Foto: Gerhard Leber/stockagentur
"In Deutschland hat die Tarifbindung abgenommen"
Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vergleicht die Niedriglohnsektoren in 17 europäischen Ländern
Tim Wegner
05.09.2013

chrismon: Wie groß ist der Niedriglohnsektor bei uns?

Thomas Rhein: In Deutschland haben 2010 – für dieses Jahr gibt es belastbare Daten – fast ein Viertel aller Beschäftigten einen Niedriglohn bezogen. Nur Litauen hat eine höhere Niedriglohnquote. Wir haben separat für jedes Land die Niedriglohnschwelle ermittelt: Geringverdiener ist, wer weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns aller Beschäftigten verdient. 2010 lag diese Schwelle in Deutschland bei einem Brutto-Stundenlohn von 9,54 Euro, in Litauen bei 1,67 Euro, in Dänemark bei 15,80 Euro.

Wer sind die Geringverdiener?

Frauen, junge Leute, Menschen mit geringer Qualifizierung und Ausländer sind gefährdet, in den Niedriglohnsektor abzurutschen. Dabei hat die Mehrheit der Geringverdienereine abgeschlossene Ausbildung. In Deutschland fällt der hohe Anteil an Frauen und Teilzeitbeschäftigten auf.

Ist das Ehegattensplitting schuld am Niedriglohnsektor?

So weit würde ich nicht gehen. Aber der steuerliche Anreiz für Ehefrauen, nur Teilzeit oder als geringfügig Beschäftigte zu arbeiten, hat sicherlich Effekte. In Teilzeit- und 450-Euro-Jobs gibt es niedrige Stundenlöhne.

Ist Hartz IV verantwortlich für die Entwicklung?

Das hat die Entwicklung nicht gerade aufgehalten. Aber als alleinige Erklärung greift das zu kurz. Die Entwicklung setzte schon Mitte der 1990er Jahre ein, alsodeutlich vor Hartz IV.

Würde ein gesetzlicher Mindestlohn helfen?

Er könnte zumindest niedrigsten Löhnen entgegenwirken. Brutto-Stundenlöhne unter 7,50 Euro und sogar unter 5 Euro bei Aufstockern – also Erwerbstätigen, die gleichzeitig Hartz IV beziehen – sind weit verbreitet. Andererseits: Die Skandinavier haben keinen Mindestlohn, aber trotzdem wenige Geringverdiener.

Ihre Schlussfolgerung?

In Skandinavien ist es anerkannt, dass Ungleichheit den gesellschaftlichen Konsens gefährdet und dass Gewerkschaften und Arbeitgeber gute Löhne für alle vereinbaren. In Deutschland hat die Tarifbindung immer weiter abgenommen. Nur noch rund 60 Prozent der Beschäftigten erhalten Löhne, die tariflich vereinbart wurden und für die Arbeitgeber verbindlich sind.

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