Joerg Glaescher
Einer für alle, alle für einen
Eigentlich wollte Lutz-Michael Sylvester in die Stadt. Dann blieb er doch in seiner Landgemeinde in Anhalt bei seinen 80 Ehrenamtlern. Porträt eines Pfarrers, der für 21 Dörfer und neun Kirchen zuständig ist.
19.03.2013

Er wollte weg von den Weizenfeldern, dem Zuckermais und der Stille seines Pfarrbüros. Er hatte das Gefühl, den 21 Dörfern, die er im Osten betreut, nicht gerecht zu werden. Er fühlte sich kaum noch als Seelsorger. Mehr als Manager, als Schreibtischtier, versunken in Bauanträgen und Spendenanfragen. Lutz-Michael Sylvester wollte seine Stelle als Dorfpfarrer aufgeben. Stadtluft schnuppern.

Schnell sprach sich rum, dass der Pfarrer überlege zu gehen. Zu seiner Überraschung machte ihm keiner einen Vorwurf. Niemand bat ihn, bei den Feldern, den Kühen und seinen Schäfchen zu bleiben. Als die Zusage aus der Stadt kam, überschlief Sylvester seine Entscheidung eine Nacht lang. Und blieb.

Um zu begreifen, warum Sylvester die Christophorus-Gemeinde Quellendorf in Anhalt nicht verlassen hat, muss man verstehen, was er verloren hätte, wenn er gegangen wäre. In seinen vierzehn Jahren als Dorfpfarrer hat sich Sylvester ein Netz von achtzig Ehrenamtlern aufgebaut, die sich mit ihm um die Gemeinde kümmern. Landesweit kommen auf einen Pfarrer nur fünf. Seine Helfer schließen die Kirchen auf, putzen, stellen Blumen auf den Altar, besuchen alte Menschen, bereiten Gottesdienste vor, leiten den Chor oder verwalten die Friedhöfe. Unmöglich, sie im Stich zu lassen. Mit ihnen zusammen will er die neun Kirchen in den 21 Dörfern am Leben erhalten.

Als Sylvester, der heute 43 Jahre alt ist, seine erste richtige Stelle als Pfarrer in Quellendorf antritt, ist er 28 Jahre, hat zwei kleine Kinder, eine Frau und den Traum vom ruhigen Landleben. Stattdessen stößt er auf ein Pfarrhaus mit klatschnassen Wänden, auf marode Kirchen und eine Menge Papierkram. Er renoviert vier Jahre lang das Pfarrhaus, sammelt Spenden, trommelt Ehrenamtliche zusammen, verteilt Aufgaben, wächst in seine Rolle als Gemeindemanager hinein. Ihm bleibt gar nichts anderes übrig. Sylvester hat eine ganze Stelle, seine Frau Ivonne Sylvester ar­beitet zu 25 Prozent in der Jugendarbeit. Das macht 1,25 kirchliche Hauptamtliche für 21 Dörfer in neun Gemeinden, mit neun Kirchen und fünf Friedhöfen.

"Besuchsdienst ist Zuhördienst", sagt die um­triebige Helga Härtling

Zu den Ehrenamtlichen gehört Helga Härtling, 62 Jahre alt. Sie und 13 andere helfen bei der Seelsorge in diesem Gemeindeteil, besuchen ältere Gemeindemitglieder zum Geburtstag. Mal wird es ein heiterer Kaffeeklatsch, mal braucht jemand Trost, der gerade einen Angehörigen verloren hat.

"Besuchsdienst ist Zuhördienst", sagt Härtling. "Die Kinder sind meistens weggezogen und mit den Nachbarn reden die Leute nicht so persönlich." Wo jeder jeden kennt, ist man vorsichtig. Für viele ist der Besuch des Gottesdienstes zu anstrengend, weil die Knochen, die Blase oder das Herz nicht mehr so richtig wollen. Trotzdem sollen sie spüren, dass sie zur Gemeinde dazugehören.

 

 Helga Härtling beim Besuch der Familie Ewald, im Gespräch mit Frieda Ewald

"Huhu", ruft Härtling und betritt die Wohnung von Frieda Ewald, die heute 77 Jahre alt wird. "Alles Gute!", sagt sie und umarmt die Jubilarin. Auf dem kahlen Kopf von Herbert Ewald klebt ein faustgroßes Pflaster. Härtling dreht sich zu seiner ­Gattin, stemmt die Arme in die Hüften. "Nach so vielen Ehejahren werfen sie noch die Pfanne, Frau Ewald?" Sie lachen beherzt. Auf dem Tisch stehen Schnittchen mit Eiern von den eigenen "Hinnern", extra für Frau Härtling. Das Telefon klingelt: "Wie jet’s disch?", fragt ein Freund. "Nich verzweifeln!", antwortet Frieda Ewald. "Quatsch nich so viel, wir ham doch kene Zeit", mischt Ewald sich ein. "Die Kirche is da!" Härtling fragt nach dem Befinden, nach den Enkeln. Nach einer Stunde und zwei Gläschen Sekt verabschiedet sie sich. Härtling ist christlich aufgewachsen und verlor nach der Wende ihre Arbeit als Verkäuferin. In der Gemeinde fühlt sie sich gebraucht und nützlich.

