Sie wollten so gern helfen
Eine kleine evangelische Gemeinde in Frankfurt nimmt zwei Afrikaner auf, Flüchtlinge. Will ihnen Unterkunft bieten, die Wäsche waschen, Deutsch beibringen. Nicht alles klappt gut
22.07.2014

Eine angebrochene Tüte klebriger Cornflakes, eine Packung Spaghetti und eine schrumpelige Zwiebel haben Richard und Hassan dagelassen.  „Möchte das jemand mitnehmen?“, fragt Edith Wolf in die Runde. Sie hat die Gemeinschaftsküche aufgeräumt und dabei die Reste entdeckt. Richard und Hassan, die zwei afrikanischen Flüchtlinge, haben fünf Monate lang im Gemeindehaus geschlafen. Die Leute aus der Frankfurter Wicherngemeinde haben ihren Alltag organisiert, sie integriert, ihnen Essen gebracht und Deutschunterricht angeboten, die beiden im Gottesdienst verabschiedet.

Die pensionierten Lehrer, mehrere Mitglieder des Kirchenvorstands, die Pfarrerin und eine Studentin, die bei jedem Helfertreffen Protokoll führte, sind an diesem Frühlingsabend ins Gemeindehaus gekommen. Sie alle wollten eine Geschichte, die gut ausgeht: dass Hassan und Richard Arbeit finden, sie in Deutschland bleiben, eine Perspektive bekommen.

November 2013: Dass die Nachbargemeinde Cantate Domino zweiundzwanzig Afrikaner aufnimmt, die unter einer Mainbrücke hausten, verbreitet sich schnell. „Rasche und praktische Hilfe – das hat mich berührt“, erinnert sich Pfarrerin Katja Föhrenbach. Es war gerade Buß- und Bettag, in ihrer Predigt hat sie über Migration gesprochen, über Solidarität gegenüber Zuwanderern.

„Sind unsere Gemeinden solche Orte, wo gemeinsames Leben stattfindet, wo Hilfesuchende ihren Platz haben, wo Verfolgte Zuflucht finden?“, fragte sie im ­Gottesdienst. Ob nicht auch bei ihnen Platz sei, zwei Flüchtlingen Obdach zu geben, erkundigt sich die Pfarrerin der Nachbargemeinde. Der Kirchenvorstand trifft sich zu einer außerordentlichen Sitzung. Die Mitglieder zögern: Wir kennen die Afrikaner nicht – wer weiß, wen wir uns da ins Haus holen? Vielleicht zwei Kriminelle? Am Ende machen wir uns strafbar, wenn wir sie einfach bei uns schlafen lassen? Was benötigen die beiden, können wir ­das leisten, haben wir genügend Kraft dafür? Was passiert, wenn einer krank oder depressiv ist?

1. Teil, Januar und Februar 2014

Beinahe entscheiden sie sich dagegen, drei Stunden beratschlagen sie. Zu viele Bedenken. Doch dann geht es ganz schnell: „Wir trauen uns das nicht zu, und deshalb müssen zwei Menschen im Winter unter einer Brücke schlafen? Das kann nicht sein“, reißt ein Gemeindemitglied die Diskussion wieder herum. Die Entscheidung ist getroffen. Drei Tage später sind die ­beiden Gäste, wie die Gemeinde sie von nun an nennt, da. Es geht los.

Hassan und Richard, 21 und 30 Jahre alt. Der eine aus dem Niger, der andere aus Ghana. Deutsch sprechen sie kaum, ihr Englisch und Französisch ist nur schwer zu verstehen. Der eine sehr verschlossen, der andere fröhlich. Ein Muslim und ein Christ. Wie sie nach Europa kamen und seit wann sie unterwegs sind, das erzählen sie niemandem so richtig, auch nicht, was sie unterwegs erlebt haben.

Die Wicherngemeinde gründet einen Unterstützerkreis für Hassan und Richard Fotos: Anika Kempf
„Es war schwierig, etwas über sie zu erfahren. Natürlich waren wir neugierig. Aber sie haben sich damit sehr zurückgehalten, auch aus Selbstschutz“, erklärt Katja Föhrenbach. Gestört hat es sie und die anderen Helfer nicht. Sie erleben Hassan und Richard als angenehme, unauffällige Gäste.

