Ulrike Frömel
Die Kinder sind tot
Die Familie war auf der Rückfahrt vom Urlaub, als der Laster in ihr Auto raste. Otilia M. hat als Einzige überlebt, schwer verletzt. Vom Leben danach
Tim Wegner
17.09.2013

Still und aufgeräumt ist die Dreizimmerwohnung von Otilia M. Hier lebte mal ihre Familie. Auf den Betten im Kinderzimmer sitzen noch die Lieblingsstofftiere. Manchmal schläft die 37-Jährige lieber hier als im eigenen Bett.

"Wir waren auf der Rückfahrt von unserem Portugalurlaub. Am Abend hatten wir Südfrankreich erreicht, es wurde langsam dunkel. Da kam ein Lkw auf der Gegenspur von seiner Fahrbahnhälfte ab und fuhr ­frontal in unser Auto rein. Er hat uns mitgeschleift, dann ist er auf uns draufgefallen.

Als ich im Krankenhaus aufwachte, dachte ich: Ich war doch eben noch im Auto. Wo ist mein Mann? Er hätte mich doch nicht hier alleingelassen! Nach drei Tagen hat mein Schwiegervater es mir gesagt. Es ist aber nicht angekommen. Drei Monate habe ich gar nicht weinen können. Ich war einfach nur taub. Manchmal dachte ich, dass vielleicht doch ein Kind am Leben ist, und sie sagen es mir nur nicht, weil es so schwer verletzt ist. Aber sie sind alle tot: mein Mann Paulo, er war 37; meine Tochter Sarah, sie war 8; mein Sohn Daniel, er war 13.  Jetzt gehe ich vom Wintergarten durchs Wohnzimmer bis ins Bad. Vor und zurück. Alles leer.

Die Psychologen im Krankenhaus fragten immer: ‚Haben Sie Suizidgedanken?‘ Nein, sagte ich. Das wollte ich meinen Eltern und meinen Schwestern nicht antun, noch einen Verlust. Aber dableiben wollte ich auch nicht. Für wen und für was? Wie oft schaue ich mir die Fotos von meinen Kindern und meinem Mann an und frage: Warum habt ihr mich nicht mitgenommen? Die Rettungs­leute brauchten anderthalb Stunden, um das Auto aufzuschneiden."

Sie legt einen Zeitungsausschnitt auf den Tisch, darauf ein Foto der Unfallstelle vom 26. August 2010: Nachthimmel, Scheinwerfer auf den Lkw und das zerquetschte Familienauto, Feuerwehrleute arbeiten daran, am Bildrand eine weiße Plane, darunter die Toten.

"Sarah war so wissbegierig. Wenn ich mit meiner Freundin Kaffee getrunken habe, saß sie daneben und wollte alles mitkriegen. Sie hat so gern gegessen! Und tanzen konnte sie! Wo sie war, war es nie langweilig. Sie hat immer viel zu erzählen gehabt. Das vermisse ich so sehr.

Dani war eher zurückhaltend, sehr sen­sibel. Und vertrauenswürdig. Wenn ich fürs Falschparken einen Strafzettel bekam und sagte: ‚Erzähl das bloß nicht dem Papa!‘, hat er das für sich behalten. Er war immer besorgt, auch um seine Großeltern, er hat oft für sie gebetet. Und er war ein großer Fußballspieler.

Auf der Rückfahrt aus dem Urlaub ist der Unfall passiert durch den Otilia ihren Mann und ihre Kinder verloren hat

Wir hatten so ein Ritual. Ich fragte: ‚Hab ich heute schon was gesagt?‘ Beide: ‚Nein.‘ Sie haben genau gewusst, was jetzt kommt: ‚Mama hat euch so lieb!‘ Dann haben sie gegrinst bis zu den Ohren.

Mein Mann war meine erste große Liebe, ich war 16, als ich ihn kennenlernte. Er war sehr zuverlässig, das liebte ich an ihm. Auch ein bisschen stur und bestimmend, er konnte seine Gefühle nicht ganz so zeigen, aber ich wusste, er liebt mich über alles.

