Marco Wagner
Mit aller erdenklichen Strenge
Der Waisenvater August Hermann Francke gründete vor den Toren von Halle eine ganze Schulstadt und prägte die Pädagogik
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
13.02.2013

Das Entsetzen war groß, als der junge Pfarrer seinen ersten Gang durch Glaucha machte: 37 Spelunken zählte er in dem nur 200 Häuser umfassenden Ort. Unhaltbare Zustände! 1691 hatte ihn der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. an die neue Universität Halle berufen: als Professor für Griechisch und Hebräisch. Aber die Waisen und die Saufbrüder in dem heruntergekommenen Ort am Stadtrand von Halle, das immer noch unter den Folgen des 30-jährigen Krieges litt, weckten in dem frommen Theologen die größte Besorgnis. „Ein Quentchen lebendigen Glaubens ist höher zu schätzen als ein Zentner bloß ­his­torischen Wissens, und ein Tröpfchen wahrer Liebe ist edler als ein ganzes Meer der Wissenschaft aller Geheimnisse“, sagte er. Seine religiöse Haltung als Pietist hatte ihn zuvor den Lehrstuhl in Leipzig gekostet, trieb ihn aber weiter unermüdlich an.

Ein Platz zwischen lutherischer Orthodoxie und beginnender Aufklärung

August Hermann Francke gilt als eine der herausragenden Personen dieses frommen Aufbruchs seit dem späten 17. Jahrhundert. Was da so mächtig an Bedeutung gewann, war inzwischen eine Volksbe­wegung, die ihren Platz zwischen der Sturheit der lutherischen Orthodoxie und der beginnenden Aufklärung gefunden hatte. Zugleich streng und frömmelnd ging es bei den Pietisten zu, einerseits moralistisch, andererseits gottverliebt. Sie trugen ihre religiösen Emotionen geradezu zur Schau. Noch deutlicher als bei den Begründern der Diakonie Mitte des 19. Jahrhunderts – Johann Hinrich Wichern in Hamburg oder Theodor und Friederike Fliedner in Düsseldorf-Kaiserswerth – ging es ­August Hermann Francke darum, Seelen um jeden Preis zu retten. Nach ­heutigen Maßstäben war sein Denken und Handeln patriarchal und aufklärungsfeindlich, für seine Zeit war es sozial und innovativ.

Franckes besondere Liebe galt der Bibel­lektüre. Um sie zu fördern, hatte er in Leipzig 1686 ein Kolleg gegründet, das Philobi­blicum. Doch mit wachsender Erkenntnis der biblischen Texte hatten ihn Glaubenszweifel gepackt: Im Jahr 1687, drei Jahre nach Beginn seiner Arbeit als Hebräischlehrer und zwei Jahre nach Abschluss seines Philologiestudiums in Leipzig, hatte er sich dem Pietismus zugewandt. Philipp Jakob Spener, von den lutherischen Auto­ritäten und Geistesgrößen seiner Zeit ­massiv angefeindet, wurde sein Vertrauter. Das alles war schlecht für die akademische Karriere Franckes gewesen: Die Leipziger Fakultät entzog ihm den Lehrstuhl, denn sie ­befürchtete eine weitere Ausweitung der pietistischen Bewegung. So hatte ihn Brandenburgs Kurfürst ins Land geholt. Und in Glaucha tat Francke, was zu tun war.

Ein Modell für die Schulen in vielen deutschen Ländern

Mit einem Startkapital von 4 Talern und 16 Groschen, die er aus der Sammelbüchse in seinem Pfarrhaus genommen hatte, startete er ein soziales Großprojekt. In drei Jahrzehnten errichtete er in dem verwahrlosten Ort ein ganzes Ensemble von Sozial- und Bildungsbauten. Die ers­ten: eine Armenschule und ein Waisenhaus. Für Söhne aus reichen Familien gründete er 1695 ein Pädagogium, wo sie sich auf das eigentliche Universitätsstudium vorbe­reiten konnten. Nach und nach entstand eine ganze Schulstadt. In seinem Todesjahr 1727 wurden in seinen Anstalten mehr als 2200 Kinder von 167 Lehrern, acht Lehrerinnen und acht Inspektoren unterrichtet.

Franckes Erziehungsverständnis wurde zum Modell für Schulen in fast allen deutschen Ländern. Von Brandenburg strahlte es selbst in die katholischen Länder aus, wie der Pädagoge Winfried Böhm beschreibt. Darin war viel von dem, was für das spätere Preußentum typisch wurde. „Nach pietistischer Überzeugung ist es Pflicht des Erziehers und Lehrers, das Kind mit aller erdenklichen Strenge zu diszi-­plinieren, um es der göttlichen Gnade würdig und fähig werden zu lassen“, so Böhm. Francke verglich Kinder schon einmal mit einem Pferd, das entweder vom Teufel oder von Gott geritten wird. Entschlossenes pädagogisches Eingreifen war erforderlich.

Die Erziehungsprinzipien Franckes sind lange überholt. Pädagogische Inno­vation und wissenschaftliche Offenheit prägen heute die Arbeit der Franckeschen Stiftungen. Aus Anlass des 350. Geburtstags Franckes am 22. März veranstaltet die Stiftung ein umfangreiches Jubiläums­programm (www.francke-halle.de).

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Flugzeug aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.