Bank informiert wird, dass die Millionen weitgehend futsch sind. Und während die Bilder hinaus in die Welt gesendet werden, schalten sich Menschen aus vielen Ländern der Welt zu, schreiben Mails, chatten endlos mit Harris und seiner Freundin, bewerten und deuten jede Bewegung und jedes ­Lachen.

Auch dieses Experiment wird, noch bevor es zu der öffentlich angekündigten Kindszeugung kommt, frühzeitig abgebrochen. Die Freundin, von der Josh Harris später sagt, er habe sie gecastet, um die große Liebe in Zeiten der Virtualität zu spielen, und die von ihm sagt, sie habe ihn wirklich geliebt, flieht aus dem gemeinsamen Glashaus, erschöpft und verzweifelt. Er selbst driftet in einen Nervenzusammenbruch und taucht ein paar Jahre vollständig ab. Die große Tat der öffentlichen Totalprotokollierung des eigenen Lebens endet in einem Desaster.

Heute, 14 Jahre nach der Erfindung des interaktiven Menschenzoos durch Josh Harris, wird seine schwarze Utopie der Selbst- und Fremdüberwachung immer realer. Die staatlich-politischen, aber vor allem die persönlich-privaten Geheimnisreservate schrumpfen erkennbar. Der amerikanische und der britische Geheimdienst lesen Mails aus, Verbindungsdaten werden genutzt, intime Webcam-Bilder gespeichert, Telefonate und Gespräche abgehört – all dies sind Indizien dafür, dass die menschliche Existenz immer präziser ausgeleuchtet wird.

Überdies hat sich in einem Prozess allmählicher Gewöhnung auch unser Ver­halten der neuen Medienwirklichkeit angepasst. Von der Angst, beobachtet zu werden, und der Furcht vor Big Brother ist nicht viel geblieben. Noch in den 80er Jahren gab es wütende Proteste gegen die sogenannte Volkszählung; Demonstra­tionszüge zogen durch die Städte, im Einwohnermeldeamt in Leverkusen ging eine Bombe hoch. Heute treibt die Snowden-­Affäre kaum einen Menschen auf die Straße. Woran liegt das?



Die Antwort: Wir fordern Privatsphäre, aber handeln längst nicht mehr danach (das sogenannte Privacy-Paradox). Wir arbeiten kräftig daran mit, den Geheimnisverrat zu erleichtern, und perfektionieren – zumindest in dieser Hinsicht Josh Harris verwandt – die eigene Überwachungsmaschinerie. Fast jeder besitzt heute ein Smartphone, ein wunderbar praktisches Instrument zur Alltagsorganisation, aber eben auch eine „indiskrete Technologie“ im Sinne des Soziologen Geoff Cooper, die sich zur Fremd- und Selbstbeobachtung einsetzen lässt.

Wir posten, getrieben von kollektiver Faszination und der Sehnsucht nach Feedback, Privates und Intimes in sozialen Netzwerken. Wir erstellen auf Twitter Verlaufsprotokolle unseres Denkens und dokumentieren mit Selfies unsere Existenz als Laienpaparazzi in eigener Sache. Wir erzeugen mit jeder Nutzung unserer Kreditkarte und jedem Besuch einer Website freiwillig-unfreiwillig neue Spuren, Puzzlteilchen bei einer immer exakteren Er­fassung unserer Sehnsüchte und Wünsche; dies alles zur Freude der Marketing- und Werbeleute, die uns nun das höchstwahrscheinlich Gewünschte anbieten können.

Forscher der University of Minnesota stellten fest, dass sich Frauen kurz vor dem Eisprung besonders interessiert an Reizwäsche zeigen. Ihre Idee für das ­Marketing der Zukunft: termingerechte Reizwäscheanzeigen durch die Korrelation indivi­duell erzeugter Datenspuren – eine moderne Form von Zielgruppen-Stalking, Werbung im Menschenzoo.

Was aus all dem folgt? Gewiss keine weitere ideologische Überhöhung der Transparenz, sondern eher der Versuch, die Idee des Geheimnisses und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ohne falsche Romantik zurückzuerobern. Selbstverständlich ist der Verrat manchmal notwendig und zum Schutz des Gemeinwohls moralisch geboten, das muss man gleich hinzufügen. Und natürlich gibt es böse und gute Geheimnisse. Es gibt das juristisch geschützte Geheimnis, das religiöse Mysterium und das Welträtsel, das Staats- und das Herzensgeheimnis und ­natürlich den Geheimnishandel der Medien, der Aufklärung oder Auflage (oder beides) bringen soll. Es gibt das Geheimnis einer Begegnung, das sich nur um den Preis seiner Zerstörung aufhellen, ins Offene und endgültig Eindeutige zerren lässt. Und es gibt die verborgene und vielleicht einfach nur verlogene Absprache, die allein dem ­eigenen Interesse dient.

Was es zu verteidigen gilt, ist also nicht irgendein besonderer Inhalt oder eine bestimmte Variante des Verborgenen, sondern – ganz elementar – das Geheimnis als ein Prinzip und Ideal menschlicher Existenz und Gemeinschaft. Denn ein ­Geheimnis erschafft, wie der Soziologe Georg Simmel formuliert, eine zweite Welt, ein Refugium des Unbeobachteten und Unsichtbaren. In diese Welt können wir uns zurückziehen. Hier können wir uns erholen und müssen nicht mehr funktionieren. Hier können wir einem anderen von Erschöpfung, Krankheit oder unseren Sehnsüchten erzählen – im Vertrauen auf seine Verlässlichkeit und sein Schweigen. Wir werden uns auf diese Weise klar, wer wir sein wollen, sondieren die Konturen unserer Identität und erkunden die Bezirke des eigenen Selbst. Und in der Position dessen, der soeben eingeweiht wurde, schärft sich idealerweise unser ethisch-moralisches Bewusstsein. Denn wir müssen uns fragen, wie wir mit dem uns Anvertrauten umgehen und unter welchen Umständen ein Verrat vielleicht doch geboten sein könnte, um Schaden abzuwenden.

Das Geheimnis ist – so gesehen – Anlass einer Gewissensentscheidung, die einem niemand abnehmen kann; man muss sich klar darüber werden, warum man schweigt. Oder eben doch redet. Und welche Folgen dies haben könnte. In jedem Fall gilt: Das Gesagte lässt sich – einmal in der Welt – nicht mehr in das Ungesagte zurückverwandeln. Und das plötzlich ­öffentlich Gewordene kann nicht mehr zum Nichtöffentlichen werden.

Josh Harris, der Pionier einer totalen Transparenz, ist genau vor dieser Situation einer persönlichen Entscheidung und der mit ihr verbundenen Verantwortung geflüchtet. Er hat eine Welt gebaut, in der es keine Geheimnisse mehr geben kann und darf. Aber diese Welt war grausam und kalt und kollabierte in einer grell über­belichteten Katastrophe, einem Drama unter echten Menschen. Vielleicht ist dies, bei genauerer Betrachtung, tatsächlich die große Tat, die Josh Harris hinterlassen ­hat, seine im Exzess und im Spektakel ver­borgene Botschaft.

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