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Soll ein Pfarrer seine Gemeinde über den drohenden Verlust der Heimat hinwegtrösten – oder soll er sie zum Widerstand gegen den Tagebau in der Lausitz aufrufen? Mathias Berndt versucht beides gleichzeitig. Nun halten ihn die einen für untätig und die anderen für zu parteiisch
Tim Wegner
17.06.2013

Seit hundert Jahren steht der Apfelbaum in Pfarrers Garten. Er war kaum gepflanzt, da posierten hier junge Männer fürs Foto, bevor sie 1914 in den Krieg zogen. Später trafen sich in seinem Schatten Gegner der Nazis. Brautleute haben unter seinen Zweigen gefeiert. Und jeden Sommer hat er Äpfel geliefert, drei Sorten, die frühen, die mittleren und die späten. Dann fiel die Ernte kärglicher aus, der Baum wuchs krumm und wurde alt. Aber vor zwei Jahren, da geschah es: Auf einmal trugen die Äste wieder reichlich Früchte. „Ein Zeichen!“, sagt Pfarrer Mathias Berndt. Als wollten sich die Äste auflehnen gegen die traurige Stimmung im Dorf und den Menschen Mut machen: Lasst euch nicht hängen, das Unmögliche ist möglich!

Atterwasch, ein Straßendorf in der Lausitz, südöstlich von Berlin, kurz vor der polnischen Grenze. Die Eiszeit hat hier eine sanfte Hügellandschaft hinterlassen mit Seen, Teichen und Flüssen. Der weitläufige Pfarrgarten mit dem Apfelbaum hängt im Sommer voller Beeren und Blüten und geht über in eine Pferdekoppel. Seit 35 Jahren leben die Berndts hier, sie haben zwei Kinder großgezogen; Pfarrer Berndt ist jetzt 63, noch zwei Jahre bis zur Pensionierung. 

Beim Gottesdienst in der alten Kirche mit den dicken Mauern aus dem 13. Jahrhundert fällt die Sonne durch buntes Glas und zeichnet Mus­ter auf den Linoleumboden. Zwanzig Männer und Frauen, alt, jung, mittelalt, sind gekommen. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Das Bibelzitat ist die Jahreslosung 2013 der evangelischen Kirche. Pfarrer Berndt hat sie ans Stehpult geklebt, passt so gut zur Predigt heute. Berndt spricht über die himmlische Stadt, auf die sich Jesus verlassen hat und aus der er Kraft zog. „Ich kann auch leidvolle Erfahrungen vor mir sehen – und trotzdem auf Gottes Wirken vertrauen“, sagt Berndt.

Geht das: kämpfen und unabhängig bleiben? Kämpfen und zugleich trösten?

Die Menschen in Atterwasch und in den Nachbardörfern Grabko und Kerkwitz wissen, worauf der Pfarrer anspielt. Vor sechs Jahren lag ein Zettel in ihren Briefkästen. Er stammte vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall. Sie erfuhren, dass der Konzern hier einen neuen Braunkohletagebau errichten will. Und dass ihre Dörfer dafür abgebaggert werden sollen: Kerkwitz 2030, Atterwasch 2034, Grabko 2042. 900 Menschen würden umgesiedelt. In der Re­gion wird seit der Kaiserzeit Braunkohle gefördert, viele Dutzend Dörfer sind verschwunden. Atterwasch stand schon zu DDR-Zeiten auf der Liste. Mit der Friedlichen Revolution war die Hoffnung auf alternative Energien da, und 2004, als die Bagger in Horno anrückten, hatten die Politiker noch gesagt: Ist das letzte Dorf, Schluss mit Braunkohle, zu ineffizient, zu schmutzig.

