Michael Ondruch
Das Elend nach dem Sündenfall
Am Leiden ist nichts Gutes. Die Menschheit soll es bekämpfen. Dennoch: Wer weiß, wofür er leidet, dem wachsen ungeahnte Kräfte
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
26.03.2014

Besonders biblisch oder christlich ist diese Vorstellung jedenfalls nicht: dass Krankheit und Schmerzen gerechte göttliche Strafen für persönliches Fehlverhalten seien. Schon Menschen der ­Bibel hielten diese Vorstellung für naiv. Der fromme Hiob aus dem Alten Testament, der alles verlor – Wohlstand, Familie, Gesundheit –, durchschaute die hohlen Phrasen derer, die ihm eine Mitschuld an seinem Elend andichten wollten.

Leid ist keine Strafe für begangenes Unrecht, wusste auch der Prediger Salomo (7, 15–16): „Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit“, schrieb er, „und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.“ Jesus von Nazareth legte nach: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Matthäus 5,45).

Nein, das Leiden hat keinen tieferen Sinn. Laut Bibel ist die Schöpfung eigentlich „gut“ (1. Mose 1,31), das Elend kommt erst mit dem Sündenfall. Es ist Teil einer aus dem Ruder gelaufenen Welt und ­las­tet wie ein Fluch auf der Menschheit. Seit dem Sündenfall, so die Bibel, bebaut und bewahrt der Mensch nicht bloß die Schöpfung. Er isst sein Brot „im Schweiße ­seines Angesichts“, und die Frau muss ­„unter Mühen gebären“ (1. Mose 3,16–19). Gegen diesen ständigen Notstand muss sich der Mensch mit all seinem Wissen und ­Können zur Wehr setzen – allein schon aus Mitgefühl für den leidenden Nächsten.

Leiden kann einen Sinn haben, sagt Hennig Kiene, Pastor im EKD-Kirchenamt. Aber diesen Sinn erkennt man oft erst in der Rueckschau. Und man kann das auf keinen Fall für andere feststellen, sondern nur fuer sich selbst...

Doch auch wenn Ärzte die Geburts­wehen erleichtern können, auch wenn sich fast jede Form von physischem Schmerz betäuben lässt, das Leiden ist damit noch lange nicht aus der Welt. Kein seelischer Schmerz, weder der des Verlustes noch das Trauma einer Gewalterfahrung noch Todesangst, lässt sich mit Psychophar­maka beseitigen. Die Ursache der Not bleibt. Da hilft es nichts, die Stimmung vorüber­gehend aufzuhellen.

Lässt sich denn wenigstens diesem Leiden ein Sinn abgewinnen – nicht bloß dem berühmten Warnschuss, wenn ein Mensch einen Herzinfarkt oder Atemnot erleidet und daraufhin seinen bislang ungesunden Lebensstil ändert? Lässt sich dem unverschuldeten Leid, dem puren Schicksalsschlag, ein Sinn abgewinnen? Nein, nicht einmal das.

Aber so viel steht fest: Wer weiß, wofür er leidet, kann Kräfte mobilisieren. Der kurzzeitige Schmerz bei der Zahnbehandlung ist hinnehmbar, wenn dafür das ­Dauerpochen im Backenzahn nachlässt. Würde einem derselbe Zahnarzt den­selben Schmerz sinnlos in einer Folterkammer zufügen, man bekäme die Erinnerung daran möglicherweise nie mehr los.

Kämpfer für die gerechte Sache können ungeahnten Mut gegen Todesangst mo­bi­lisieren, sofern sie sich ihrer Sache sicher sind. „Ich war mir ohne weiteres im Klaren darüber, dass unser Vorgehen darauf ab­gestellt war, die heutige Staatsform zu beseitigen“, bekannte Sophie Scholl tapfer – so steht es im Vernehmungsprokotoll der Münchener Gestapo. Da wusste die 21-­Jährige schon, dass sie als überführte Widerständlerin gegen Hitler nur noch wenige Tage zu leben hatte.

