Plakatmotiv zur gleichnamigen Ausstellung
Juedisches Museum Berlin/buerominimal
Fehlt da was?
Das jüdische Museum in Berlin zeigt, wie umstritten die Beschneidung selbst in Judentum und Islam ist. Und wie viel sie Juden und Muslime bedeutet
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
26.10.2014

chrismon: Was bedeutet der Titel Ihrer Ausstellung "Haut ab"?

Cilly Kugelmann: So heißt ein Buch des Baseler Religionshistorikers Alfred Boden­heimer. Der Titel ist ja doppeldeutig. Er bezieht sich auf die Vorhaut, aber auch darauf, dass viele Juden und Muslime die jüngste Debatte um die religiöse Beschneidung so verstanden, dass sie mit ihrer religiösen Tradition in Deutschland nicht erwünscht seien. Das Kölner Landgericht hatte 2012 eine religiöse Beschneidung ­eine Körperverletzung genannt. Danach entspann sich eine heftige Diskussion, die sich allerdings kaum mit dem reli­giösen Sinn der Beschneidung befasste. In unserem letzten Ausstellungsraum zeigen wir Filmausschnitte über diese Debatte.

Beschneidungsdebatten gibt es aber doch auch innerhalb des Judentums!

Cilly Kugelmann

Cilly Kugelmann ist Programmdirektorin des Jüdischen Museums in Berlin
Ja, auch solche innerjüdischen und innerislamischen Auseinandersetzungen bilden wir ab. Auch wir fragen in der Ausstellung, ob die Beschneidung noch die Bestätigung des Bundesschlusses von Gott und Israeliten ist – wie das Amen nach einem Gebet. Wer von einer jüdischen Mutter geboren wird, gehört zum Judentum, durch die Beschneidung wird der Sohn in den jüdischen Glauben hineingegeben. Gleichzeitig zeigen wir aber auch, wie sehr die Frage der Beschneidung die Identität selbst von nichtreligiösen Juden und Muslimen tangiert. Viele Juden, die ihre Jungen beschneiden lassen, halten sich kaum an andere rituelle Regeln. 
Wie haben Sie denn die Debatte nach dem Kölner Urteil erlebt?

Die Kölner Richter haben mit ihrem Urteil zunächst nur einen Widerspruch zweier Wertsysteme zu lösen versucht: Das eine schützt die körperliche Unversehrtheit des Kindes, das andere die Freiheit der Religionsausübung. Viele unmittelbare Reaktionen waren von antiislamischen Ressentiments gekennzeichnet. Später wurde daraus eine Debatte über die Beschneidung im Judentum. So kam es, dass zum ersten Mal in der Bundesrepublik Deutschland Juden und Muslime ein gemeinsames Anliegen verband.

Haben Sie antijüdische Reflexe wahrgenommen?

Ja. Es gab alles von der sachlichen historischen Auseinandersetzung bis hin zu anti­semitischer und antimuslimischer Denunziation, besonders im Internet. Auf einmal war da ein Thema, das sich scheinbar objektiv verhandeln lässt. Heftige antisemitische Argumente habe ich übrigens auch im Kreis von Ärzten und Biologen gefunden, verkleidet als rationale Argumente – mit einem hohen Grad an Selbstgerechtigkeit.

Auch der Bundestag hat über die religiös motivierte Beschneidung debattiert. Nahmen Sie dort auch antisemitische Untertöne wahr?

Nein. Aufseiten der Politiker ist Antisemitismus ein Tabu.  

Was bekommt der Besucher als Erstes in der Ausstellung zu sehen?

Die Ausstellung beginnt mit einer Skulpturengruppe, die beschnittene und un­beschnittene Männer zeigt. Sie werden auf einer Art Messer präsentiert. Wir nennen diese Inszenierung "Auf Messers Schneide". Wir wollen den Besucher damit konfrontieren, dass es auf unserem Globus Kulturen gibt, die beschneiden, und solche, die nicht beschneiden.

Hängt die Ablehnung der Beschneidung in Europa damit zusammen, dass hier ­weniger Männer beschnitten sind?

Ganz bestimmt. In den USA hat es diese Debatten in diesem Ausmaß jedenfalls noch nicht gegeben. 

Es gibt aber auch objektive Einwände: Die Vorhaut schützt die Eichel!

