Klappe auf oder zu?
Die Diskussion um das Für und Wider von Babyklappen ist neu entbrannt. Eine Befürworterin und eine Gegnerin stellen einander zur Rede
Tim Wegner
13.08.2013

chrismon: Frau Stangl, seit vier Jahren kann man in Ihrem Krankenhaus ohne Namensangabe entbinden, und man kann ein ungewolltes Neugeborenes in die Babyklappe legen. Was wollen Sie damit erreichen?

Gabriele Stangl: Wir wollen damit verhindern, dass weiterhin Neugeborene hilflos ausgesetzt oder getötet und wie Müll entsorgt werden. Und mit dem Angebot der anonymen Geburt wollen wir unbürokratisch helfen. Immer wieder nämlich erzählen Frauen, dass sie auf den Ämtern waren und ihr Leid geklagt haben, dass wieder ein Baby kommt – und sie wurden nicht besonders gut behandelt. Oft haben sie sich dann ganz zurückgezogen.

Mittlerweile gibt es 70 Babyklappen in Deutschland. Dennoch werden wie zuvor jährlich 30 bis 40 Neugeborene getötet oder lebend ausgesetzt. Wie erklären Sie sich das?

Stangl: Die Leute sind aufmerksamer geworden, sie machen Müllsäcke auf, öffnen an Papierreißmaschinen Kartons. Deshalb findet man mehr von den ausgesetzten Säuglingen. Aber wir haben immer gewusst, dass wir nie alle Frauen erreichen werden.

Frau Swientek, warum werden trotz der Babyklappen, in die ja durchaus Kinder gelegt werden, weiterhin Neugeborene getötet oder ausgesetzt?

Christine Swientek: Weil die Babyklappen eine völlig andere Klientel ansprechen, nämlich Frauen und Männer, die sonst zu Beratungsstellen gegangen wären oder ihre Kinder ganz offiziell zur Adoption freigegeben hätten. Die Klappen bieten also eine vereinfachte Entsorgung. Die Frauen, die ihr Baby töten oder irgendwo unversorgt liegen lassen, werden damit jedoch nicht erreicht. Denn die Tötung von Neugeborenen folgt einer ganz bestimmten Psychodynamik. Diese Frauen negieren ihre Schwangerschaft, sie tun so, als wenn nichts wäre. Selbst wenn Familienmitglieder sagen: Hör mal, du bist doch schwanger, sagen sie: Nein, bin ich nicht. Aber in dem Moment, wo das Kind da ist, können sie die Schwangerschaft nicht mehr negieren. Und dann wird’s getötet.

Stangl: Oder auch nicht. Wir hatten hier auch ein junges Mädchen, das seine Schwangerschaft negiert hat. Sie hat während der Wehen im Internet gesucht, denn sie wusste auf einmal: Es muss ja doch so sein. Sie ist wirklich im letzten Moment hergekommen zur anonymen Entbindung. Am Tag nach der Geburt fragte ich sie, was sie getan hätte, wenn sie zu Hause geboren hätte und niemand hätte ihr geholfen. Sie sagte: „Ich hätte das Kind versteckt.“ – „Ja, wo hättest du es denn versteckt?“ – „Im Keller.“

Swientek: Polizei und Gerichtsgutachter haben Frauen, die getötet hatten, gefragt: Wussten Sie von der Existenz der Babyklappen, wussten Sie, dass Sie hätten anonym entbinden können? Die Frauen sagten alle: Ja, aber ich hab’s nicht wahrnehmen können. – Da ist eine Schranke. Sie dachten, es geht irgendwie vorbei. Erst mit dem Schrei des Kindes wachen die Frauen sozusagen auf, dann wird die Geburt ungeschehen gemacht. Dann wird das Kind eingewickelt in Tüte und noch mal Tüte und in den Schrank gelegt. Damit hat sich das Problem für die Frau gelöst: Sie ist nicht mehr schwanger, sie hat kein Kind, sie kann so leben wie bisher. Das sind die Frauen, die auch alle Hilfen von sich weisen. Denn sie sagen ja immer: Ich bin nicht schwanger!