Als der Pfarrer sein Outsourcing-Prinzip vorschlug, waren nicht alle Dorfbewohner gleich überzeugt: Gemeindemitglieder sollen den Besuchsdienst übernehmen? Das muss doch der Pfarrer machen! Sylvester erklärte, dass es nicht fair sei, wenn die Glückwünsche der Kirche wegen seines Zeitproblems ausfielen. Der Besuchsdienst im Dorf setzte sich durch.

"Sie sind doch hier die gute Seele", sagt der Architekt zum Küster.

Sylvester zieht vor dem Pfarrbüro ein letztes Mal an seiner ­Zigarette. Gestern hat der Architekt angerufen, der den Kirchturm der Christophoruskirche restaurieren wird. Er ist bereits mit Egon Höhne, dem ehrenamtlichen Küster und Besuchsdienstler, auf dem Dachstuhl. Höhne klettert sicher und flink mit den Architekten durch den Turm, erklärt, was wie erneuert werden soll. Die Fenster des Turmes sind eingeschlagen, Balken des Dachstuhls von Holzwürmern durchlöchert, die Steine bröselig. ­Höhnes Wangen sind rot, die kleinen Augen strahlend blau und wach. Man sieht ihm seine 73 Jahre kaum an. Am Ende wendet sich der Architekt an Höhne. "Sie sind doch hier die gute Seele, krieg ich bei Ihnen den Schlüssel?" – "Ja, aber sicher", sagt Höhne. Der Architekt notiert sich die Telefonnummer mit einem Kugelschreiber auf seiner Zigarettenschachtel. An der Kirchentür trennen sich ihre Wege. Sylvester hat sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, eineinhalb Jahre hatte er Spenden gesammelt, organisiert. Jetzt ist er froh, wenn Höhne das Gespräch übernimmt.

"Ich hab so viele Baustellen, manchmal würde ich am liebsten die Augen schließen", sagt Sylvester und steigt in seinen weißen Bulli. Alle zwei Monate verlässt er für drei Tage seinen Schreibtisch und fährt den "Kirchenboten", das Gemeindeblatt, in die Dörfer. Er übergibt sie seinen Ehrenamtlichen, die sie an die Haushalte verteilen. Nebenbei erfährt er, in welchem der 21 Dörfer es welche Probleme gibt.

 

 Auf der Landstraße unterwegs, beim Ausliefern des Kirchenboten

Bereits nach ein paar Metern tritt Sylvester auf die Bremse. Auf dem Friedhof baumelt ein umgeknickter Ast, schlaff wie ein gelähmter Arm, senkrecht über dem Grabweg.

"Oh ne", sagt Sylvester. "Das hat mir gerade noch gefehlt." Er steigt aus, stapft mit seinen braunen Trekkingschuhen durch den Matsch, reckt den Hals zum Himmel, guckt sich den Ast an. "Darum kümmere ich mich morgen." Oft, so kommt es ihm vor, bleibt seine eigentliche Arbeit liegen, weil Verwaltungskram dazwischenkommt. Er fährt weiter durch weite Weizen- und Windmühlenfelder. An seinem Rückspiegel baumelt ein Holzkreuz im Rhythmus der Pflastersteinstraße. Wohin das Auge auch schaut, ragt ein Kirchturm aus den Dörfern, die wie Farbkleckse in der Landschaft verstreut liegen. Immer wieder sammelt Sylvester Spenden und restauriert die Kirchen. In der Gemeinde nennt man ihn den "Baupfarrer".

"Wenn ich es nicht mache, wer macht es dann?", fragt Doris Hänsch

Viele Häuser auf dem Land stehen leer. Die jungen Menschen wandern ab in die Stadt. Außer in zwei Landschafts- und ein paar Handwerksbetrieben gibt es kaum Arbeit. Der Landarzt zog fort, die zwei Supermärkte und das Schwimmbad mussten schließen. "Die Menschen spüren, dass hier so viel wegbricht. Ich will, dass Leben im Dorf bleibt." Deswegen leitet er persönlich fünf Frauenkreise, einen Männerkreis, singt im Jugendchor mit, spielt Gitarre in der Kirchenband, bietet ein Musik-Feriencamp an und kocht und predigt mit der jungen Gemeinde. Das ­alles hat er gemeinsam mit seiner Frau ins Leben gerufen, daran hängt sein Herz.