Die Vorhaut hat medizinisch gesehen genauso gut eine Schutzfunktion wie sie auch Krankheitsträger sein kann. Interessant ist aber: Ob in einem Kulturkreis beschnitten wird oder nicht, die Position wird ähnlich begründet. Im antiken Griechenland gab es eine Sportkultur, die unbekleidet ausgeführt wurde. Der Schutz der Vorhaut war wichtig, was zu einer radikalen Ablehnung der Beschneidung führte. Bei den Griechen galt der beschnittene Penis zudem als überaus hässlich. Interessanterweise verwenden sowohl die griechische als auch die jüdische Kultur ähnliche Argumente: dass es hier auch um erotische Selbstkontrolle gehe. Für die Griechen ist sie nur mit, für die Israeliten nur ohne Vorhaut möglich. Beide verachten die jeweils anderen und werfen ihnen sexuelle Zügellosigkeit vor. Was als schön und hässlich, was medizinisch und moralisch als richtig und falsch gilt, das hängt von den Konventionen ab.

Wenn Gott will, dass der Mann keine Vorhaut hat, warum hat er den Mann dann mit Vorhaut geschaffen?

In der jüdischen Tradition gibt es die Vorstellung, dass erst die Beschneidung die Schöpfung vollendet. Eigentlich paradox, dass dafür etwas weggenommen werden muss. Aber genau das finde ich interessant. Gott möchte die Aktivität als Bestätigung sehen. Der Mensch tut etwas, um Gott zu gefallen. Abraham ist der erste, der dem Gebot der Beschneidung folgt. Er kommt aus der Fremde, entschließt sich, gegen den Polytheismus zu kämpfen und nur noch einem Gott treu zu sein. Um diesen Bund mit diesem einen Gott zu unterstreichen, soll er sich selbst beschneiden. Und so sollen es künftig die Väter mit ihren Söhnen tun. Das ist der biblische Anfang des Beschneidungsrituals im Judentum.

Wenn Antisemiten Juden daran identi­fizieren können, dass sie beschnitten sind, dann kann für sie dieses Zeichen der Gottestreue lebensbedrohlich sein!

In der Tat war es das für jemanden, der in der Nazizeit aufgewachsen ist. Deshalb haben viele jüdischen Familien unmittelbar nach Kriegsende ihre Söhne nicht mehr beschneiden lassen. Interessanterweise werden die Söhne, die später geboren wurden, doch wieder beschnitten.

Im Film "Monsieur Claude und seine Töchter" hat ein katholisches Ehepaar vier Töchter. Eine heiratet einen Juden. Nach der Beschneidung des Enkels gibt man Monsieur Claude die Vorhaut, er soll sie im Garten vergraben. Das geht schief. Der Hund schleckt die Vorhaut auf. Können Sie über so was lachen?

Klar, wenn es witzig erzählt wird, auf jeden Fall! Das ist überhaupt nicht anstößig. Wir zeigen in der Ausstellung eine Episode aus einer amerikanischen TV-Serie, die davon ausgeht, dass die meisten Amerikaner beschnitten sind. Da gibt es eine erotische Szene, in der eine Frau erstmals einen un­beschnittenen Penis sieht. Die Frau ist schockiert über den ungewohnten Anblick. Das zeigt, wie sehr unsere Wahrnehmung von unseren Gewohnheiten abhängt. Und dass man über alles seine Witze machen kann, versteht sich von selbst.
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"Hängt die Ablehnung der Beschneidung in Europa damit zusammen, dass hier ­weniger Männer beschnitten sind?

Ganz bestimmt. In den USA hat es diese Debatten in diesem Ausmaß jedenfalls noch nicht gegeben. "

Ich würde gerne dazu folgend aus dem Buch von Matthias Franz "Beschneidung von Jungen - ein trauriges Vermächtnis"zitieren, da diese Zitat erklärend wirkt warum immer weiter gemacht wird auch wenn es "nur" Tradition ist.

Zitat:Kindheitlich von den Eltern erfahrene Traumata können verinnerlicht und später selbst reinszenierend wiederholt werden. Kollektiv rituell vermittelte traumatische kindliche Erfahrungen können daher auch zu kollektiven Empathiebrüchen führen und zu gruppalen Überzeugungen mit Abwehrfunktion organisiert werden.
Dadurch kann die Einfühlung in das Erleben der nächsten Opfergeneration beeinträchtigt werden.
Ein solcher traumatisch bedingter Empathiebruch kann aufgrund hoher elterlicher Eigenbetroff enheit auch die Einfühlung in die Ängste der eigenen Kinder (z. B. vor der Beschneidung) betreff en und so zu einer Fortsetzung der rituellen Praxis beitragen. Dies gilt besonders, wenn das Ritual für die Kohäsion und Identität der sozialen Bezugsgruppe wichtig ist und mittels klerikaler
Machtansprüche eingefordert wird. Kollektive Überzeugungen und Rituale werden gruppal also besonders dann unrefl ektierbar tradiert, wenn der Gewaltaspekt des ausgeübten Rituals aufgrund eigener Abwehrbedürfnisse der selbst traumatisch befangenen Eltern verleugnet werden muss. Dann kann das emotionale
Erleben von Angst und Schmerz des kindlichen Opfers von den handelnden Erwachsenen eben nicht mehr empathisch erfasst werden und eine Täter- Opfer-Kette kann sich transgenerational über historische Zeiträume hinweg etablieren."