Gabriele Stangl: „Alle Frauen hatten Angst zu bekennen: Da kommt ein Kind“

Babyklappe und anonyme Geburt sind Angebote hart am Rand der Legalität. Frau Stangl, was sind das für verzweifelte Notlagen, die es Ihrer Meinung nach rechtfertigen, Kinder zu namenlosen Findelkindern zu machen?

Stangl: Alle Frauen hatten Angst. Manche kamen wirklich in letzter Sekunde an, hatten schon den Kopf geboren. Sie hatten furchtbar Angst um ihr eigenes Leben und das ihres Kindes. Angst, bekennen zu müssen: Da kommt jetzt ein Kind. Bei den jungen Mädchen ist es die Angst vor der Familie; bei den Frauen zwischen 25 und 35 gibt es einen großen Konflikt mit dem Mann.

Aber was hilft es da, anonym zu entbinden?

Stangl: Sie sagen zum Beispiel: Aber das könnte jemand erfahren! Ich bin doch über meine Mutter krankenversichert, und die würde dann die Rechnung bekommen ... Einmal haben wir gesagt: Mädchen, wenn das deine große Angst ist, dann zahlen wir die Geburt, die Mama kriegt gar keine Rechnung, und wir melden dein Kind ganz normal an, du bist die Mutter. Sie hat es dann zur Adoption gegeben. Eigentlich sind Babyklappe und anonyme Geburt nur so etwas wie eine Fahne, mit der wir sagen: Wir helfen dir, was deine Angst auch sei. In den meisten Fällen kann ich die Frauen an der Hand nehmen und ganz normal den Weg mit ihnen gehen. Sie brauchen aber eben eine Anlaufstelle!

Aber es gibt doch für Schwangere in schwierigen Lebenslagen alle möglichen Angebote – Mutter-Kind-Heime, Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, Adoptionsberatungsstellen et cetera. Passen die bestehenden Angebote nicht, werden die Frauen dumm behandelt, oder kennen sie die Angebote einfach nicht?

Stangl: Alle drei Gründe stimmen.

Swientek: Wirklich alle drei. Die Angebote sind nicht bekannt, selbst den Anbietern von Babyklappen oft nicht. Ohne Sie jetzt zu attackieren, Frau Stangl, eines der Probleme ist ja: Die Befürworter von Babyklappen und anonymer Geburt sind alles keine Sozialarbeiter, die mit Müttern arbeiten, sondern Berufsfremde: Gynäkologen, Pastoren, Bischöfe...

Aber offensichtlich haben manche Frauen zu diesen Berufsfremden eher Vertrauen als zu Jugendämtern.

Swientek: Ja, leider. Wer Erfahrungen mit Jugendämtern gemacht hat, der geht oft nicht freiwillig hin. Viele werden wirklich dumm behandelt: Musste das sein, ein viertes Kind, konnten Sie nicht aufpassen?

Christine Swientek: „Frauen, die ihr Baby töten, werden von den Klappen nicht erreicht“

Aber warum brauchen die Frauen neben dem Beistand auch noch Anonymität?

Stangl: Von den 40 Frauen, die bei uns anonym entbinden wollten, ist letztlich nur eine anonym geblieben. Denn wenn mal gute Beratung da ist, wächst Vertrauen. Und Vertrauen und Anonymität passen nicht zusammen. Deshalb versuchen wir, so schnell wie möglich den Kontakt zu diesen Menschen zu bekommen. Aber für die Frauen ist es wichtig zu wissen, sie dürfen auch kommen, ohne den Namen zu sagen.

Swientek: Aber Sie können doch in jeder Beratungsstelle anrufen und sagen: Ich möchte mich gerne beraten lassen, aber ich möchte meinen Namen nicht nennen. Das ist noch nie ein Problem gewesen! Und einer Frau, die in den Wehen ist, der wird in jedem Krankenhaus geholfen.

Stangl: Aber das weiß keiner.