Der Zettel im Briefkasten war ein Schock. Seitdem ist alles bedroht. Lebensperspektiven sind brüchig geworden, Familien fallen auseinander und die Gemeinschaft in den Dörfern geht ver­loren. Damals, 2007, dachte Pfarrer Berndt gleich: Das kann man nicht einfach hinnehmen, da muss man sich wehren. Die Natur! Die Schöpfung! Die Erde ist des Herrn! Doch es wollen nicht alle kämpfen. Von Älteren hört er: „Hat keinen Sinn, die da oben machen eh, was sie wollen, war bei den Nazis so, in der DDR und heute auch.“

Andere, vor allem Jüngere und Zuge­zogene, wollen lieber Haus und Hof verkaufen und mit der Entschädigung von Vattenfall woanders neu anfangen. Und dann gibt es noch die Mitarbeiter des Energie­konzerns. Auch sie leben hier und hängen an ihren Dörfern, sie wollen aber nicht öffentlich gegen die Pläne ihres Arbeitgebers protestieren. Der Pfarrer, den einige jetzt anerkennend-ironisch „Kohle-Berndt“ nennen, hat Verständnis. „Sind alles berechtigte Anliegen“, sagt er. Er will als Seelsorger für alle da sein. Offiziell ist er es auch: „Seelsorger für die vom Braunkohletagebau betroffenen Menschen.“ Aber geht das: kämpfen und unabhängig bleiben? Kämpfen und zugleich trösten?

„Öffentlich sage ich nur das, was ich Vattenfall direkt ins Gesicht sagen würde.“

Pfarrer Berndt kommt aus Ostberlin, am Ende seiner Ausbildung sagte ihm ein älterer Kollege: „Als Pfarrer in der DDR stehste immer mit einem Bein im Gefängnis.“ So weit kam’s nicht. Berndt ist kein geborener Rebell, keiner, der sich von Emotionen wegreißen lässt. Er argumentiert lieber, kommt den Menschen mit Vernunft und Gott und wählt seine Sätze mit Bedacht. „Da muss ich meine Worte mäßigen“, sagt er. „Öffentlich sage ich nur das, was ich Vattenfall direkt ins Gesicht sagen würde.“ Er setzt auf Zeichen und symbolische Aktionen. Zu Weihnachten schicken er und an­dere aus den bedrohten Dörfern den schwedischen Parlamentariern Postkarten. Auf der Hälfte ist die Lausitzer Idylle zu sehen, auf der anderen die monströse Wüstenlandschaft, die übrig bleibt, wenn die Bagger weg sind. „Stop your company and ask for new and clean energy – not only for Sweden, but also for Lusatia in Germany“ steht auf der Rückseite.

Der Gottesdienst ist fast zu Ende. Berndt zieht Buchsbaumzweige aus einem Krug. Er hat sie morgens gepflückt und reicht sie den Gästen. Weil die Menschen vergesslich sind, sagt er, brauchen sie Zeichen. Die Zweige erinnern an die himmlische Stadt. Sie erinnern aber auch daran, „dass wir alles für die hiesige Stadt tun müssen“, gerade weil wir auf die himmlische zugehen. Hände in den Schoß legen ist nicht. Billigen Trost gibt es nicht.

Nach dem Gottesdienst ein Blick ins Arbeitszimmer. In Ordnern und Kladden stapelt sich sein erarbeitetes Wissen über Energie und Umweltverschmutzung, über Bergrecht und CO2-Verklappung. Er kann mühelos Vorträge halten über die „Ver­ockerung“ der Flüsse durch die alten Tagebaue, über unerwünschte Reaktionen von Sulfaten und Schwefelsäure. Er kennt die neuesten Expertisen und ist vernetzt mit Umweltak­tivisten und Pfarrern in Hamburg, Sachsen und Polen, wo sie ähnliche Probleme haben.

„Schon jetzt schaut man nicht mehr ungetrübt hier raus“

Rüber ins Esszimmer im anderen Flügel des geräumigen Pfarrhauses. Annette Berndt, die Frau von Mathias Berndt, serviert Lachs-Spinat-Lasagne. „Was heißt schon Trost, wenn man eine Krebsdiagnose bekommen hat?“, fragt Mathias Berndt und nimmt einen Schluck Weißwein. Die Braunkohletagebaue würden sich wie „Metas­tasen“ im Land ausbreiten. Aber noch ist das Schicksal von Kerkwitz, Atterwasch und Grabko nicht besiegelt. Das Land prüft Vattenfalls Antrag, wägt Gutachten gegen Gutachten ab, Berechnung gegen Berechnung. In zwei bis drei Jahren soll die Entscheidung fallen. Ist also eher so, wie wenn ein Schatten auf der Lunge diagnostiziert wird und man weiß nicht, ob es Krebs ist oder nicht. Die Unsicherheit macht die Menschen fertig. „Schon jetzt schaut man nicht mehr ungetrübt hier raus“, sagt Annette Berndt und deutet mit der Gabel aus dem Fenster in Richtung Pferdekoppel. Sie sehe schon Männer in orangefarbenen Arbeitsan­zügen vor ihrem inneren Auge, wie sie das Land vermessen und abstecken. Würde Vattenfall eine Zusage bekommen, würde als Erstes direkt hinter ihrem Garten die Erde aufgerissen und eine 100 Meter tiefe Spundwand hinabgesenkt. Sie soll die Grundwasserabsenkung begrenzen und später das Nachrutschen von Erde und Sand verhindern. Lohnt es sich da überhaupt noch, neue Pflanzen für den Garten anzuschaffen, neue Bäumchen zu setzen? In Höfe zu investieren?