Als „Nachahmer“ Jesu sah sich Ignatius, Bischof von Antiochien, um das Jahr 109 nach Christus. Soldaten führten ihn nach Rom ab, Ignatius wusste, man werde ihn dort den Löwen zum Fraß vorwerfen – wie in den Sandalen­filmen aus Hollywood, nur eben wirklich. Doch er erkannte einen Sinn darin, den bevorstehenden Qualen mit Tapferkeit zu begegnen. „Keiner, der den Glauben bekennt, sündigt, und ­keiner, der die Liebe besitzt, hasst“, schrieb Ignatius damals. „Jetzt kommt es nicht an auf das Bekenntnis, sondern darauf, dass einer in der Kraft des Glaubens befunden wird bis ans Ende.“

Spätere Generationen verehrten Mär­tyrer wie Bischof Ignatius über alle Maßen. Sie beschrieben ihre Qualen, malten ihre Wunden nach und suhlten sich in ihrem Elend. Doch Schmerzverherrlichung ist unchristlich. Ignatius hatte keine Lust an den Qualen. Er wollte aber nicht widerrufen, er wollte seine Überzeugungen nicht ver­raten. Auch er fürchtete den Schmerz.

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Diese Sicht vermisste ich in diesem guten Beitrag: Schmerz und Leid sind was Verschiedenes. Schmerz ist eine Erfahrung - Leid ist die Entscheidung eine bestimmte Erfahrung von Schmerz als Leid zu bewerten. ------- Nicht jeder Schmerz ist Leid (wurde erläutert). Manche Menschen "leiden" unter etwas oder wen, was nicht mal Schmerz ist (zB sie in einen Stau geraten), nur weil das eigene Urteil über etwas, uns scheinbar "zusetzt". Was anderen als Leid erscheinen kann (zB älter werden) ist bewusst lebenden Menschen kein besonderes Problem. Wurde auch gut dargestellt: Leidqualität ist eine Folge von Annahme oder Widerstand dagegen. Wie das japanische Sprichwort sagt: sterben ist leicht - leben ist schwer.

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Zitat aus dem Artikel: "Am Elend ist nichts Gutes." Wer sich die Wirklichkeit als Kampf zwischen Gut und Böse vorstellig machen will, rechnet Elend und Leid dem Bösen zu und wartet auf Beifall. Blöd nur, dass hier sogar der Schatz der Spruchweisheiten, nicht gerade ein Hort analytischer Schärfe, etwas näher an der Sache dran ist. Bekanntlich ist des einen Elend oder Leid des anderen Freud. Umgekehrt auch. Deshalb findet der Satz, dass am Elend nichts Gutes sei, bei allen Kontrahenten, von eingefleischten religiösen Fundis mal abgesehen, begeisterte Zustimmung. Ob das Elend dann aber genau darin besteht, dass die Gewerkschaft eine wie immer völlig überzogene Lohnforderung stellt oder die Arbeitgeber wie immer den Dienst der wackeren Arbeitsknechte und -Mägde nicht genügend würdigen, ist strittig. Wer für das Gute kämpfen will statt für seine Interessen, will vorsätzlich oder fahrlässig nichts von Interessengegensätzen wissen. Wem dieser brutale Fehler nützt und wem er schadet, wäre eine Überlegung wert. ___________________ Zitat: "Die Menschheit soll es bekämpfen." Die Menschheit hat noch nie gekämpft. Die Menschheit nimmt überhaupt keine Aufträge entgegen. Die Menschheit macht auch nicht das Klima kaputt. Staaten kämpfen militärisch gegeneinander. Teile der Gesellschaft mit gemeinsamen Interessen kämpfen mit erlaubten und verbotenen Mitteln gegen andere Teile der Gesellschaft. Selbstbewusste freie Bürger kämpfen gegen den ebenfalls freien Nachbarn wegen der überhängenden Obstbaumzweige. Die Menschheit kämpft nicht. Wer der Menschheit den Kampfauftrag zum Guten erteilen möchte, will wiederum nichts von den unterschiedlichen Interessen der Zweibeiner wissen. _______________________ Zitat: "Wer weiß, wofür er leidet, dem wachsen ungeahnte Kräfte zu." Also Sinn des Leidens durch die Hintertür. Nein, durch das bescheuerte Leid sind noch niemand ungeahnte Kräfte zugewachsen. Wer weiß, was er will, nimmt notgedrungen manches Elend in Kauf. Ob er dann wegen des Elendes aufgibt oder weiter kämpft, entscheidet jeder selber. Das Elend mobilisiert weder geahnte noch ungeahnte Kräfte. Manchmal zehrt das Elend die aus der Überzeugung stammenden Kräfte auf, manchmal nicht. Das gilt übrigens nicht nur für antifaschistische, demokratische Kämpfer sondern genau so für antidemokratische, faschistische Kämpfer. __________________________ Zitat: "Besonders biblisch oder christlich ist diese Vorstellung jedenfalls nicht: dass Krankheit und Schmerzen gerechte göttliche Strafen für persönliches Fehlverhalten seien." Ach ja? Dann war es also weder Jahwe höchstpersönlich noch ist 2. Mose 20, 5 Teil der Bibel, wo der Chef bei einer seiner berüchtigten Selbstauskünfte gesagt haben soll: "Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation;" Krankheit und Schmerz sind also nicht Teil der göttlichen Schuldverfolgungsmaßnahmen. Gotteskunde war schon immer ein höchst überraschendes Feld. Und persönlich muss die Schuld ja auch gar nicht sein. Es genügt, wenn Papi oder Opa schwer gepatzt haben. Die Lösung, einfach Frau zu sein, hat auch so ihre Tücken.

