Maurice Kohl und Bjoern Gantert
Leute vom alten Schlag
Dreimal im Jahr vier Wochen: Der Hamburger Dom ist Deutschlands längstes Volksfest. Die Schau­steller sind dort fast schon sesshaft. Aber eben nur fast. Sechs Menschen, sechs bewegte Leben

Hans-Jürgen Schröder - "Hau den Lukas"

Schon als Junge hat mich auf dem Dom immer nur der Lukas interessiert, ich bin ganz oft mit der Bahn zum Dom gefahren, bestimmt einmal die Woche.

Früher hatte ich eine sehr gut laufende Gebäude­reinigung, in der Hauptsache Fenster. Und dann wollte ich den Lukas haben. Ich hab mich mit den Betreibern, Familie Mühl aus Oldenburg, angefreundet, und habe auch gehört, dass die von ihrem Geschäft gut leben konnten. Herr Mühl hat mich aber immer wieder vertröstet – er lebte auch mit dem Lukas. Als ich schon nicht mehr dran geglaubt habe, bekam ich den Lukas, das war zum Winterdom 1999. Da fragten schon andere Schausteller: „Bist du denn Schausteller?“ Ich sagte: „Nö, ich bin Gebäudereiniger.“ – „Dann wird das nie was!“

Bei der Hamburger Wirtschaftsbehörde fragte mich der Marktoberste: „Trauen Sie sich das denn zu?“ Ich sagte: „Ich hab’ schon ein Konzept für mich, ich werd’ mir so’n witzigen Hut aufsetzen und werde mir ’ne ­Flöte umbinden.“ – „Na, das hört sich doch ganz gut an.“ Damit habe ich die erste Zulassung gekriegt.

###mehr-extern###Bei meinem ersten Dom hab ich gleich mal einen auf die Mütze gekriegt. Da war ganz schlechtes Wetter und ein Riesensturm, da bin ich nachts hiergeblieben und habe Günter Mühl angerufen, der sagte, ich soll den Lukas abbauen. Weil ich alleine war, haben mein Nachbar und ich den Lukas mit Spanngurten an sein Kinder­karussell gebunden, und ich habe die ganze Nacht hier gesessen, bis der Sturm langsam abflaute. Die anderen Schausteller merkten: „Der ist ja doch ganz gut.“

Bei mir ist immer Spaß angesagt. Auf meinen Lukas haben schon viele Prominente drauf- gehauen, Klitschko, Otto Waalkes, Michalczewski, Jürgen Drews – ich hab hier schon so viele Leute kennengelernt, das ist phäno­menal. Die, die mich hier seit fünfzehn Jahren auf dem Dom sehen, die denken, ich bin schon hundert Jahre dabei.

Ich wohne außerhalb von Hamburg und fahre nachts immer nach Hause. Aber wenn ich auf anderen Stadtfesten bin, dann ist der Wohnwagen natürlich dabei. Meiner hat eine gute Größe, der kann immer direkt hinterm Geschäft stehen. Wenn es kalt ist, dann mache ich mir da ’ne Brühe heiß.

Bis 80 möchte ich noch arbeiten, und 103 will ich werden. Inzwischen gehöre ich beim Dom längst dazu. Und viele Schausteller sagen: „Wenn du nicht da bist, dann fängt der Dom nicht an.“

Thea Gnegel-Richters - "Hamburger Cocktailbar"

 

Seit fast 25 Jahren stehe ich auf jedem Dom. Ich komme aus einer Zirkus­familie. Kurz vor dem Mauerbau versuchten meine Eltern, in den Westen zu kommen. Doch an der Grenze wurde ihnen alles weggenommen. Ein Onkel überzeugte sie schließlich, zu ihm nach Hamburg zu kommen und ganz neu anzufangen. So wurde meine Mutter Platzwartin in Entenwerder: Dort standen viele Schausteller mit ihren Wohnwagen.