Swientek: Was den Frauen fehlt, sind nicht weitere Angebote wie Babyklappe und anonyme Geburt, sondern Informationen: Was für Möglichkeiten habe ich, wenn ich mich in Not fühle. Nöte sind ja sehr subjektiv. Allein schon dieses „Ich hab Angst, dass meine Eltern was erfahren“! Wie oft haben wir es bei der Adoption erlebt, dass Großeltern weinen, wenn sie erfahren, ihre Tochter hat das einzige Enkelkind vor zwei Jahren zur Adoption freigegeben – und sie hätten es so gern gehabt.

Noch mal zur Anonymität: Für die Frau ist es ja nicht wichtig, dass sie dem Kind gegenüber ein Leben lang anonym bleibt, sondern dass das direkte Umfeld nichts erfährt. Ist denn solch eine Abschirmung der Daten möglich?

Swientek: Ja, nicht jeder erfährt, dass jemand ein Kind zur Adoption freigegeben hat. Allerdings gibt es ein Problem: Seit dem neuen Kindschaftsrecht hat der Vater volle Rechte. Bei einer verheirateten Frau muss also der Ehemann in die Adoption einwilligen – man nimmt ja an, dass er der Vater ist. Ich weiß aber aus verschiedenen Kliniken, dass der Anteil von Ehebruch bei den anonym weggegebenen Kindern relativ hoch ist. Da müssen wir gucken, wie wir das rechtlich lösen, ohne dass der gehörnte Ehemann es erfährt. Aber dafür braucht es keine Lebenszeit-Anonymisierung aller Beteiligten.

Wegen Babyklappe und anonymer Geburt soll es mittlerweile an die 200 Findelkinder geben. Wie kommen Mutter und Kind später mit dieser Anonymität klar?

Swientek: Ich habe europaweit die einzige große Forschungsarbeit gemacht über Frauen, die ihre Kinder zur Adoption freigegeben haben, ganz regulär, nicht anonym. Und selbst die hatten damit lebenslang große Schwierigkeiten. Einige sagten auf dem Sterbebett: Ein Foto von meinem Kind, dann kann ich in Ruhe sterben! Erst recht leiden die Mütter, die ihr Kind anonym abgegeben haben. Sie finden überhaupt keinen Zugang mehr zu ihren Kindern. Deshalb sage ich: Was tut ihr den Müttern an! Im Moment wird den Frauen geholfen, sie sind erleichtert. Und später kommt das Erwachen: Was hab ich da getan! Dann werden sie entweder aktiv und wollen das Kind zurück – was nicht mehr geht – , oder sie werden depressiv, machen Selbstmordversuche.

Gabriele Stangl: „Wenn wir eine bessere Lösung finden, mach ich den Kasten zu“

Sind Sie denn prinzipiell gegen Adoptionen?

Swientek: Nein. Aber ein Kind soll seine Identität behalten. Deshalb machen wir in den letzten Jahren immer mehr halb offene oder offene Adoptionen. Das heißt: Die Mutter kann ihr Kind woanders gut versorgen lassen, aber sie behält einen Zugang, je nachdem, was sie abspricht mit den Adoptiveltern. Sie tauschen Fotos aus, sie schreiben Briefe. Die Mutter weiß, wie’s dem Kind geht, und das Kind weiß, ich bin adoptiert, meine Mama lebt woanders, und wenn ich größer bin, darf ich sie kennen lernen. Die Mutter darf auch die Adoptiveltern mit aussuchen. Dadurch hat sie das Gefühl: Ich hab verantwortlich für mein Kind entschieden, ich hab Eltern für mein Kind ausgesucht, die ich mochte. Sie hat dem Kind noch etwas mitgegeben.

Stangl: Etwa ein Drittel der Frauen, die ihr Kind in die Klappe gelegt haben, melden sich bei uns wieder. Dann spreche ich mit ihnen über eine offizielle Adoption. Und sie sind oft erstaunt, wie leicht das geht. Auch bei den Frauen, die anonym entbunden haben, spreche ich das an. Und meine Erfahrung ist: Wenn sie das erste Mal über ihre Probleme reden konnten, dann schaut die Situation ganz anders aus. Aber sie sind nur deswegen zu uns gekommen, weil sie wussten, sie dürfen hier anonym entbinden!