Sylvester hält in Libbesdorf, 200 Einwohner, 50 "Kirchenboten". Die Häuser stehen dicht gedrängt. Kein Mensch ist auf der Straße. Es ist totenstill. Sylvester klingelt bei Doris Hänsch. Sie bittet ihn ins Wohnzimmer. Hänsch ist ehrenamtliche Küsterin und Friedhofsverwalterin. Es gibt Tage, da fühlt sie sich mit ihren 72 Jahren zu alt, um sich mit neuen Heizkörpern, Friedhofsgebühren oder Grabräumungen zu befassen. "Aber wenn ich es nicht mache, wer macht es dann?", fragt Hänsch. Sie engagiert sich unentgeltlich in der Gemeinde, wie früher ihr Vater. Aber manchmal hat sie das Gefühl, dass sich der Rest des Dorfes zurückzieht. Die Hänsch wird’s schon machen. Der Pfarrer nickt. Er weiß, dass sie ihre Aufgaben abgeben möchte. Eigentlich gab es auch schon eine Nachfolgerin. Aber die ist in die Stadt gezogen.

 

 Eine Stütze der ehrenamtlichen Gemeindearbeit, Doris Hensch

Nach drei Besuchen hinkt Sylvester bereits seinem Zeitplan hinterher. Je später er bei seinen Helfern eintrifft, desto schneller windet er sich los. Sylvester würde gerne gemütlich Kaffee trinken, aber am Abend tagt der theologische Ausschuss des Landesparlamentes, um 18.30 Uhr muss er in Dessau-Roßlau sein. Einen Stopp will er unbedingt noch schaffen. Er hat ihn schon beim letzten Mal verschoben. Eine Frau hat ihr Kind verloren, einer seiner Helfer riet ihm, sie zu besuchen. "Die Beerdigung war weltlich, von alleine hätte ich nie davon erfahren", sagt Sylvester.

Maria Nova* begrüßt den Pfarrer. Während sie Kaffee aufbrüht, tauscht sie die Tagestischdecke gegen die weiße Spitzendecke und stellt ein feines Rosenporzellanservice darauf. Sie setzt sich, richtet ihren Blick auf den Boden. Wie es ihr gehe, fragt Sylvester. Wie solle es ihr schon gehen?, sagt sie. Er glaube, es sei sehr schwer für sie, mit dem Tod ihres Kindes fertigzuwerden. Tränen schießen in Maria Novas Augen. Sie müsse immer stark sein, sagt sie. Eineinhalb Stunden bleibt der Pfarrer, legt seine Hand tröstend auf die Schulter von Frau Nova, spricht gemeinsam mit ihr das Vaterunser. Am Ende des Gesprächs wirkt Nova tatsächlich gelöst.

Der Pfarrer steigt wieder in seinen Bulli, fährt durch die Felder zurück in sein Dorf. "Ich hätte gerne mehr Zeit für Seelsorge", sagt Sylvester. "Aber es ist auch eine Chance, dass die Ehrenamtlichen so viel Arbeit übernehmen. Die Gemeinde wächst so enger zusammen."

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Hallo,
ja, stellt Euch vor, es "ist Gemeinde" und niemand geht hin?!
Herrlich, eine Gemeinde, die lebt. Zwar sind die Umstände schwierig, aber was ist eine Gemeinde, die nur auf den Pfarrer wartet? Was nützt es, wenn sich die "Gemeindemitglieder " beschwehren, die Gemeinde hätte keine Mitglieder mehr, weil sich keiner "auf den Weg" macht.
Und hier sehen wir ein gar seltenes Exemplar der Gattung "Gemeinde". Davon kommen nur noch wenige Exemplare in freier Wildbahn vor.
So kommt es mir manchmal vor.
Aber in der Gemeinde in Ihrem Artikel - da lebts noch!! "Gott sei Dank!"
Gruß
Karin Eberle

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Das Schöne an einer Gemeinde ist, dass man Gemeinschaft genießen kann, ohne irgendwelche nennenswerten Begabungen haben zu müssen:man muss nicht super sportlich sein, nicht überirdisch singen können, keine Instrumente perfekt beherrschen, nicht über einen prallen Geldbeutel verfügen. Man kann auch als Senior oder als eingeschränkter Mensch ein Plätzchen ausfüllen.
Aber nicht jeder Mensch hat heute die Zeit, sich sich ehrenamtlich zu betätigen. Aber vielleicht finden ja auch noch einige andere Pfarrer den richtigen Weg zu ihren Gemeindemitgliedern, wie das Herrn Sylvester augenscheinlich gelungen ist. Mir würden in meiner Gemeinde auch eine Menge Menschen einfallen, die vielleicht einfach nur gefragt werden wollen!!! Besser als in der Kneipe zu sitzen ist das doch allemal! Und vielleicht bekommen sie dann auch mal ein "Dankeschön" zu hören!
Oder werden zum Neujahrsempfang eingeladen!
Manchmal will man einfach nur gebraucht werden!
Und aus "Kotzbrocken" werden vielleicht irgendwann richtig "nette Menschen", die nun ihr Plätzchen in der Gemeinde gefunden haben!!!
Vergelt´s Gott!

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