Gordon Welters
Gut, dass es die Gemeinden gibt. Die klettern mit den Kids, kochen für die Flüchtlinge, retten den letzten Dorfladen und sorgen für gute Nachbarschaft.
Tim Wegner
15.10.2013

Wäre dies eine Postkarte, sie wäre zu kitschig. Vom schroffen Felsen ein Blick weit über das glitzernde Rheintal bis hin­über zum stahlblauen Bodensee. Oben der wolkenlose Himmel. 500 Meter weit unten der Bahnhof, das Rathaus und das kleine Freibad von Götzis in Vorarlberg, so miniaturklein wie Spielzeughäuser aus der Modelleisenbahn.

Aber dies ist keine Postkarte. „Verdammt, ich rutsch aus“, flucht Florian, 14, der mitten im Klettersteig Via Kessi hängt. Via Kessi – „sehr steil, sehr luftig, sehr schwierig“, steht in den Foren der Bergsteiger. Florian schwitzt jetzt stark in sein Superman-T-Shirt. Die Arme werden taub, die Hände tun weh, die Schuhe fühlen sich viel zu eng an. 110 Meter freier Fall wären das dann im Ernstfall. Und Florian muss jetzt doch dran denken, was der Schulleiter Erich Riedesser den Jungs heute Morgen bei der Abfahrt auf dem Schulhof in Aichstetten scherzhaft mit auf den Weg gegeben hat. „Wenn ihr runterfallt, unterwegs bitte Haltung einnehmen, ihr seid Eichenwaldschüler!“

###mehr-galerien###Natürlich fällt keiner runter. Alle acht Jugendlichen kommen heil am Ausstieg der Via Kessi an. Haltung zeigen sie trotzdem – nämlich Stolz, Stolz, Stolz. Letztes Jahr mussten zwei umdrehen, ausgerechnet die mit der größten Klappe. Dieses Jahr haben es alle geschafft, und das freut wiederum den Schulleiter, denn, na ja, die Zeugnisse waren heuer nicht so toll. Überhaupt hat es die Werk­realschule schwer, sagt der Schulleiter, „die meisten Eltern haben ja starkes Prestigedenken und sind aufs Gymna­sium fixiert“. Dabei komme es neben tollen Noten doch später auf ganz andere Dinge an im Leben: Ausprobieren! Verantwortung übernehmen! Rücksicht! Und das lernten sie bei den „Skywalkers“, einem Projekt der Kirchengemeinde. „Das bringt uns bei den Eltern richtig Ansehen“, sagt der Schulleiter, „die Gemeinden decken was ab, das kann die Schule gar nicht leisten. Wir sind hier beschäftigt mit G8 und G9 und Inklusion und dem Weg in die Ganztagsschule . . . gut, dass die Gemeinden in die Schule reinkommen!“

Gut, dass es die Gemeinde gibt! Das hört man landauf, landab an Orten, die zwar manchmal noch aussehen wie eine Modelleisenbahnlandschaft, aber große Herausforderungen meistern müssen: den demografischen Wandel. Die Einwanderung. Die Versorgung von Flüchtlingen. In Kirchengemeinden treffen sich Menschen, um zusammen diese Herausforderungen zu stemmen.

Das Abbaggern kann man nicht einfach hinnehmen, sagt Pfarrer Berndt. Aber er versteht auch die, die von der Braunkohle leben

Zum Beispiel in Atterwasch in der Lausitz, einem Straßendorf östlich von Berlin, kurz vor der polnischen Grenze. Die Eiszeit hat eine sanfte Hügellandschaft hinterlassen mit Seen und Flüssen. Der weitläufige Pfarrgarten hängt im Sommer voller Blüten und Beeren. Seit 35 Jahren lebt die Pfarrersfamilie Berndt hier.

