Michael Ondruch
Soll man Bettlern helfen?
Wer Bettlern Geld gibt, tut Gutes - und geht zugleich ein Risiko ein: Was, wenn der Bedürftige von seinen Einnahmen Schnaps oder Drogen kauft? Ein hingeworfener Euro würde seine Lage dann auf lange Sicht kaum bessern
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.08.2013

"Du kannst den reinen Luxus haben, du darfst nur kein Problem damit haben, dass du ein Schmarotzer bist", erzählte Anja einem Reporter. Und über die Anbiederung beim Betteln sagte sie: "Ich bin schon im Schleim ersoffen beim Schnorren, aber in drei Stunden hab ich 70 Mark zusammen."

Anja war Bettlerin. Sie gab ihr Interview, als sie 15 Jahre alt war, drei Jahre vor ihrem Tod. Als 13-Jährige war sie der bürgerlichen Enge daheim im Odenwald entflohen. Sie bevorzugte das Leben unter bettelnden Punks und geriet in eine Abwärtsspirale. Fünf Jahre überlebte Anja auf der Straße. Ihre Mutter, zu der sie ein gutes Verhältnis hatte, versuchte sie heimzuholen. Sie kämpfte um Anja. Vergeblich. Mit 18 Jahren setzte sich das Mädchen den goldenen Schuss, eine Überdois Heroin.

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Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Vielleicht wäre Anja noch am Leben, wenn sie nicht so großen Erfolg beim Betteln gehabt hätte. Das Leben auf der Straße erschien ihr von Anfang an so einfach, dass ihre Mutter sie nicht von den Vorzügen des bürgerlichen Lebens überzeugen konnte. Dies wurde Anja zum Verhängnis.

Soll man Bettlern vorbehaltlos helfen? Oder soll man abwägen, ob sie wirklich das Geld brauchen? Sozialarbeiter warnen oft davor, Bettlern großmütig Geld zuzustecken. In Deutschland gebe es ausreichend staatliche Hilfe für Bedürftige. Wer Bettler unterstütze, verstärke ihre Unfähigkeit, Struktur in ihr Leben zu bringen, Behördengänge zu planen oder die Hilfe von Beratern in Anspruch zu nehmen. Schlimmstenfalls unterlaufe der Spender Versuche, die Lage des Bettlers von Grund auf zu ändern.

Nord- und Mitteleuropäern aus protestantisch geprägten Regionen eilt der Ruf voraus, gegenüber Bettlern hartherzig und überheblich zu sein. Sie würden den Bettlern viel zu häufig unterstellen, vom eingenommenen Geld nicht etwa Nahrung, sondern Alkohol zu kaufen. Mehr noch: Sie wollten Bettler dazu erziehen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, auf der Straße deshalb lieber gar nichts geben und ihre Spenden allenfalls an Hilfsorganisationen überweisen.

Zu den Werken der Gerechtigkeit zählt nicht, dass man Bettlern Geld geben muss

Tatsache ist: Protestanten haben im Laufe der Jahrhunderte ein Denken ausgeprägt, das Außenstehenden auf den ersten Blick hartherzig vorkommen könnte. Sie berufen sich dabei gar auf Bibelzitate. So heißt es bei Paulus im 2. Thessalonicherbrief (3,10): "Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen." Da kommt schnell die Vermutung auf: Entweder knüpfen Protestanten ihre Hilfe an Forderungen oder sie unterstützen andere nur dann, wenn es Hilfe zur Selbsthilfe ist.

Zu den Werken der Gerechtigkeit, in denen sich Christen nach dem Matthäusevangelium (Kapitel 25) bewähren müssen, zählt tatsächlich nicht, dass man Bettlern Geld geben muss. Vielmehr sollen Christen Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Fremde bei sich aufnehmen, Nackte bekleiden sowie Kranke und Gefangene besuchen. Und so ist es historisch immer gewesen: Protestanten organisieren seit Jahrhunderten kostenlose Essensausgaben, helfen bei der Integration von Fremden, bauen Krankenstationen und resozialisieren Strafgefangene. Wenn es um solche Hilfen geht, waren und sind Protestanten schon immer ausgesprochen großzügig.

Vielleicht verhalten sich Protestanten trotz allem Großmut und bei aller Effizienz ihrer Hilfe zuweilen überheblich. Vielleicht haben sie eines zu wenig gepflegt: sich spontan vom Elend anderer anrühren zu lassen. Denn auch dies ist eine christliche Tugend. Sie wird auf eindrucksvolle Weise in einer Heilungsgeschichte im Markusevangelium (1, 40–42) beschrieben. Da bat ein Aussätziger Jesus um Hilfe. Den ergriff ein starkes Mitgefühl, wörtlich übersetzt: "Es traf ihn in die Eingeweide." Diese Haltung gilt im Christentum als vorbildlich.

" Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb", schreibt Paulus im 2. Korintherbrief (Kapitel 9). Ausdrücklich wehrt der Apostel das Missverständnis ab, man solle spenden, um sich ein schlechtes Gewissen zu ersparen. Im Islam zählt die Armenabgabe zu den Hauptgeboten der Religion. Doch für Christen besteht nicht ausdrücklich die Pflicht, Bettlern ein paar Münzen zuzuwerfen. Aber es gibt ja vielfältige Wege der Hilfe: Ob man mit dem Bettler das Gespräch sucht, ihm etwas Geld zukommen lässt oder ihn zum Essen oder ins Kino einlädt, das mag jeder selbst entscheiden.

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