Gegenüber von uns lebte damals Helmut Richters mit seiner Familie; er ist inzwischen mein zweiter Ehemann. Helmut suchte jemanden, der in seiner Schießbude mithalf. Ich war vielleicht 14, 15, ging noch zur Schule und habe lange bei ihm gejobbt. Irgendwann habe ich meinen ersten Mann kennengelernt, bekam einen Sohn und war erst mal Hausfrau. Als die Ehe nach zwölf Jahren zu Ende war, bin ich mit meinem Kind in mein Elternhaus zurück. Da habe ich Helmut wiedergetroffen. So stand ich bald wieder als Aushilfe auf dem Dom. Irgendwann hörte ich von einer Frau, die einen Nachfolger für ihr Modeschmuckgeschäft suchte, da habe ich dann angefangen. Nach ein paar Jahren tauschte ich den Schmuck gegen Ballwerfen.

 

Ein Video über die Schausteller:

 

Zuckerbrot & Spiele - Die Schausteller vom Hamburger DOM from BjoernG photographer on Vimeo.

Mit dem Geld konnte ich mir einen Ausschank kaufen. Inzwischen besitze ich drei. Im Sommer biete ich Cocktails an, im Winter Glühwein. Alle meine Geschäfte habe ich mir selbst erarbeitet. Selbst als Helmut und ich 2003 geheiratet haben, haben wir unsere Unternehmen immer getrennt betrieben. Er meinte immer: Wenn du Geld brauchst – da ist noch Platz für einen Stand, da kannst du Geld verdienen.

Stefan Kaiser - "Ponyreiten"

 

Wir sind schon immer als Schausteller unterwegs, inzwischen in der vierten Generation. Schon als Kinder konnten wir alle super reiten. Früher waren wir monatelang unterwegs. Da hat man sich postalisch irgendwo angemeldet, damit man überhaupt einen Wohnsitz hatte. Heute wohnen wir in Lippstadt, da haben wir ein Haus. Und von da aus teilen wir uns auf, machen unser Geschäft, und dann geht es wieder heim. Unsere Tochter lebt inzwischen in München, unsere beiden Söhne sind neunzehn und dreizehn – und beide von Anfang an dabei.

Unsere Tiere werden bei uns alt. Mit ihnen haben wir sicherlich mehr Arbeit als die anderen mit ihren Karussells. Du kannst abends nicht sagen: Feierabend! Selbst mit ange­brochenem Arm oder angebrochenem Fuß beißen wir die Zähne zusammen, und dann geht’s weiter. Man verdient ein paar Mark, abends freut man sich, dass man heute sein Geschäft wieder gut gemacht hat. Dafür kommen dann am anderen Tag wieder die ganzen Rechnungen. Auf dem Dom haben wir noch zwei Mitarbeiter. Da werden alle Pferde gefüttert und durch- gemistet. Wir haben Ponys dabei, die sind vierzig Jahre alt. Die arbeiten nicht mehr, aber wir nehmen sie mit, weil sie nicht zu Hause bleiben wollen. Wenn man einen da wegnehmen würde – der fehlt. Dem jammern die Pferde nach und werden unruhig, bis der Kumpel wieder- kommt.

Meine Kinder kennen sich mit den Pferden auch schon richtig gut aus, können Kutschen einspannen, Westernreiten und wissen oft besser Bescheid als manche Älteren.

Wir sind noch Schausteller vom alten Schlag. Wenn sich irgendwann mal was anderes ergeben hätte, wären wir da sicher auch nicht abgeneigt gewesen, aber bis jetzt sind wir mit Stolz und Liebe dabei. Sobald die Sonne rauskommt, juckt es uns schon – dann müssen wir wieder los.

 

Mama Blume und Esmeralda Rosenberg - Wahrsagerinnen

 

 

Mama Blume:
Ich saß als Kind bei meiner Großmutter auf dem Schoß und habe zugesehen, wie sie die Karten gelegt hat. Bei meiner Mutter haben sie auch alle Schlange gestanden. Meine ­Mutter hat mir die Karten und die Hand­linien gezeigt und was sie bedeuten. Und als ich ungefähr zehn Jahre alt war, habe ich auf der Straße die Kinder angehalten und ihnen aus der Hand gelesen. Und so ist es geblieben.