Ich war nicht bei der Beerdigung, ich lag im Krankenhaus. Meine Verwandten haben sie in Portugal beerdigt, bei meinen Eltern. Sie wussten ja nicht, ob ich überleben werde. Es wäre schön, sie hätten ihre Gräber hier, bei mir. Aber ich weiß auch, dass es nicht dort ist, wo ich sie finde. Ich bete oft, dann habe ich das Gefühl, sie sind bei mir."

Otilia M. zeigt das Foto der drei weißen Grabsteine. Sie hat jedem ihrer Liebsten noch eine Botschaft mitgegeben. Zum Beispiel Daniel: „Mein lieber Sohn, der Tod bricht unsere Liebe nicht, er wird uns ­niemals trennen können. Ich danke dir.“

"Die ersten Monate haben meine Eltern bei mir gewohnt, damit ich nicht allein in der leeren Wohnung bin. Auch meine Freunde und Freundinnen haben mich einfach nicht aufgegeben. Ich kann mit ihnen ins Kino gehen oder zum Essen, aber sie haben auch ein offenes Ohr, wenn ich sofort über meine Kinder oder meinen Mann sprechen möchte. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.

Ich hatte Angst, dass ich zur Außensei­terin werde, weil ich so viel verloren habe, weil ich nicht mehr so bin wie die anderen. Manchmal, auf der Straße im Stadtteil, tun Leute so, als sähen sie mich nicht. Vor allem am Anfang war das so. Wahrscheinlich wissen sie nicht, was sie sagen sollen. Es ist ja auch schwierig, ich bin empfindlich und kompliziert geworden. Wie habe ich in der ersten Zeit diese Frage gehasst: ‚Wie geht es dir?‘ Wie soll es mir schon gehen, ich habe meine ganze Familie verloren! ‚Was machst du gerade?‘ – das ist leichter zu beantworten.

Einmal hat jemand gesagt: ‚Du kannst doch ein Kind adoptieren.‘ Als sei der Hase gestorben und du kaufst dir eben einen ­neuen. Heute verstehe ich, dass die Leute es nicht böse meinen. Sie sind überfordert. Sie wollen dich aufmuntern und treffen nicht den richtigen Ton. Oder es ist der falsche Zeitpunkt. So wie meine Schwester, die meinte, ich solle doch die Wohnung verkaufen und zu ihr in die Nähe ziehen. Für mich wäre es noch ein Tod gewesen, meine gewohnte Umgebung zu verlieren.

Wenn ich wenigstens noch arbeiten könnte! Ohne Arbeit ist der Tag extrem lang und langweilig. Keinen Tag in meinem Leben bin ich arbeitslos gewesen. Ich war Endkontroll­prüferin für Kolbenringe in einer Metallfirma, fast eine ganze Stelle. Die Arbeit, die Kolleginnen, das hat mich erfüllt. Jetzt bin ich schwerbehindert."

Die Gutachter haben Otilia M. eine Behinderung von 100 Grad bescheinigt. Knie, Sprunggelenke, Hüfte – alles war zertrümmert. Das linke Bein ist steif, das rechte kann sie nur wenig biegen. Sie kann nur kurz stehen, aber wenn sie sitzt, schlafen ihr die Beine ein. Dazu immer Schmerzen.

"Ich bin froh, dass ich keine Bilder vom Unfall im Kopf habe. Dass meine letzte Er­innerung die ist, wie Dani und Sarah am Abend ihre Kissen an die Fensterscheiben unseres Autos gedrückt haben, um einzuschlafen.

Auf dem Sofa - Erinnerungen an die Kinder, Sarahs Hase und der Bär von ihrem Sohn Dani

Im Februar war der Prozess gegen den Lkw-Fahrer, in Frankreich. Wahrscheinlich war er am Steuer eingeschlafen. Er hat drei Monate auf Bewährung bekommen. Am Tag nach der Gerichtsverhandlung habe ich mir unser Auto auf dem Schrottplatz angeschaut. Ich musste das einfach sehen. Hatten die Kinder auf der Rückbank wirklich keine Chance? Ich war schockiert: ein Trümmerhaufen. Aber ich habe die Kappen gefunden, die die Kinder getragen haben, blau und pink, und die Kissen, die sie hinten im Auto hatten. Das hat mich auch wieder gefreut.