Doch die Idylle ist bedroht. Der schwedische Energiekonzern Vattenfall will einen Braunkohletagebau errichten, Dörfer abbaggern: Kerkwitz im Jahr 2028, Atterwasch 2035, Grabko 2041. 900 Menschen müssten wegziehen. Die endgültige Entscheidung soll erst in einigen Jahren fallen. Doch die Unsicherheit macht die Menschen fertig, sagt Pfarrer Mathias Berndt. Lebensperspektiven werden brüchig, Familien fallen auseinander, die Gemeinschaft in den Dörfern geht verloren. Dass nicht alles auseinanderbricht – das ist auch diesem Pfarrer zu verdanken.

Die Kirche ist der einzige größere Versammlungsraum in Atter­wasch. Hier diskutieren die Bürger mit Politikern und malen Plakate für Demonstrationen. „Das Abbaggern kann man nicht einfach hinnehmen“, sagt Pfarrer Berndt, „da muss man sich ­wehren.“ Die Schöpfung! Die Erde ist des Herrn! Doch es wollen nicht alle kämpfen. Von Älteren hört er: „Hat keinen Sinn, die da oben machen eh, was sie wollen, war bei den Nazis so, in der DDR und heute auch.“ Die Jüngeren und Zugezogenen wollen lieber Haus und Hof verkaufen und mit der Entschädigung woanders neu anfangen. Und dann gibt es noch die Mitarbeiter des Energiekonzerns. Auch sie leben hier, hängen an den Dörfern, wollen aber nicht öffentlich gegen ihren Arbeitgeber protestieren.

Der Pfarrer, den einige „Kohle-Berndt“ nennen, versteht das: „Sind alles berechtigte Anliegen.“ Er ist „Seelsorger für die vom Braunkohletagebau betroffenen Menschen“ und will für alle da sein. Auch für die Vattenfall-Angestellten – „die haben ein Recht auf ihre Arbeit“. Einfach ist das nicht. Den einen ist Berndt zu lax, den anderen zu forsch, einige nehmen ihm übel, dass er sich nicht an die Spitze des Widerstands setzt. Er argumentiert ­lieber, ­kommt den Leuten mit Vernunft und Gott. „Für mich gehört beides zusammen: Glaube und soziale Verantwortung, ­Gebet und Engagement.“ Er versucht, die zerstrittenen Parteien an das gemeinsame Ziel zu erinnern: verhindern, dass die Dörfer abgebaggert werden. Neulich hat ihn ein alter Mann gefragt, wo er sich beerdigen lassen soll, um die ewige Ruhe zu finden. Der Pastor wusste keinen Rat. Oft ist er einfach nur da und hört zu. Und jeden Morgen zündet er in seiner Kirche drei kleine Kerzen an: eine für Kerkwitz, eine für Atterwasch und eine für Grabko.

Eine Kerze anzünden, trösten, zerstrittene Parteien an einen Tisch bringen – dafür braucht es nicht nur theologisches Fachwissen. Bei manchen dieser evangelischen Brückenbauer kommt eine besondere Biografie dazu. Und ein Herz am rechten Fleck. Der „Kohle-Berndt“ ist so ein Typ. Austen Brandt ist auch so ­einer.



Der evangelische Pfarrer in der Ruhrgebiets­gemeinde Walsum-Aldenrade hat drei verschiedene Pässe: In London wurde er als Sohn eines nigerianischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Er wuchs auf in der Bundesrepublik der 50er Jahre, wo ihm Lehrer wegen seiner Hautfarbe den Weg zum Abitur schwermachten. Austen Brandt kämpfte sich durch, studierte evangelische Theologie, wurde Pfarrer. Heute baut auch er hauptberuflich Brücken: zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Christen und Muslimen. Mit seinem Verein „Phoenix“, in dem er Menschen aus 30 Nationen versammelt, übt er Strategien gegen Rassismus im Alltag ein und bekam dafür 2010 den Aachener Friedenspreis. Vorbild für seine Arbeit ist das „Race Awareness Training“ der schwarzen Britin Sybil Phoenix.