Kurz nach Richards und Hassans Ankunft gründet die Gemeinde einen Unter­stützerkreis. Etwa 30 Menschen bieten ihre Hilfe an. Wolf Gunter Brügmann-Friedeborn, Mitglied im Kirchenvorstand, entwirft einen Flyer, um die Nachbarschaft zu informieren, was die Gemeinde tut. Bald kommen Spenden und Leihgaben an: Kartoffeln, Konserven und selbst gekochte Erdbeermarmelade, ein Bügeleisen, aussortierte Handtücher, Bettdecken, Winterschuhe. Geldbeträge in verschiedener Höhe und Zuschüsse vom Dekanat. Auch viele ermutigende E-Mails und Anrufe aus der ganzen Stadt.



Nach kurzer Zeit kursiert eine Liste, wann die beiden bei wem ihre Klamotten waschen können. Post-its mit deutschen Begriffen kleben auf den Schrän­ken in der Gemeinde­küche. Eine Konfirmandin verkauft mit zwei Freundinnen in ihrer Schule Kuchen und finanziert damit Fahrkarten für öffentlichen Nahverkehr. Es läuft.

Einmal im Monat treffen sich die ­Helfer, bald ist es ein fester Kern: Edith Wolf, die mit Hassan und Richard loszieht und Kleidung kauft. Wolf Gunter Brügmann-Friedeborn, der den Kontakt zum Diakonischen Werk, zu Pro Asyl, zum hessischen Flüchtlingsrat sucht. ­Seine Frau, die mit den Afrikanern Spazier­gänge durch Frankfurt macht. Friedhelm Scheu, der Spieleabende organisiert, um Richard und Hassan die Zeit zu vertreiben. Klaus Weißbecker und Ursula Avery, die den beiden Deutsch beibringen möchten. Anja Drönner, eine Nachbarin der Gemeinde, die später den Unterricht übernimmt. Darunter einige, die zwar Gemeindemitglied sind, sich bis dahin aber wenig engagiert haben.

Neue Jeans für Hassan und Richard
„Es trägt sich durch die ganze Gemeinde – ein tolles Gefühl!“, sagt Katja Föhrenbach. Sie sieht Hassan und Richard am häufigsten, ihre Wohnung grenzt an das Gemeindehaus. Bald ist es völlig normal, die beiden im Flur zu treffen, kurz zu plaudern. Ein gemeinsamer Alltag auf Zeit.

Neun Quadratmeter, zwei Liegen, ein Schrank, ein CD-Player. Die Gemeindemitglieder trennen die hintere Ecke der „Oase“ mit Vorhängen ab. Es ist eigentlich der Raum für die Haus­aufgabenbetreuung: freundlich gelb gestrichen, Regale voller Brettspiele. Eine andere Schlafmöglichkeit gibt es nicht in dem Gebäude aus den fünfziger Jahren. Damit die Jungschar die „Oase“ auch weiterhin nutzen kann, sollen Hassan und Richard tagsüber unterwegs sein.

Die beiden verbringen die Zeit mit den afrikanischen Migranten aus der Nachbargemeinde. Duschen müssen Hassan und Richard auch woanders, ein richtiges Badezimmer gibt es im Gemeindehaus nicht. Aber in der Gemeinschaftsküche kochen sie häufig. „Einmal zog ein ganz eigenartiger, strenger Geruch durch das Haus“, erzählt Katja Föhrenbach. „Ich habe nachgeschaut – Hassan und Richard haben sich Ziege zubereitet! Total ungewohnt für uns.“ Einer der Helfer zeigt ihnen afrikanische Geschäfte im Bahnhofsviertel, dort kaufen sie häufig Lebensmittel ein.

Zweiter Teil, Februar und März 2014


„Es ist großartig, was die Wicherngemeinde macht“, sagt David Damoah. Er ist Pastor. Seine ghanaische Gemeinde hat in Frankfurt keine eigenen Räume, deshalb trifft sie sich für den Bibelkreis und zum Gottesdienst in den Räumen der Wicherngemeinde. David Damoah kommt zu den Treffen des Unterstützerkreises, vor allem am Anfang vermittelt er zwischen Hassan und Richard und den Helfern, er kann mit ihnen sprechen. „Ich finde, die Gemeinde ist dafür da, sich für Menschen einzu­setzen, die Hilfe brauchen. In Frankfurt gibt es viele afrikanische Gemeinden – ­es wäre schön, wenn sie sich mehr engagieren würden.“

David Damoah ist Pastor der ghanaischen Gemeinde in Frankfurt
Nicht alle sehen die Hilfe für Hassan und Richard so positiv wie David Damoah, erzählt die Pfarrerin: Die Kirche solle sich doch auf ihre eigenen Themen konzentrieren, sich mehr für die Alten, für die Kinder engagieren, statt für Wildfremde, bekommt Katja Föhrenbach zu hören. Auch von Gemeindemitgliedern. „Aber Migra­tion ist unser Thema!“, sagt sie. „Aussagen über Gastfreundschaft und Wohlwollen gegenüber Fremden ziehen sich wie ein roter Faden durch die Bibel!“ Die Pfarrerin spricht mit Nachdruck.