„In den Dörfern breitet sich eine depressive Stimmung aus“, sagt Mathias Berndt. Die Jüngeren gehen. Die Älteren hätten das tiefe Gefühl, nichts wert zu sein. Ihr Land nicht, das offenbar gut genug ist, für eine auslaufende Energieform verschleudert zu werden, ihre Hunderte Jahre alten Höfe nicht, sie selbst nicht. Manchmal kippe die Depression in Aggression. Zum Beispiel wenn alle am Bäckerwagen anstehen, der einmal die Woche über die Dörfer fährt und die Lebensmittelläden ersetzt. In einer Familie seien neulich
Vater und Sohn aufeinander losgegangen. Der Sohn möchte verkaufen, der Vater nicht.

Widerstand? „Nein“, sagt Berndt, „den Begriff mag ich nicht.“

Nach dem Mittagessen zieht der Pfarrer ein Fleece übers weiße Hemd. Ein paar Schritte neben dem Pfarrhaus steht die Kirche von 1294. Berndt zeigt stolz den barocken Kreuzigungsaltar von 1713, die Kanzel mit Renaissance-Intarsien, die Orgel auf der Empore. Alles in großartigem Zustand. „1987 haben wir die Kirche renoviert“, sagt Berndt und betont: „Alle haben mitgeholfen, selbst der Parteisekretär.“ Die Kirche sei wichtig für die Identität und die Gemeinschaft. Nachdem auch die Dorfkneipe zugemacht hat, ist sie der einzige größere Versammlungsraum im Dorf. Hier diskutieren sie mit Politikern und malen Plakate für Demonstrationen. Die Kirche – ein Hort des Widerstands? „Nein“, sagt Berndt, „den Begriff mag ich nicht.“ Widerstand, Bonhoeffer, ist eine Nummer zu groß. Damals gegen die Nazis ging es um Leben und Tod. Berndt spricht lieber von einem „Ort, an dem die Werte bewahrt werden“.

Nun aber muss er los. Einmal im Monat trifft er sich sonntags mit Vereinen, Bündnissen und engagierten Privatpersonen, die wie er den neuen Tagebau ver­hindern wollen. Neue Studien und Aussagen von Politikern werden diskutiert, Gerüchte gedeutet, Protestaktionen organisiert. Berndt fährt das Auto aus der Ga­rage.

Los geht’s. Vorbei am Badesee, in dem die Berndts im Sommer schwimmen, vorbei an Wiesen und Wäldern. Das alles würde verschwinden. Berndt erzählt, wie sich der Streit in den Dörfern immer wieder neu entzündet. Zum Beispiel weil Vattenfall von den Bauern die Genehmigung möchte, in ihren Wäldern messen zu dürfen, wie sich der aktuelle Tagebau auf den Grund­wasserspiegel auswirkt. „Ist vernünftig“, sagen die einen und wollen die Erlaubnis erteilen. „Auf keinen Fall lassen wir das zu“, sagen die anderen, weil sie fürchten, dass die Messungen zugleich der Vorbereitung des geplanten Tagebaus dienen. Aus Nachbarn werden schnell Feinde. „Kohle-Berndt“ steht zwischen den Fronten.