Viele Geschichten der Diskriminierung hat Brandt im Ruhrgebiet gehört. Da erzählt ein Türke, dass er als Messerstecher gebrandmarkt wird, ein Schwarzer, dass man ihn als Drogendealer verdächtigt, ein Afghane wird an der Supermarktkasse misstrauisch beäugt. Die Phoenix-Leute hören zu, stärken, bauen Vertrauen auf – mit Gesprächen und mit Rollenspielen. Wichtig  ist dem Pfarrer der Perspektivwechsel: „Weiße sollen nicht nur verstehen, dass Schwarze leiden, sondern wahrnehmen, was der Rassismus aus ihnen gemacht hat.“ Mehrere Tausend Bürger haben das Training schon durchlaufen.

So auch Mustafa Kücük, ehemaliger Pressesprecher der Merkez-­Moschee in Duisburg-Marxloh. Er ist dankbar für das Phoenix-Training, das er bei Pfarrer Brandt gemacht hat: „Früher hätte ich polarisiert, heute weiß ich, wie ich deeskalieren kann.“ Das kann dem Viertel nur guttun. Sieben Moscheen gibt es in ­Duisburg-Marxloh; die moderne Merkez-Moschee ist eine der größten überhaupt in Deutschland.
Nicht immer geht es fried­lich zu in Marxloh, es gibt Zusammenstöße zwischen Rechts­populisten und aufrechten Duisburger Bürgern.

Wie schön, dass nicht nur der Phoenix-Absolvent Kücük hier wohnt – sondern seit neuestem auch der Phoenix-Erfinder ­himself: Pfarrer Brandt. Dem wurde als Alterssitz ausgerechnet das Haus neben der Merkez-Moschee angeboten. „Eine Fügung!“, sagt Brandt, der in fünf Jahren in Ruhestand geht. Ruhestand? ­Na ja, „Ruhe“ wird er bestimmt nicht geben, der pensionierte Pfarrer. Gesprächskreise mit Muslimen macht er jetzt schon, ein Gospelchor singt „Oh Happy Day“ in der Moschee. Ruhig, nein. Aber friedlich könnte es zugehen in Marxloh, das wäre schön.

Es ist wahrscheinlich die größte Herausforderung für die bundesrepublikanische Gesellschaft: das friedliche Zusammenleben mit vielen Kulturen. Nicht nur in Brennpunkten wie Duisburg-Marxloh. Auch in ganz bürgerlichen Städten wie Lübeck gibt es Viertel, in denen sich die Menschen noch reichlich fremd sind.

Im Vorort St.-Lorenz-Süd stehen propere Einfamilienhäuser neben einfachsten Mietshäusern, grenzt bürgerlicher Wohlstand an Straßenzüge mit russlanddeutschen, serbischen, türkischen und afrikanischen Zuwanderern. Hier hat die Luther-Melan­­ch­thon-Gemeinde ausgerechnet einen hölzernen Leuchtturm in den Pfarrgarten gestellt – als gäbe es in Lübeck nicht schon genug Türme. Die wurstigen zwei des Holstentores, die stolzen sieben der alten Innenstadtkirchen. „Luther leuchtet“ heißt das Projekt der studierten Ethnologin Gesa Claussen. Zum Leuchten bringt sie nicht nur den hölzernen Turm – der dient vor allem als Gruppenraum und Kletterturm für die Kinder –, zum Leuchten bringt sie auch Talente in der Gemeinde. Kontakte herstellen, präsent sein, Leute zusammenbringen, motivieren. Reden, aber nicht auf­drängen. „Ich bin die im Hintergrund“, sagte sie. „Am besten, wenn man mich nicht bemerkt.“

Wenn Gesa Claussen nur die Spur eines verborgenen Talentes aufschnappt, ist sie charmant zur Stelle: Mensch, du kannst doch! Mach das doch mal hier bei uns! „Wenn ich was höre, dann, zack!, packe ich zu und versuche, Mut zu machen.“