Und dann fragt eine im Stadtteil bekannte Republikanerin im Ortsbeirat: ­Der Magistrat möge überprüfen, ob die Kirchengemeinde ihre Kinder- und Jugendarbeit überhaupt weiterhin leisten kann. Schließlich wird sie von der Stadt finanziert. – Allen ist klar, worauf die Anfrage abzielt: Hassan und Richard schlafen in dem Raum von Jungschar und Hausaufgabenhilfe. Der Kirchenvorstand kann in einer Sitzung darstellen: Die Kinder- und Jugendarbeit in der Wicherngemeinde läuft weiter. „Klar, manchmal mussten wir anders planen“, sagt die Pastorin. „Wenn wir abends die „Oase“ für Gemeinde­veranstaltungen nutzen wollten, ging es eben manchmal nicht. Aber es fanden sich ­immer Lösungen.“ Der Ortsbeirat weist die Anfrage zurück. 



Deutschunterricht für Hassan und Richard: „der Frosch“, „der Schirm“, „das Flugzeug“. Auf dem Esstisch verstreut liegen Papierschnipsel, aufgeschlagene Bücher, Schnellhefter. Eine Zeichnung zeigt eine Rakete. Hassan hält die Hände über den Kopf, macht einen ängstlichen Gesichtsausdruck. Klaus Weißbecker ist überrascht: „An Feuerwerk oder Flug auf den Mond denke ich da. Dass ihn das an Krieg erinnern könnte, hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm!“ Klaus Weißbecker und seine Frau Ursula Avery sind beide 67 Jahre alt, er unterrichtete an einem Gymnasium, sie leitete eine Grundschule. Wer, wenn nicht sie, die pensionierten Lehrer, soll Hassan und Richard Deutsch beibringen?

Ursula Avery und Klaus Weißbekcer, pensionierte Lehrer, geben sich viel Mühe mit dem Deutschunterricht.
Sie laden sie zu sich nach Hause ein, in ihr Wohnzimmer. Ein gemütlicher Raum mit Familienfotos an den Wänden, überall Bücherstapel, ein Aquarium in der Ecke. Geplant ist, dass Hassan und Richard jeden Vormittag zu den beiden Lehrern kommen sollen, von Montag bis Freitag. Aber: Mal kommt nur der eine, dann nur der andere. An einem Tag kommen sie um zehn Uhr, am nächsten um zwölf. Klaus Weißbecker verdreht die Augen: „Völlig unzuverlässig!“ Dass die Afri­kaner die Zeit erfunden hätten und die Europäer die Uhr, meinte jemand aus der Gemeinde. Klaus Weißbecker sieht das nicht so.

Heute sagt er: „Ich bin desillusioniert. Die Lernbereitschaft war einfach nicht da.“ Irgendwann steht fest: Hassan und Richard brauchen kein Deutsch, eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland bekommen sie nicht. „Ich hatte dann den Eindruck, sie kommen, um uns eine Freude zu machen“, meint Klaus Weißbecker. Erst fiel es schwer, das einzusehen. „Wir sind das falsch angegangen, das war naiver Idealismus.“ Ursula Avery, seine Frau, hat noch die Ordner voller Arbeitsblätter, die sie für Hassan und Richard gestaltet hat. Das Curriculum zeigt sie, den Bericht über den Lernerfolg der beiden, ihre Versuche, den beiden Lesen und Schreiben beizubringen. Alles genau dokumentiert, wie früher als Grundschullehrerin. „Ich habe gelernt“, sagt Ursula Avery, „dass man keinen Dank erwarten darf, wenn man Hilfe anbietet.“ Nach sechs Wochen be­enden sie den Deutschunterricht. Trotzdem sagt Klaus Weißbecker: „Helfen würde ich wieder. Nur vielleicht in anderer Form.“ Wie, das muss er sich noch überlegen, das hängt von der Situation ab. Aber: „Dass ich Menschen in Not Obdach gebe, ist für mich selbstverständlich. Schon wegen meines Glaubens. Vor etwa zweitausend Jahren gab es auch eine obdachlose Familie. Das muss man sich vor Augen führen. Und eine bleibende Stadt, wie wir sie gewöhnt sind, haben Richard und Hassan nicht.“

