Manu Burghart
Sollte man Menschen per Pille verbessern? Wenn es tatsächlich geht, so fragt sich Jürgen Wiebicke, was bedeutet dann Verantwortung?
17.12.2013

Im Jahr 1848 wurde der amerikanische Eisenbahnarbeiter Phineas Gage Opfer eines Unfalls. Eine Eisenstange erwischte ihn an der linken Wange, durchbohrte den Schädel hinter der Stirn und trat am Dach des Schädels wieder aus. Wie durch ein Wunder hat Gage den Unfall überlebt, blieb sogar bei Bewusstsein, war allerdings seitdem, so sein Arzt, ein anderer Mensch. Er konnte zwar noch sprechen, sich erinnern und rational denken, aber es fehlten ihm plötzlich die emotionalen Fähigkeiten, mit seinen Mitmenschen anständig umzugehen. Gage muss so unangenehm gewesen sein, dass sein Arzt ihm bestimmt ein Moralpräparat verschrieben hätte, wenn es verfügbar gewesen wäre.

166 Jahre später blühen die Fantasien, dass eine solche Medizin schon bald entwickelt werden könnte. Moral wahlweise als Pille oder Saft, die Darreichungsform kennt man noch nicht so genau. Wenn es gelänge, mit Hilfe psychoaktiver Substanzen ein sozial erwünschtes Verhalten zu befördern, so stellten es sich die Forscher vor, dann könnte die Pharmazie erfolgreicher sein als zweieinhalb Jahrtausende philosophische Ethik. Endlich ­würde der Mensch gut. Der stolze Begriff, unter dem derzeit solche
Visionen verhandelt werden, lautet: moralisches Enhancement, moralische Verbesserung. Der Oxforder Bioethiker Julian Savulescu etwa hält sie für geboten, weil die Menschheit andernfalls mit der Lösung globaler Probleme überfordert sei.

Phineas Gage hat es in den Neurowissenschaften deshalb zu später Prominenz gebracht, weil sein Fall geeignet scheint, das Problem mit der menschlichen Moral zu lokalisieren. In zahlreichen Neuroinstituten rund um den Globus werden Probanden in Kernspintomografen geschoben, um im Experiment herauszufinden, welche Hirnareale bei ethisch relevanten Entscheidungen aktiviert sind. Allerdings ist die Bedeutung des Klassikers Gage in der Forschung auch gleich wieder relativiert worden. Moral scheint auch neurowissenschaftlich ein komplizierter Fall zu sein und die Idee, dass es irgendwo hinter der Stirn ein moralisches Zentralorgan geben könnte, allzu einfach. Gleichwohl macht mehr und mehr die Vorstellung die Runde, das, was wir gemeinhin für Ethik halten, also menschliches Handeln in Freiheit und Verantwortung, sei bloß das Resultat von Hirnchemie, von der die daraufhin handelnde Person natürlich gar nichts mitbekommt. In dieser Sicht sind wir nicht Herr im eigenen Haus. Kein stolzes Ich entscheidet, was es tut oder lässt, sondern ein biochemisches Gewitter der Neurotransmitter. Verlockend daher der Gedanke, diese Hirnchemie so zu manipulieren, dass menschliches Handeln moralisch besser wird.

Einiges Aufsehen haben zuletzt die Forschungen von Molly Crockett aus London hervorgerufen. Die Neurowissenschaftlerin ist der Überzeugung, dass das Verständnis des Hirns der Schlüssel dafür ist, menschlichen Egois­mus einzudämmen. Ihr Zaubermittel heißt Serotonin, das seit einiger Zeit als Glückshormon durch die Medien geistert. Crockett hat gesunden Versuchspersonen ein Antidepressivum verabreicht, um deren Serotoninspiegel zu erhöhen. Anschließend ließ sie die Gedopten das sogenannte Ultimatumspiel spielen, das seit langem in der ökonomischen Spieltheorie beliebt ist. Mit ihm soll herausgefunden werden, in welchem Maße das Prinzip der Nutzenmaximierung unser

Handeln bestimmt und welche Rolle Fairnessregeln spielen. ­Crockett bat zwei Kandidaten, die sich vorher nicht kannten, in ihr Labor und gab Spieler A eine Geldsumme, die er mit Spieler B teilen sollte. Wie genau der Betrag aufzuteilen war, durfte Spieler A bestimmen. Allerdings hing sein persönlicher Nutzen davon ab, ob Spieler B das Angebot annahm oder ausschlug. Für den Fall nämlich, dass B ablehnte, gingen beide leer aus, die Forscherin erhielt das Geld zurück. A konnte sich selbst dadurch schaden, dass er ein allzu unfaires Angebot machte, B wiederum konnte sich selbst und dem unfairen Mitspieler schaden, indem er auf seine Gerechtigkeitsvorstellung pochte.