Ich bin erstaunt, dass ich das alles schaffe. Ich habe gar nicht gewusst, dass ich so stark bin. Dass ich allein stehen kann im Leben."

Sie hat die Wohnung verändert. Das Kinderzimmer ist jetzt ihr Büro. Wenn sie am Schreibtisch sitzt, hat sie vor sich auf der Fensterbank Sarahs Babypuppen und Danis Fußball. Viele andere Spielsachen und vor allem Kleidung hat sie der Caritas gegeben. Es tat zu weh, einen Schrank aufzumachen und darin sah es aus wie immer.

"Nur die Schultaschen habe ich lange behalten. Aber dann dachte ich: Die Tasche soll doch wieder in die Schule gehen und ein Kind glücklich machen! Das Fahrrad von Daniel gab ich seinem besten Freund. Der war so glücklich über das Erinnerungsstück, dass er das Rad erst einmal ins Wohnzimmer gestellt hat.

Manchmal gehe ich wieder einen Schritt zurück. Dann ist nur Leere in mir und Verzweiflung, und ich ziehe mir den ganzen Tag die Decke über den Kopf. Wenn mein Leben bloß schon vorbei wäre! Aber meine Therapeutin findet, dass ich mit Siebenmeilen­stiefeln vorangehe."

Kürzlich ist Otilia M. sogar in die Schule ihrer Kinder gegangen, um sich endlich – zweieinhalb Jahre nach dem Unfall – zu bedanken für die Erinnerungsseite im ­Internet. Das Kindergeschrei tat ihr gut, diese Unruhe. Nun übt sie einmal die Woche mit einem Erstklässler Lesen und Schreiben, dann fühlt sie sich gebraucht.

"Nach der ersten Stunde dachte ich: Jetzt nehme ich mir so viel Zeit und Geduld für ein Kind, und wie war es mit deinen eigenen Kindern? Habe ich nicht manchmal, wenn ich müde von der Arbeit war, zu Sarah gesagt: Ach, Sarah, kannst du nicht mal ein bisschen ruhig sein? Aber meine Freundin sagte: ‚Tila, weißt du was: Das ist das Leben. Das ist doch ganz normal, dass du manchmal keine Geduld gehabt hast.‘

Ich habe mir ja auch Zeit für meine Kinder genommen. Ich hockte mit meinem Sohn Stunden am Computer, um Referate zu­sammenzustellen – über Portugal oder über Krokodile. Ich habe sogar Englischvokabeln abgefragt, obwohl ich gar kein Englisch kann. Was in meiner Macht lag, habe ich ihnen gegeben, meinem Mann und meinen Kindern. Daraus ziehe ich Kraft."

Otilia und Jürgen haben sich in einer Selbsthilfegruppe für trauernde Familienangehörige kennengelernt

Und dann passiert, was sie nie für möglich gehalten hätte: In der Selbsthilfegruppe für trauernde Väter und Mütter hat Otilia M. einen Mann kennengelernt, der durch einen Unfall seine Frau und seine Tochter verloren hat.

"Wir waren uns auf Anhieb sympathisch, aber keiner von uns hat an eine Beziehung gedacht, keiner, wir waren doch beide fix und fertig. Irgendwann sind wir uns näher­gekommen. Jürgen ist ein sehr warmherziger Mensch. Er hat mir zum Abschied nur ein Bussi gegeben, aber ich war total durch den Wind. Ich dachte: Das darf ich doch noch gar nicht, der Unfall ist doch erst so kurz her! Aber wann ist die richtige Zeit? Dass Dani mit 13 stirbt und Sarah mit 8 – war das die richtige Zeit? Jetzt sage ich: Es tut mir gut. Ich darf das zulassen, jemanden in mein Leben reinzu­lassen, diesen besonderen Menschen."