Ich bin mit elf ins KZ gekommen, mit Kind und Kegel haben sie uns in die Waggons gestopft. Meinen Mann habe ich im KZ kennengelernt. 1945 sind wir nach Hamburg ge­kommen und seitdem immer hiergeblieben. Mein Mann hat immer gearbeitet, als Tischler, als Fahrer, aber vor allem als Musiker. Wir haben da auch schon in einem Haus gewohnt, aber jedes Mal, wenn ich so einen Zigeunerwagen sehe, kriege ich Heimweh. Ich bin lieber im Zigeunerwagen als zu Hause.

Esmeralda:
Ich fand es interessant, was Mama macht, aber ich habe nicht daran geglaubt. Ich dachte, jede Zigeunerin kann das und macht das, um Geld zu verdienen. Einmal hab ich jemandem Geld geschuldet, 30 Mark, und ich hab gesagt: Mama, leg ihm bitte dafür die Karten.

Ich hab’ daneben gesessen und zugehört. ­Mama hat ihm gesagt: Du hast Angst vor ­Feuer, und als du klein warst, hast du dich mal ganz schlimm verbrannt. Er krempelte sein Hosenbein hoch und zeigte uns eine riesige Verbrennungsnarbe. Das war mein Schlüsselerlebnis.

Ich wollte eigentlich schon immer auf den Dom, aber ich habe mich nie beworben. Auf dem Hafengeburtstag, auch so ein Hamburger Volksfest, waren wir aber schon lange. Einmal kam ein netter Mensch vorbei, der fragte mich, ob ich Lust hätte, auch auf dem Dom zu sein. Das ist ungefähr zehn Jahre her. Gerade auf dem Dom ist es das Tolle, dass sämtliche Menschen vorbeikommen, nicht nur eine bestimmte Klasse. Da ist alles dabei.

Werner, genannt Elvis - Aushilfe bei "Raschs Schmalzkuchen"

 

Immer, wenn ich auf eine Kirmes kam, gab’s da Plakate: Junger Mann zum Mitreisen gesucht. Mit 13 oder 14 bin ich nach Uelzen zum Frühjahrsmarkt. Angefangen habe ich bei der Blumen- verlosung, später bin ich rüber zur großen Verlosung, und von dort hab ich mich weiter hochgearbeitet: vom Kindergeschäft zum Autoscooter, von da zur Achterbahn. Ich hab’ alles mitgemacht. Geblieben bin ich dann bei Herrn Rasch.

Die Reiserei fand ich toll. Doch mit 50 hatte ich diesen Schlaganfall. Ich würde so gern machen, was ich früher gemacht habe: aufbauen, abbauen, herumreisen. Aber das geht nicht mehr. Fertig. Aus. Muss ich akzeptieren. Hab’ auch vieles vergessen.

Als ich den Schlaganfall kriegte, stand ich auf einer Leiter am Break­dancer und wollte eine Lüsterklemme an die Lichterkette schrauben. Dann bin ich runtergeknallt, aus fünf Metern Höhe. Ich war klinisch tot. Sie haben mich reanimiert. Als ich aufwachte, war ich halbseitig gelähmt. Ich konnte nicht mehr sehen, reden, laufen. Der Arzt stand an meinem Bett und hat zu Herrn Rasch, meinem Chef, gesagt: Entweder Sie nehmen ihn mit oder Sie bringen ihn gleich ins Pflegeheim. Mein Chef hat mich mitgenommen. Das rechne ich ihm hoch an. Denn wenn du auf der Reise einen schweren Unfall hast, wirst du nicht mehr gebraucht. Aber Edgar Rasch hat gesagt: Du hast mir geholfen, jetzt helfe ich dir.

 

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