Für gewöhnlich winken bei diesem Spiel die meisten Probanden ab, wenn ihnen vom Mitspieler von zehn Euro nur drei an­geboten werden. Aber je höher der Serotoninspiegel durch Antidepressiva, so das Ergebnis, desto eher waren sie geneigt, auch ein unfaires Angebot zu akzeptieren. Testpersonen mit Serotoninmangel ließen sich dagegen weniger gefallen. Wenn Crockett nun aus diesem Experiment schließt, dass Serotonin „prosoziales Verhalten“ fördert, dann ist das philosophisch höchst vieldeutig. Wer sich tatsächlich klüger verhalten hat, wäre erst noch zu klären.

Wer sich an die biblische Regel hält – schlägt dich jemand auf die eine Wange, dann halte ihm auch die andere hin –, wird es vermutlich eher für geboten halten, auch einem unfairen Angebot zuzustimmen, als auf einer abstrakten Gerechtigkeitsformel zu bestehen. Dieser ethische Pfad hieße dann: auf die Stärke eines Gegenübers mit eigener Schwäche reagieren. Manche Ethiker fänden es allerdings problematisch, wenn ein durch Serotoninkonsum gestärktes Mitgefühl zur höheren Bereitschaft führt, sich von anderen über den Tisch ziehen zu lassen.

Gut oder schlecht? Diese Unterscheidung ist oft nicht leicht zu treffen. Noch schwieriger ist die Wahl zwischen zwei Übeln: Darf man den Tod eines Menschen in Kauf nehmen, um andere Menschenleben zu retten? Um diese Frage geht es beim sogenannten Trolley-Problem. Ein Gedankenexperiment, bei dem man entscheiden muss, ob eine außer Kontrolle geratene Straßenbahn einen oder fünf Menschen überrollt. Die fünf könnten gerettet werden, wenn man einen Mann mit einem schweren Koffer aufs Gleis stößt. Versuchspersonen mit Serotoninmangel neigten dieser Lösung zu, die Gedopten wollten den Mann verschonen.

Moralisches Enhancement, das lehren solche Planspiele, ist ein schillernder Begriff. Entscheidend ist der moralische Kompass, der vorher die Richtung angibt, in welcher Weise die Hirn­chemie von Menschen zu beeinflussen wäre. Ein Kantianer, für den es verwerflich ist, einen Menschen als Mittel für andere Zwecke zu sehen, würde wohl den Serotoninspiegel erhöhen wollen, damit keine moralisch falsche Entscheidung fällt. Ein Utilitarist dagegen, der sich nach Regeln der Nützlichkeit entscheidet und für den fünf Menschenleben mehr zählen als eines, würde versuchen, den Spiegel zu senken. Moralische Medizin gibt es also nicht, moralisch oder unmoralisch sind die Menschen, die über die Medizin verfügen.

Bekanntlich werden bereits heute Medi­kamente verabreicht, um unerwünschte Verhaltensweisen abzustellen. Besonders umstritten ist die Zwangsbehandlung psychisch kranker Straf­täter. In mehreren Fällen hat das Bundesverfassungsgericht dieser Praxis inzwischen enge Grenzen gesetzt. Sexualstraftätern mit gestörter Impulskontrolle wird die pharmakologische Kastration angeraten. Willigen sie ein in eine triebhemmende Behandlung, winkt als Belohnung der Straferlass. Mütter, die nach der Geburt emotional außerstande sind, ihr eigenes Kind anzunehmen, bekommen das Hormon Oxytocin als Nasenspray, das soziale Verhaltensweisen steigern soll. Auch an Patienten mit Autismus wird es inzwischen ausprobiert. Dies alles sind Versuche, einzelnen Menschen zu helfen, deren Freiheit krankheitsbedingt eingeschränkt ist. Problematisch wird es dann, wenn Hirnforscher und Philosophen aus einzelnen Biografien wie der des armen