Jürgen G. ist 52, Brandhauptmeister bei der Flugplatzfeuerwehr, er arbeitet in 24-Stunden-Schichten, heute hat er frei. Er nennt Otilia M. wie alle „Tila“, so soll sie jetzt auch hier heißen. Müde sieht er aus.

Tila: "Jürgen geht es heute nicht so gut. Es ist eben nicht vorbei nach zwei oder drei oder fünf Jahren. Manchmal ist es ein bisschen leichter, und dann brettert es einen wieder nieder."

Sie war gerade wieder zwei Monate in der Depression versunken. Zu viel war zusammengekommen: Tochter Sarah hatte Geburtstag; der Rechtsanwalt, der sie gegenüber der Versicherung des Lkw-Fahrers vertritt, wollte allerlei Nachweise über den bisherigen Lebensstandard; Existenzängs­te kamen hoch . . .

Tila: "Das brettert einen dann nieder, ohne Vorwarnung, wie eine Welle."

Jürgen: "Überfallartig. Gestern Abend habe ich am Computer sechs Stunden lang am Schichtplan meiner Abteilung rumgebastelt, hochkonzentriert mit meinen Formeln, dann schau ich aus dem Fenster, und in dem Moment ist es in mich gefahren, dass ich dachte, ich fall vom Stuhl: Die Nathalie ist tot! Die Martina ist tot! Ich habe es ja immer noch nicht kapiert, dass die nicht mehr kommen, ich denke, die sind auf Urlaub – aber in dem Moment weiß ich es."

Tila: "Wenn es dir zu viel ist, hörst du auf, ja?"

Jürgen: "Passt schon."

Seine Frau Martina starb mit 45, seine jüngere Tochter Nathalie mit 17. Die beiden waren am Morgen des 17. Januar 2011 losgefahren zu Arbeit und Ausbildungsstelle. Wenige Minuten von zu Hause entfernt geriet ihr Auto auf die Gegenfahrbahn, vielleicht wegen einer vereisten Stelle; ein entgegenkommendes Fahrzeug fuhr ihnen frontal in die Seite; sie waren sofort tot, Genickbruch. Jürgen ruft sich immer wieder die letzte Stunde in Erinnerung, die letzten gemeinsamen Minuten. Es sei wie ein Zwang.

Jürgen: "Ich kam in der Früh nach Hause von der Schichtarbeit. Wir redeten dann immer noch ein bisschen. Meine Frau sagte: ‚Ich bin gestern Abend noch lang beim Bruno gehockt, dem ging’s gar nicht gut.‘ Bruno war unser Wellensittich. ‚Ich hab ihm noch Rotlicht angemacht und Vogel­gezwitscher in die Stereoanlage, aber heute früh ist er gestorben.‘ Unser Bruno, hab ich gesagt, der wird mir abgehen, der Kerle! Dann sind wir zur Garderobe, haben noch Besorgungen besprochen, die Woche drauf wollten wir ja eine Kreuzfahrt machen, dann kam Nathalie von oben runter, ein bisschen knatschig, weil wir den Bruno nicht zum Tierarzt gebracht haben, wir gingen vors Haus, sie ­fuhren los, ich fütterte die beiden Zwerg­hasen meiner Töchter, dann ging schon die Sirene los. Minuten vorher waren wir noch eine Familie. Ich begreif es nicht."

Jürgen reibt sich übers Gesicht. Auch er nimmt Antidepressiva, er geht zu einer Therapeutin und in die Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern. Sie haben da ein Ritual: Am Anfang stellt jeder eine Kerze auf. „Ich stelle diese Kerze auf für meine Martina. Martina, dein Name bleibt.“ Alle sagen: „Martina, dein Name bleibt.“ Er war der einzige, der zwei Kerzen aufstellen musste. Wie ein Aussätziger sei er sich vorgekommen: Um Gottes willen, der hat gleich zwei! Und dann kam Tila in die Gruppe und stellte drei Kerzen auf.