Zwei Männer, beide Tischler, haben mit Kindern Autos aus Gemüsekisten gebaut. „Super viel Spaß: aus Müll Spielzeug basteln.“ Alle 14 Tage kocht ein „bunter Haufen“ von Ehrenamtlichen an der Luthertafel für einsame und bedürftige Menschen und isst mit ihnen. Und ein-, zweimal im Jahr fahren sie zusammen weg, nach Ratzeburg, nach Wittenberg oder ins Weserbergland. In den Bus steigen dann nicht, wie in den meisten Orten, nur fröhliche Senioren. Sondern auch junge Familien. „Es sollen da Sachen zusammen passieren“, sagt Claussen. Schließlich nennt sich Luther-Melanchthon „Mehrgenerationen-Kirche für Lübeck“. Mit der Betonung auf „für“. Für Lübeck, für Deutschland, überhaupt ist „Luther leuchtet“ ein prima Übungsfeld – Alte und Junge machen was zusammen. Und zwar hauptsächlich im Ehrenamt. Urevangelisch ist das: Die normalen Mitglieder erwecken eine Gemeinde zum Leben, nicht nur das hauptamtliche Personal.

Luther sprach vom „Priestertum aller Gläubigen“. Und er mahnte, es gehe für den Christenmenschen keinesfalls nur um „Almosen geben und beten“. Ein gutes Werk, so Luther, sei, auch „wenn du dich deinem Nächs­ten hingibst und ihm dienst, wo er deiner Hilfe bedarf und du es vermagst, sei es mit Almosen, Beten, Arbeiten, Fasten, Raten, Trös­ten, Lehren, Ermahnen, Strafen, Entschul­digen, Kleiden, Speisen“.


Was aus ihnen wird? Das weiß keiner. Die Flüchtlinge auf St. Pauli sind im Moment einfach froh, bei der Kirche in Sicherheit zu sein

Am liebsten möchte man im Jahr 2013 diesen vielen Tätigkeiten noch einige hinzufügen: Brötchen schmieren. Deutsch beibringen. Paella kochen. Boxen. Waschen. Ja, manchmal kann auch Waschen ein gutes Werk sein, davon ist man überzeugt, wenn man in diesen Tagen die St.-Pauli-Kirche in Hamburg ­betritt.

Das System hat sich Elke ausgedacht, die Jungs müssen ja ihre Sachen auch wiederfinden. Rechts vom Altar ist die „dirty corner“, links die „clean corner“. Abgeliefert und zurückgegeben wird die Wäsche in ordentlich beschrifteten Plastiktüten. In der Zeit dazwischen drehen sich Jeans und Unterhosen in den Wäschetrommeln von ein paar Nachbarsfamilien und in der Waschküche des Pastors.

Elke Jacob ist Journalistin, hat Büro und Wohnung ganz in der Nähe und geht jetzt täglich rüber in die Kirche. Das ist ganz was Neues: „Ich war eigentlich nur noch zahlendes Mitglied.“ Bis sie in diesem Sommer aus dem Urlaub zurückkam und da plötzlich die Afrikaner waren. Sie gehören zu einer Gruppe von 300 Bootsflüchtlingen, die in Libyen Gastarbeiter und während des Krieges auf Lampedusa gelandet waren. Sie verbrachten etwa zwei Jahre unter schlimmen Verhältnissen in Italien. Die Be­hörden sollen ihnen dann pro Person 500 Euro in die Hand gedrückt und sie aufgefordert ­haben, zu gehen – in andere euro­päische Länder.

In Hamburg schliefen sie auf der Straße, das gab Ärger mit der Polizei. Wie gut, dass das Gestühl in seiner St.-Pauli-Kirche so flexibel ist, dachte Pastor Sieghard Wilm. Und öffnete die Kirche für die Flüchtlinge. Seit Juni leben sie jetzt dort, und natürlich ist das nicht einfach. Es ist eng. Die Stimmung ist oft angespannt – kein Wunder, wenn so viele Menschen so dicht aufeinanderhocken.