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Hat es Jesus Christus geschafft, den Chauvinismus des alten Testaments zu überwinden? Oder hat er ihn bestenfalls ersetzt durch einen Chauvinismus von verbriefter Nächstenliebe, je nach Glauben und Steuerkraft? Oder ist das schon Ausdruck des Verfälschens seiner ursprünglichen Diktion durch die Evangelisten? Wenn ich mal die zwei Jahrtausende bis Benedict betrachte, hat er es bis dahin nicht geschafft. Was ist sein vorauseilender Sühnetod am Kreuz wert gewesen für die Menschheit angesichts der sich stetig potenzierenden Sünden? Ich vermute, nicht einmal, wenn man mit wissenschaftlicher Akribie die Sünden aller gläubigen Anhänger des Christentums gegen die Sünden der Ungläubigen oder Andersgläubigen aufrechnen könnte, nicht einmal dann würden sich signifikante Effekte zugusten eines wohlwollenden Wirkens des Heiligen Geistes zugunsten der Christenheit ergeben. Ja, und da stellt sich doch die Frage: Darf man so ein Ereignis heute wirklich feiern?

Nun, es stimmt, alle die frohen Mutes sind, müssen sich nicht unbedingt etwas fragen, bevor sie feiern. Niemand muss in allem Tun den Vorsatz haben, aus den Menschen, so wie sie gerade sind, bessere Menschen zu machen. Mithin muss niemand irgend einer Aufklärung oder Ideologie anhängen, um seinem Dasein einen Sinn zu geben. Aber es steht jedem so wie Jesus Christus frei, sich zu etwas Großen und Ernsten zu bekennen. Oder zu etwas Banalen, Trivialen oder sogar Lächerlichen. Gewiß ist es auch eine feine Sache, frei drauflos zu sündigen, wenn man seinen gestrengen Herrn nachher immer auf eine Auferstehung zweiter Klasse herunter handeln kann. Eventuell sündigt es sich so viel unbeschwerter, als wenn man von vorneherein und zweifelsfrei wüßte: Danach ist nichts! Es mag ja historisch durchaus richtig sein, dass das Leiden und Sterben am Kreuz nicht sinnlos war. Wenn ich das neue Testament aber richtig verstehe, könnte das Märtyrium jederzeit noch sinnlos werden. Also ein Tod wie jeder andere. Feiern die Christen den Karfreitag, weil sie Angst davor haben? Was wäre, wenn es nicht ums Feiern ginge dabei, sondern darum, einen Krieg zu führen? Würde man den Karfreitag verbieten? Oder würden die Priester zu den Waffen rufen und Ratschläge geben, wie man mit Gott tötet?

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Burkhard Weitz schrieb am 22. April 2014 um 13:33: "Im kommentierten Beitrag war nicht von Interessenskonflikten die Rede, sondern von Leiderfahrungen." Genau das war mir aufgefallen und genau das halte ich auch weiterhin für sehr kommentierenswert. Wer im Jahre 2014, auch in zeitlicher Nähe zum Karfreitag, einen Beitrag ganz allgemein zu Leid und Sinn verfasst, dabei auf den biblischen (oder war das jetzt wieder nur menschliches Allgemeingut?) Befund "einer aus dem Ruder gelaufenen Welt" verweist, dem möchte ich meinen schnöden Hinweis auf den Grund für den Großteil des massenhaften modernen Elends und Leids entgegenhalten: Interessenkonflikte, deren ziemlich einseitige Austragung und die zugehörige gedankliche Betreuung. __________________________ Zitat: "Auch ist nirgends zu lesen, dass das Elend Kräfte mobilisieren würde." Ich freue mich für jeden, der das nicht liest. Auf meinem Bildschirm findet sich leider weiterhin der Satz: "Wer weiß, wofür er leidet, dem wachsen ungeahnte Kräfte zu." Was sind also die behaupteten Voraussetzungen für den ungeahnten Kräftezuwachs? Das gleichzeitige Vorhandensein von Wissen und Leid. Der Versuchung, diesen Sachverhalt in einem geeigneten Diagramm darzustellen, widerstehe ich jetzt.