Otilia kommt oft in dir Kirche und zündet Kerzen für jeden Verstorbenen an

Jürgen: "Es war wichtig für mich zu ­sehen, dass auch sie für ihre Familie gelebt hat, dass alles ganz normal war. Ich hatte vorher immer überlegt, ob es eine Strafe ist – hab ich zu viel geplant, hatte ich zu viele Ziele? Ich war immer sehr darauf bedacht, dass alles in Ordnung ist, dass meine Kinder gut durchs Leben kommen. Aber vielleicht hat es gar nichts mit mir zu tun? Die Psychologin von der Diözese sagte: ‚Es gibt keinen strafenden Gott, nur einen liebenden Gott.‘ Ich hab trotzdem Wutanfälle gehabt. Ich glaube jetzt mehr an uns, an uns Menschen."

Tila: "Ich habe immer an etwas geglaubt, das uns hilft, wenn wir beten. Aber als das passiert ist, habe ich gedacht: Wieso passiert das mir? Wo waren die Schutzengel? Gerade Kinder haben doch einen Schutzengel, das sagt man doch, oder? Ich habe es als Strafe gesehen. Aber die Ärztin in der Klinik sagte zu mir: ‚Sie sind nicht bestraft worden, das ist eine Prüfung, die Sie aufgekriegt haben.‘"

Jürgen: "Und warum kriegen wir die Prüfung?"

Tila: "Ich weiß es nicht, Jürgen."

Jürgen: "Meine Mutter hat den Pfarrer gefragt: Wo war da Gott? Er hat gesagt: Der war doch da! Ich hab mir das so interpretiert: Er war da – wir wissen nur nicht, was das bedeutet; vielleicht war er da und hat Martina und Nathalie aufgenommen, vielleicht hat er ihnen was erspart. Vielleicht ist er nie weg. Vielleicht hilft er mir jetzt, dass ich es überstehe. Oder dass ich Tila getroffen habe. Dass es weitergeht. Dass meine ältere Tochter Nina bald nach dem Unfall ein Baby bekommen hat, damit hatte keiner gerechnet. Ich weiß es nicht. Ich komme auf keinen grünen Zweig bei der Überlegerei."

Manchmal sind sie beide gleichzeitig traurig. Dann weinen sie zusammen. Trost kommt von Treue, sprachgeschichtlich. Und Treue heißt: dableiben.

Tila: "Jürgen findet die richtigen Worte, er baut mich wieder auf. Ich habe das Gefühl, dass ich ihn nicht so gut aufbauen kann."

Jürgen: "Das stimmt nicht. Als ich heute zu Tila gefahren bin, dachte ich: Gestern haben wir uns nicht gesehen, es wird höchste Zeit. Es ist so trostlos alleinig. Meine ältere Tochter ist gerade mit ihrem Baby ausgezogen, sie hat Nathalies Möbel mitgenommen für die Kleine. Jetzt hallt es oben richtig. Ich empfinde wahnsinnig viel für Tila. Und ich gebe so gern. Sie braucht mich. Das tut mir gut. Sonst stolpert man so durchs Leben und fragt sich, warum bin ich eigentlich noch da?"

Tila: "Seit er in mein Leben gekommen ist, geht es mir besser. Die Trauer ist nicht weg, aber ich fühle mich nicht mehr so derart einsam. Es gibt noch jemanden, der auf mich wartet."

Jürgen steht auf, geht um den Tisch und umarmt Tila. Seine engsten Freunde und Freundinnen haben Tila bereits kennengelernt.

Jürgen: "Sie gönnen es mir auch, aber sie sprechen nicht mehr mit mir über Martina und Nathalie. Ich bin ein Jahr lang ganz gut aufgefangen worden. Meine Freunde haben zum Beispiel extra eine Billardrunde für mich ins Leben gerufen, damit ich rauskomme. Aber jetzt . . . Ich würde mir einfach wünschen, dass sie, wenn ich wo eingeladen bin, fragen: Wie geht’s dir gerade? Ist es gerade besser, ist es schlechter?"