Eisenbahnarbeiters Gage die steile These ableiten, Menschen seien generell nicht für ihr Handeln verantwortlich. Die Regeln unseres Zusammenlebens beruhen auf der Wette, dass Menschen frei sind, Dinge zu tun oder zu lassen. Beweisen lässt sich diese Freiheit freilich nicht. Aber würden wir den Mord erlauben, wenn dies unserer Hirnbiologie am besten entspräche?

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Ja, auch wenn`s mich wundert, schreiben Sie ruhig mal noch mehr darüber. Da gibt es doch in München einen katholischen Psychiater, der solche Experimente über die Wirkung von Angst und Folter auf die Moral und Wertegefüge menschlicher Individuen geleitet hat oder das noch immer tut. Ich persönlich vermute, wie schon Stanislaw Lem 1960 geschrieben hatte, dass dieselben Pharmazeutika auch die Beurteilung des Verhaltens der Probanten verändern. Also ist es letztlich egal, wer sie nimmt oder verabreicht bekommt. Es sei denn, man hält den Arzt, der das verabreicht a priori für moralisch höherstehend. Das gegenwärtige Grundgesetz gibt da wahrscheinlich keine Antworten vor, sonst gäbe es solche Versuche in Deutschland nicht. Insider äußern gelegentlich die Vermutung, dass es die DDR noch heute gäbe, hätten die "zuständigen Organe" damals über die pharmazeutischen Möglichkeiten der heutigen Psychiater verfügt. Da möchte man sehr schnell ausrufen "Bewahre uns Gott!" - Aber es gibt keinerlei Garantie für uns alle, dass nicht etwas viel Schlimmeres als die Restriktion und Bescheidenheit der DDR auf uns zukommt.

Herzlichen Dank an Jürgen Wiebicke für seinen kritischen Artikel gegen die biologistische Variante der Hirnforschung, die das Verhalten reduziert auf den parallel im Stoffwechsel ablaufenden Cocktail von Neurotransmittern. Das menschliche Erleben und Verhalten ist, wie man in den Human- und Sozialwissenschaften nicht bestreitet, vor allem abhängig von der individuellen Lerngeschichte, also der Biografie. Der Denkfehler der Biologisten besteht hier darin, dass sie korrelative Zusammenhänge für kausale halten und in ihrem Sinne deuten. Dass bei menschlichem Erleben und Verhalten im dafür nötigen Stoffwechsel parallel- und eben nicht monokausal- Neurotransmitterauschüttungen stattfinden, bestreitet ja niemand, aber dass diese ursächlich seien, hat für den menschlichen Normalfall noch niemand überzeugend nachgewiesen.
Des Weiteren wird der Klassiker der biologistischen Variante der Neuroforschung, der Fall Phineas Gage, immer wieder falsch ausgelegt. Gage war nach seinem tragischen Unfall entgegen aller Prognosen zunächst in seinem Erleben und Verhalten unauffällig geblieben und gerade deshalb immer wieder öffentlich ausgestellt worden. Über diese würdelosen Erfahrungen verlor er seinen Job und dann seine Ehefrau, woraufhin er beschloss, verbittert nach Südamerika auszuwandern. Das bedeutet, dass seine späteren Verhaltensauffälligkeiten gar nicht zwangsläufig auf seine Hirnverletzungen zurückzuführen sind, sondern ebenso gut auf seine erfahrenen Enttäuschungen und Abweisungen seiner Person in den wesentlichen Lebensbereichen Liebe und Arbeit - darüber können auch sehr viele der sogenannten Normalen ihren "Verstand verlieren" bei durchaus körperlich intaktem Gehirn.
Auch wenn man diese Legende als plausible Bestätigung seiner kruden biologistischen Annahmen über den Menschen immer wieder gern aus dem verstaubten Regal der Annekdoten von anno (1848) dazumal entnimmt, so wird diese Legende dadurch nicht wahrer.

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