„In dem Gigantischen hat das auch eine faszinierende Wirkung“

Beide Seiten versuchen, ihn auf ihre Seite zu ziehen, sagt er. Wenn das nicht gelingt, bekomme er von beiden Seiten die Anfeindungen ab. Das sei manchmal nicht einfach. Den einen sei er zu lasch, weil er den schwedischen Energiekonzern nicht grundsätzlich ablehne, den anderen zu forsch. „Eine unabhängige Stellung kann man nur beziehen, wenn man einen klaren Standpunkt hat“, sagt Berndt. „Zu meinem Standpunkt gehört, dass Vattenfall-Mitarbeiter ein Recht auf ihre Arbeitsplätze haben.“ Man müsse wachsam bleiben und dürfe nicht alles glauben, was Konzerne behaupten, doch wenn er höre, dass Vattenfall „Gehirnwäsche“ betreibe, laufe es ihm kalt den Rücken runter. Denn das stimme nicht, sagt Berndt, und natürlich sei es legitim, wenn ein Unternehmen Gewinn machen will.

In Horno habe der Bürgermeister den Widerstand gegen Vattenfall angeführt. Diese Rolle würden jetzt viele von Pfarrer Berndt erwarten. Dass er sie nicht annehmen will, würden ihm etliche übel nehmen, wird später an diesem Sonntag ein Mitglied der Runde sagen, zu der Berndt jetzt auf dem Weg ist.

Nach zehn Minuten Autofahrt biegt er rechts ab in eine Straße, die bis vor neun Jahren nach Horno führte. Jetzt endet sie nach 50 Metern. Sand und umgewühlte Erde erstrecken sich bis zum Horizont. Gigantische, hundert Meter tiefe Furchen. Keine Pflanze, kein Grün. Weit hinten rauchen die Kühltürme des Kraftwerks. In einer breit ausgewalzten Furche steht die riesige Förderbrücke. „In dem Gigantischen hat das auch eine faszinierende Wirkung“, sagt Mathias Berndt. „Aber wenn man sieht, was dadurch alles verloren geht, hält sich die Faszination in Grenzen.“ Er versuche, die zerstrittenen Parteien immer wieder an das gemeinsame Ziel zu erinnern: verhindern, dass ein neuer Tagebau eröffnet wird und dass die Dörfer ab­gebaggert werden. Er versuche, die Diskussionen zu versachlichen. Er versuche zu verhindern, dass Menschen abgewertet werden.

Neulich hat ihn ein alter Mann auf dem Sterbe­bett gefragt, wo er sich beerdigen lassen soll, um die ewige Ruhe zu finden. Berndt hat die Frage weitergereicht an Vattenfall und an die Landesregierung. Keiner hatte eine Antwort. Auch er wusste nicht, was er dem Mann raten sollte. Oft ist er einfach nur da und hört zu und hält die Widersprüche und Unsicherheiten mit aus. Und jeden Morgen zündet er in seiner Kirche drei kleine Kerzen an: eine für Kerkwitz, eine für Atterwasch und eine für Grabko.

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Es ist schon traurig, daß ein ausländischer (Staats-) Konzern hier tun und lassen kann, wie er möchte. Ich meine, man sollte eine klare Position beziehen. WischiWaschi hilft da nicht weiter... Gegen die gewaltsame Vergewaltigung von Natur und die über Jahrhunderte gewachsenen Identität sollte auch (in begrenzten Umfang) "Gewalt" angewendet werden dürfen. Nur Kerzen anzünden hilft nicht immer. Die prozentual wenigen, aber sehr gut verdienenden "Vattenfaller" sollen ja gern ein (Menschen-) Recht auf einen Arbeitsplatz haben. Aber nicht auf Kosten der Allgemeinheit und auf diese zerstörerischen Arbeitsplätze. (Gewissen? Offensichtlich Fehlanzeige. Jeder denkt an sich selbst. In den Urlaub gehts dann weit weg, weil man es sich leisten kann. Die anderen müssen hier bleiben...). Genau so wenig, wie die schlimmen Arbeitsplätze in der Agrar- und Fleischindustrie (kleine bäuerliche naturnahe Produktion ausdrücklich mal ausgeklammert), Militär und/oder Waffenproduktion... Es gilt abzuwägen, was für das Volk höher zu bewerten ist. Eine unversehrte Natur oder die Bedienung der Interessen einzelner. Diese "Kohle" wird in der heutigen Zeit auch gar nicht mehr benötigt. Wer etwas anderes behauptet, sollte sich einmal mit seriösen Quellen befassen.

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