Otilia mit Jürgen am Grab seiner Tochter und seiner Frau

Tila: "Sie denken wahrscheinlich, dass du genug getrauert hast."

Jürgen: "Wie wenn’s jetzt rum wäre. Es ist aber noch nicht rum."

Tila: "Die wussten ganz genau, dass die ­Nathalie jetzt Geburtstag gehabt hätte, aber sie rufen nicht an und sagen: Du, ich denk auch dran, an diesen Tag. Sie sagen einfach gar nichts."

Jürgen: "Nur Martinas Freundin und ihr Mann laden mich immer wieder zum Kaffee ein, und dann reden wir stundenlang, immer das Gleiche, zum hundersten Mal. Martinas Freundin hat mich auch ganz offen gefragt: ‚Wie ist das denn, wenn du Tila im Arm hältst – denkst du an Martina?‘ Ich finde das gut, darüber zu reden. Ich sagte ihr: Weißt du, das eine war das alte Leben, und jetzt das mit Tila ist was Neues. Das vermischt sich nicht."

Tila: "Man kann das trennen. Die Liebe zu meinem Mann ist so intensiv wie zuvor. Jürgen wird nie sagen: Du musst deinen Mann und deine Kinder vergessen, jetzt bin ich für dich da. Auch ich würde nie sagen: Vergiss deine Frau, wir fangen was Neues an."

Jürgen: "Wenn Tila bei mir im Haus ist, hilft sie mir ein bisschen beim Saubermachen. Im Wohnzimmer steht eine Lampe, die ich Martina geschenkt habe, weil sie die so toll fand; daneben hängt ganz groß das Bild meiner Frau. Und neulich sehe ich, wie Tila die Lampe abstaubt und dann Martina über die Wange streichelt."

Tila: "Sie gehört dazu! Genau wie meine ­Kinder dazugehören. Wir sind eine große ­Familie. Als wir sonntags mit Jürgens Eltern einen Brunch hatten, haben wir fünf Kerzen auf den Tisch gestellt. Wir zündeten die ­Kerzen an und sagten die Namen unserer ­Verstorbenen. Ich für meine drei, er für seine zwei. Dann haben wir das Vaterunser gebetet. Das war traurig. Und auch wieder schön."

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Liebe Otilia,

ich bewundere deinen Mut, deine Trauer öffentlich zur Verfügung zu stellen für uns alle. Ich wünsche dir von Herzen ein lebenswertes Leben, in dem die Trauer ihren selbstverständlichen Platz hat. Wie es scheint, lebst du, lebt ihr, genau das.

vielen Dank dafür,

Christa Nieselt

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Endlich kome ich zum Schreiben: Ja, natürlich gehört auch Trauer auf die Titelseite von Chrismon.
Wenn ich dann noch "einschaltquotenfördernd" und "Trauer ist ewas Intimes" lese, kann ich richtig wütend werden.

Ich bewundere die junge Frau, denn nach so einem schrecklichen Unfall oder - wie in unserem Fall - nach der Ermordung der Tochter, sind auch die Hinterbliebenen Opfer. Soll man seine Trauer und vielleicht sich dann selbst für den Rest des Lebens verstecken?
In den ersten Wochen wünschte ich mir öfter den Mut zum Selbstmord.
Dann sagte eine Bekannte. Mutig ist es, dass du weiterlebst.
Ich erinnere mich aber auch an Leute, die einen Bogen um mich machten, weil sie mir die Trauer ansahen. All denen, die meinen Schmerz ertrugen, bin ich unendlich dankbar. Mit ihnen konnte ich auch wieder lachen, ohne mich zu fragen, ob ich das überhaupt noch darf.

Liebe Otilia,

Alles was du schreibst kann ich nur unterstreichen.
Auch meine beiden Töchter sind bei einem Unfall gestorben.
Es ist nie vorbei..aber man lernt damit zu leben.
und die Liebe bleibt.
Sandra und Julia Euer Name bleibt und Eure Liebe hüllt mich noch immer ein und beschützt mich.

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