Erfasst wird die Angst schon. In der facebook-Gruppe Mutilation Watch kommen immer wieder Mütter zu Wort, die wirklich heftig mitleiden, wenn ihr neugeborener Sohn beschnitten wird. Die Angst vor der Vorhaut ist aber größer.

Ich denke, dass das kollektiv verinnerlichte Angsterlebnis zu einer Art Mem führt, das permanent unterschwellig suggeriert, dass von der Vorhaut eine tödliche Gefahr ausgeht. Ein Neugeborenes spürt auf einmal einen extremen Schmerz an der Penisspritze, für die es natürlicherweise keine Erklärung geben KANN, denn in der Vorstellungswelt eines Neugeborenen existiert nur es selbst und die beschützende Mutter in noch nicht gelöster Personalunion. Gefahren drohen nur von außen durch wilde Tiere o.Ä.. Das Neugeborene denkt (soweit ein Neugeborenes denken kann) wahrscheinlich, die Vorhaut frisst es auf, woher mMn die irrationale Angst vieler als Neugeborenes beschnittener Männer vor der Vorhaut kommt.

Es ist ja auch kein kurzer Vorgang - allein das Abreißen der Vorhaut von der Eichel dauert einige Zeit -, sondern der Schmerz wirkt noch mindestens zwei Wochen nach. Und in dieser Zeit kommt das Neugeborene, das wahrnimmt, dass seine Mutter immer bei ihm ist, es also nicht von wilden Tieren angeknabbert wird, zu der Überzeugung, dass der enorme Schmerz von ihm selbst ausgeht. Es war also die Vorhaut selbst, die ihm diese extremen, lange andauernden Schmerzen bereitet hat. Dass ihm dieser extreme Schmerz von Artgenossen und mit Zustimmung der Mutter zugefügt wurde, kommt im Verständnis der Welt des Neugeborenen natürlich nicht vor, denn so etwas KANN es ja eigentlich nicht geben - daher die Verarbeitung Richtung Selbstzerfressung und die irrationale und pathologische Angst vor der Vorhaut.

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Wenn hier die Vorhaut als potentieller "Krankheitsträger" dargestellt wird, kann man nur mit dem Kopf schütteln. Da wird bar jeder medizinischer Erkenntnis ein normales Körperteil pathologisiert. Weibliche Schamlippen können in dieser Denkweise ebenso "Krankheitsträger" sein, wie die Nase, wie wir alle in der laufenden Erkältungssaison erfahren dürfen. Auch abschneiden? Diese pathologisierende Sichtweise ist völlig inakzeptabel und menschenverachtend.

Antwort auf von Rerun (nicht registriert)

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Und es ist auch nachweislich falsch.

Im Smegma befinden sich abgestorbene Hautzellen, abgetötete Keime und Talg. Es stinkt zwar auf Grund der Zersetzung durch zur natürlichen Hautflora gehörenden Mikroorganismen und körpereigene Enzyme, aber es ist nicht infektiös.
Die zum Abwehrsystem gehörenden Drüsen an der Innenseite der Vorhaut werden von Präputophobikern fälschlich als Einfallstore für diverse Krankheitserreger, u.a. HIV, bezeichnet.

Es müsste verboten sein, nachweislich falsche Behauptungen zu verbreiten. Im südlichen Afrika lassen sich gerade auf Grund solcher Behauptungen massenweise junge Männer beschneiden, weil sie denken, sie wären dann vor zahlreichen Krankheiten geschützt. In Wirklichkeit erleiden sie dadurch einen enormen gesundheitlichen und sexuellen Schaden. Hier müssen aufgeklärte Menschen konsequent dazwischengehen.
Und man muss endlich beginnen, die beharrliche Verbreitung von falschen Behauptungen angemessen zu bestrafen.