Kirche sei auch dafür da, Menschen in Not Obdach zu bieten - Pastorin Katja Föhrenbach setzt sich dafür ein
Anja Drönner trifft sich weiter mit den beiden, einmal in der Woche. Sie arbeitet als Lehrerin für „Deutsch für Ausländer“ und gibt Englischkurse für Kinder. Sie übt einfache Dialoge mit Hassan und Richard, die Zahlen, Wochentage, Begrüßung. Von Stunde zu Stunde machen die beiden kleine Fortschritte, „Danke“, „Guten Morgen“, einfache Sätze merken sie sich. Mehr aber nicht, wozu auch? Zwar kommt auch zu Anja Drönner irgendwann nur noch einer der beiden, aber sie stört das nicht. Vor allem Richard, der Ältere, gibt sich Mühe. Einmal sagt er: „Ich vertue meine Zeit, ich bin ständig müde, wenn ich ar­beiten könnte, hätte ich mehr Kraft.“ So ist der Unterricht auch Zeitvertreib, gibt dem Tag Struktur, lenkt sie ab vom Warten und von Heimweh. „Aber für mich ist die Zeit mit Hassan und Richard auch eine Be­reicherung, sie erzählen mir von Afrika, von einem komplett anderen Leben“, sagt Anja Drönner. „Ich kann nur einen kleinen Teil beitragen, aber das mache ich gerne. Ich wohne in der Nachbarschaft der Gemeinde, und ich finde, Nachbarn sollten sich gegenseitig helfen.“

Für Richard und Hassan ist die Zeit in Deutschland vorbei, nach der „Dublin“-Regelung müssen sie zurück in das Land, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten haben. Kurz vor Karfreitag fahren sie ab, die Sonne scheint. Am Frankfurter Hauptbahnhof ist viel Trubel, die Osterferien haben begonnen. Hassan und Richard ziehen beide einen Koffer hinter sich her – da passt alles rein, was sie besitzen. Sie tragen neue Jeans. Edith Wolf war vor ein paar Tagen noch einmal mit ihnen einkaufen. Im Reisebus geht es nach Süditalien. Der eine fährt nach Neapel, der andere bis nach Sizilien. Dort haben Richard und Hassan Kontakte, und sie hoffen, dort arbeiten zu können. Vielleicht als Erntehelfer.

Dritter Teil, April und Mai 2014


In Italien angekommen, rufen sie fast täglich an, berichtet Katja Föhrenbach. Wenige Wochen nach der Abreise trifft sie sich mit den anderen Helfern, um Bilanz zu ziehen. Edith Wolf ist da, Wolf Gunter Brügmann-Friedeborn und seine Frau auch. Er beschreibt ein ambivalentes Gefühl, wenn er auf die vergangenen Monate zurückblickt: „Einerseits haben wir etwas getan, wir haben geholfen, haben einen Beitrag geleistet. Wir konnten Richard und Hassan über den Tag helfen. Andererseits ist da völlige Ohnmacht und Hilf­losigkeit, dass wir nicht mehr tun konnten, dass sie abfahren müssen ohne Lebensperspektive.“

Ob Hassan in Italien einen Job als Erntehelfer findet, ist ungewiss
Von diesem Frust erzählen viele. Zwar sah es von Anfang an so aus, dass Richard und Hassan nicht in Deutschland ar­beiten dürfen, dass sie wieder zurück nach Italien müssen, wenn die Aufenthaltsgenehmigung abläuft. Und trotzdem hat die Gemeinde gehofft.

Und Katja Föhrenbach sagt: „Die Zeit mit Hassan und Richard hat uns wach­gerüttelt. Wir müssen entscheiden: Wie gehen wir damit um?“ Eine Nachbargemeinde hat gerade zwei Menschen aus Eritrea Kirchenasyl gewährt. Und ihre Gemeinde? „Wir lassen das Thema ruhen. Wir erholen uns. Und dann werden wir sehen, was der nächste Winter bringt.“ Eine Geschichte, wie die Gemeinde sie sich gewünscht hat, ist es nicht geworden. Aber Katja Föhrenbach sagt: „Wir legen sie in Gottes Hände. Er hat noch etwas mit den beiden vor, da bin ich sicher.“ Und dann fügt sie hinzu: „Wir würden das wieder machen.“

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