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Burkhard Weitz schrieb am 28. April 2014 um 15:25: "....ist eigentlich eindeutig." Wenn Sie das Wörtchen eigentlich weglassen, stimme ich mit Ihnen überein. Auch ich finde Ihren Satz eindeutig. Dumm nur, dass jeder von uns beiden offenbar je eine andere Eindeutigkeit hier entdeckt. Vielleicht lässt sich das Geheimnis in einem gepflegten Dialog lüften. _________________________ Ich probiere es mal mit einem ähnlich strukturierten Satz: ""Wer weiß, warum er die Treppe und nicht den Lift nimmt, dem wächst ein Stück Fitness zu." Ist es nun das Wissen, das den Fitnesszuwachs bringt? Oder muss sich zu diesem "Weiß-Warum", also dem Entschluss, nicht den Lift zu benutzen, das Treppensteigen gesellen? Ich würde sagen, dass ist unbedingt nötig. Wer im Erdgeschoss wohnt und arbeitet, wird trotz seines Wissens und seines Entschlusses zum Treppensteigen seinen Kreislauf nicht trainieren. Die Voraussetzungen für den Fitnesszuwachs sind also das gleichzeitige Vorhandensein von Wissen und tatsächlichem Treppensteigen. ____________________ Damit wir uns nicht um das Falsche streiten: Mir ist nicht entgangen, dass Ihr Artikel eine zutreffende und sehr begrüßenswerte Tendenz hat. Sie argumentieren gegen die unter Christen weitverbreitete Vorstellung, dass das Leid eine hoch zu schätzende Angelegenheit sei. Das geht los mit den angeblich ungemein wertvollen Wirkungen der Hinrichtung eines Wanderpredigers vor rund 2000 Jahren. Geheimnisvolle Glattstellungsbuchungen ebenso mysteriöser Sündenkonten sollen der damaligen Quälerei geschuldet sein. Auch die Erlösung der Welt, was immer das auch sein soll, wird dem damaligen Leid auf die Habenseite geschrieben. Kein Wunder, dass dann auch der Normalmensch bei seinen kleinen und großen Leiden nicht einfach "Sche...." denken und sagen, sondern sich Erhabenes dazu reimen soll. All das ist erfreulicherweise nicht Ihr Bier, lieber Herr Weitz. Aber gerade darum finde ich es ein bisschen schade, dann den Satz zu finden, der mir nicht so gelungen scheint und für den Sie mir Ihre Lesehilfe angeboten haben.

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Burkhard Weitz schrieb am 7. Mai 2014 um 18:10: "Wäre ich hier als Redakteur zuständig, ließe ich Ihnen den Satz "Wer weiß, warum er die Treppe nimmt, dem wächst ein Stück Fitness zu" allerdings nicht durchgehen." Das lese ich mit Freude. Ich würde mir selber diesen Satz auch nicht durchgehen lassen. ____________________ Zitat: "Etwas schlichter wäre er korrekt: Wer die Treppe nimmt, wird fit." Hervorragend! Genau so sehe ich das auch. ________________________ Zitat. "Und dann wird deutlich, dass der Vergleich nicht passt." Hoppla! Was passt jetzt nicht? Der Vergleich? Wieso? Ein Vergleich liegt überhaupt nicht vor, sondern eine Analogie. Passt die nicht? Nein, sie passt durchaus. Sie zeigt aber, dass der Satz, um den es geht, unzutreffend ist. "Wer weiß, wofür er leidet, dem wachsen ungeahnte Kräfte zu." Etwas schlichter wäre er nämlich immer noch nicht korrekt: Wer im vorsätzlichen Kampf leidet, wird stark. Nein, Leid schwächt und stärkt nicht. Egal, ob man an von ihrer Sache überzeugte Kämpfer denkt wie Ignatius, Bischof von Antiochien, über Sophie Scholl bis zu den Attentätern des 11. Septembers, oder ob einem die Intensivstation eines Krankenhauses in den Sinn kommt, Leid ist kein Aufputschmittel und es wird auch nicht dadurch eins, dass man weiß, wofür man kämpft.

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