Swientek: Sie sagen, von 40 anonym Gebärenden blieb nur eine auf Dauer anonym – ich habe ganz andere Zahlen aus verschiedenen Städten. Und wenn ich höre, dass in einer Stadt ein alter Priester Frauen berät über anonyme Geburt, wird mir schlecht.

Stangl: Frau Swientek, wenn mich Leute anrufen, die gern eine Babyklappe eröffnen wollen, dann frag ich: Habt ihr Leute, die Tag und Nacht für die Beratung dastehen? Nur eine Babyklappe zu haben, um eine Babyklappe zu haben, reicht einfach nicht! Wir haben dazugelernt, und ich bin auch durch die Konfrontation mit Gegnern um einiges gescheiter geworden.

Swientek: Aber Sie bauen Ihre Babyklappe nicht ab, diesen grünen Kasten da.

Stangl: Nein, die bau ich nicht ab.

Swientek: Aber Babyklappen können auch missbraucht werden. Wir haben mittlerweile mehrere Fälle, wo rauskam, dass Väter das Kind gegen den Willen der Mutter reingelegt haben. Da ist ein unbeobachtetes Behältnis, da kann ich jedes ungewünschte Kind reintun. Und es werden schwerbehinderte Kinder entsorgt. Es geht auch um das Prinzip Verantwortung. Eltern müssen Verantwortung tragen. Und wir machen es ihnen leicht, etwas zu entsorgen, was sie nicht wollen.

Christine Swientek: „Frauen, die ihr Baby anonym abgeben, leiden lebenslang. Sie finden keinen Zugang mehr zu ihrem Kind“

Adoptionsberatungsstellen berichten, dass immer mehr Mütter ihr Kind anonym zur Adoption geben wollen. Es scheint normal zu werden. Frau Stangl, Sie machen Führungen mit Schulklassen – befördern Sie das damit nicht noch?

Stangl: Nein, ich lege den Jugendlichen ganz doll ans Herz: Ein Kind ist eine Verantwortung, ich kann mich nicht einfach davonmachen. Und ich erzähle ihnen nicht nur von der Babyklappe, sondern auch von den ganzen Beratungsangeboten,
zum Beispiel von pro familia.

Swientek: Aber die Babyklappe ist der einfachste Weg.

Stangl: Aber den nehmen sie nicht, nein!

Swientek: Aber dann lassen Sie die Klappe doch weg!

Stangl: Nein, sie muss bleiben, als Zeichen: Wir helfen dir, auch wenn die Lage für dich im Moment unmöglich ausschaut.

Swientek: Wissen Sie, wenn wir Lösungen finden wollen für diesen Personenkreis, dann müssen wir die Probleme kennen und analysieren. Als Wissenschaftlerin komme ich an die Fälle oft nicht heran, weil die Anbieter von Klappen und anonymer Geburt mauern, noch nicht mal Zahlen nennen. Nur wenn wir Problemkonstellationen kennen, können wir eine gute Lösung finden. Und eine gute Lösung ist nur eine, bei der keiner ein Leben lang leidet.

Stangl: Dann müssten wir uns an einen Tisch setzen und ein Konzept erarbeiten, mit dem wir alle – wenn auch nicht hundertprozentig – zufrieden sind.

Swientek: Und danach schließen Sie Ihren grünen Kasten!

Stangl: Wenn wir eine bessere Lösung gefunden haben, bin ich die Erste, die den Kasten zumacht. Ich weiß, dass die Babyklappe nicht das Gelbe vom Ei ist.

Swientek: Es gibt inzwischen eine ganze Reihe Städte wie zum Beispiel Bonn und Rüsselsheim, die haben jetzt Verbundsysteme zur Beratung von Frauen eingerichtet . . .

Stangl: Wunderbar!

Swientek: . . . ganz bewusst ohne Klappe. Aber, Frau Stangl, Sie müssen auch akzeptieren können, was ich als Kriminologin sage: Es wird mit oder ohne Babyklappe und anonyme Geburt trotzdem immer noch Kindstötungen geben.

Stangl: Wir werden nicht jeden erreichen. Dieser Illusion hab ich mich nie hingegeben.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Flugzeug aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.