Dagmar Rehak schrieb am 7. November 2014 um 15:26: "Und man muss endlich beginnen, die beharrliche Verbreitung von falschen Behauptungen angemessen zu bestrafen." Nein, gegen falsche Vorstellungen und daraus resultierende Behauptungen hilft nur Kritik, nicht Gewalt, also auch nicht Staatsgewalt. Geldstrafen und Knast können irrige Vorstellungen unterdrücken, aber nicht beseitigen. Wer sich also zunächst überhaupt einen Gott vorstellig macht, der dann im nächsten Schritt scharf darauf ist, an Säuglingen mit dem Messer rumzufummeln, was im Versuch, diese Praxis zu rechtfertigen, im dritten Schritt zur Verbreitung falscher Medizininfos führt, muss für alle seine Fehler kritisiert, für keinen seiner Irrtümer bestraft werden.

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Das Lachen ueber einen Witz bleibt mir im Hals stecken, sobald der Witz die Bagatellisierung faktischen Leidens intendiert. Nicht jeder Beschnittene steckt das mit der Beschneidung verbundene Trauma einfach weg, sondern Einige leiden unter den somatischen, sensorischen oder psychischen Folgen ein Leben lang. Der mit einem scharfen Messer und heftiger Schmerzerfahrung begruesste Saeugling oder Junge wird von dieser Initiation gepraegt, waehrend die Erwachsenen feiern. Was moegen die Auswirkungen dieser Erfahrung als Grossgruppentrauma sein? Die mit der nicht medizinisch notwendigen Beschneidung verbundene Empathieverweigerung wird verdraengt in der Verharmlosung (nur kleiner Schnitt... eine Banane kennt keinen Schmerz). Wer schon mal die Spitze seines besten Stuecks im Reissverschluss der Hose eingeklemmt hat, weiss, wovon hier die Rede ist. Die religioes motivierte Begruendung der Beschneidung aus uralten absoluten Geboten oder Vorschriften zeugt von einem problematischen Schriftverstaendnis, die aus anderen Gruenden vorgenommene prophylaktische Beschneidung bleibt medizinisch widersinnig. Nicht jede kulturelle oder religioese Skurrilitaet darf Toleranz und Rechtssicherheit einfordern oder gar Sympathie erwarten. Das Leben ist bereits ohne ueberkommene Blutrituale kompliziert genug.

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"Heftige antisemitische Argumente habe ich übrigens auch im Kreis von Ärzten und Biologen gefunden, verkleidet als rationale Argumente – mit einem hohen Grad an Selbstgerechtigkeit."
Ich nehme an, damit sind Beschreibungen der Funktionen der Vorhaut gemeint, u.a. schützende und anti-infektiöse, und der negativen Folgen für das sexuelle Empfinden und die Gesundheit.

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Meine Überzeugung ist: keine unnötigen medizinischen Eingriffe. Basta. Schon gar nicht ritueller Art, schon gar nicht beim Kleinkind, das nichts versteht. Aber es ist meine eigene Überzeugung, die ich niemand diktiere. Ich möchte EINDRINGLICH an alle appellieren, die ihre eigenen Überzeugungen Anderen diktieren wollen, in Form radikalisierender Meinung. Ich kann Bedenken äußern, Pro und Contra diskutieren, doch darf ich dabei nicht vergessen, dass meine Meinungsfreiheit, die des Andern miteinschließt, weshalb es nicht geht, dass meine Meinung die einzig richtige ist. Und in einer Diskussion kann es nicht ausschließlich darum gehen, andere zu überzeugen, oder zu beeinflussen. Es geht in erster Linie darum, den Anderen so zu akzeptieren, wie er ist. Ich finde es daher unerhört, wie hier über fremde Rituale und Gewohnheiten, hergezogen und bestimmt wird, wie über das Leben anderer Menschen geurteilt wird, ohne, dass sie selbst sich dazu äußern.-----------------------Der religiöse Sinn der Beschneidung mag bei der Debatte zu kurz gekommen sein, doch rechtfertigt er nicht den medizinischen Teil . Es mag auch ärgerlich sein, dass manche Dinge ewig der Entwicklung hinterher hinken, doch muss man hier respektieren, dass der Weg das Ziel ist, nicht aber das Ziel von herausragender Bedeutung. WIE gehen wir miteinander um ? TOLERANT, aber interessiert, friedlich , oder fordernd, kategorisch, rechthaberisch, besserwisserisch ? Und die Banane ist ein geschmackloses Bild.

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