Und doch ist es schön. Eine „Embassy of Hope“, wie ein Transparent auf dem Kirchengelände verkündet. Hoffnung für die Flüchtlinge – aber auch für ein funktionierendes Gemeinde­leben. Vielen Nachbarn ging es wie Elke: Sie wollten helfen. „Ich kann einfach nicht anders. Ich kann hier nicht sitzen und rübergucken.“ Der Junge da drüben trägt das T-Shirt, das Elke gerade gewaschen hat. „Das ist natürlich politisch unerheblich. Aber bei so vielen Leuten ist der Hygienefaktor nicht zu unterschätzen.“

Politisch unerheblich sind sicher auch die Frühstücks- und Abendbrotbuffets in der Kirche, der Deutsch­unterricht, den Lehrerinnen auf dem Kirchengelände anbieten. Die Stadtteilführungen für die Flüchtlinge, der dreifach besetzte Nachtdienst, die kostenlosen Sportstunden, die Croissants, die ein benachbartes Restaurant morgens liefert, die 80 Portionen Paella, die ein anderer Gastwirt neulich gekocht hat – „und der hat selbst nicht viel!“

Elke findet ihre Kirche jetzt wieder ziemlich gut. Das liegt auch an den Jungs drüben und an dem Segen. „Mir kommen fast die Tränen, wenn ich’s erzähle.“ God bless you, sagen die Männer. God bless you. God bless you. „Ich bin noch nie so oft gesegnet worden. Und das meinen die wirklich ernst. Womöglich muss ich doch noch in den Himmel, auch wenn ich das nie wollte.“

Das mit dem Himmel, wer weiß das schon genau. Aber hier auf Erden finden Menschen wie Elke oft neu zur Kirche, wenn sie das Gefühl haben: Die tun was! Klar, es sind in Hamburg auch Menschen genau deswegen aus der Kirche ausgetreten, weil die St.-Pauli-Gemeinde sich für Flüchtlinge engagiert. Aber es sind neue eingetreten, und es haben sich Menschen aus anderen Stadtteilen extra umgemeinden lassen, damit sie zu St. Pauli gehören. Weil da was los ist, weil so sichtbar ist, wie Kirche sich für andere engagiert.



Oft sind das keine klassischen Kirchgänger. „Kirche ist ja mehr als theologisch quasseln, sondern was machen, sich einmischen, vorkommen!“, sagt der hessische Dorfpfarrer Ulf Häbel. Seit 24 Jahren lebt er in der Gemeinde Freienseen in Nordhessen, an einen Kirchenaustritt kann er sich nicht erinnern. „Austreten ist hier unanständig“, scherzt der Pfarrer, Landwirt und promovierte Soziologe. Eine evangelische Dorfschule hat er gegründet, demnächst werden die Schulkinder in einer Seniorenwerkstatt lernen, wie man hobelt, schweißt und alte Kühlschränke repariert. In der alten Dorfschmiede wird es ein Haus der Begegnung geben, zwölf Tagespflegeplätze für Alte und Demente. Ein Café. Und einen Dorfladen. Alles auf Initiative der Kirche. „Beheimatung durch Beteiligung“ nennt das der Pfarrer, und er meint das auch persönlich: Er ist Mitglied in allen neun Dorfvereinen.

Wenn der letzte Laden, das Postamt und die Arztpraxis dichtgemacht haben, der Bus nur noch zweimal am Tag vorbeikommt und die Fußballmannschaft schon längst keine Elf mehr auf den Platz bringt – dann ist es oft die Kirchengemeinde, die ein Dorf am Leben hält. „Im ländlichen Raum kommt Kirchen eine iden­titätsstiftende Rolle zu“, sagt der Agrarminister Till Backhaus. Das gilt nicht nur in seinem strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern. Sondern auch im reichen Hessen. In Freienseen, wo sie hoffentlich bald in der alten Dorfschmiede sitzen, einkaufen und schwätzen können. Und im Odenwald, im 330-Seelen-Dorf Mossautal-Güttersbach, wo der Kirchenvorstand vor drei Jahren beherzt den letzten Tante-Emma-Laden gekauft hat. Ohne Diskussion ging das nicht ab, klar, aber heute sind alle froh drum: Die ehemalige Küsterin, Patrocinio Aceituno, die alle nur „Paddi“ nennen, steht hinterm Ladentisch, davor sitzen am Kaffeetisch die Nachbarn und plauschen. Bringen ihre Kleider zur Reinigung, lesen ihre Zeitung, holen ihre Medikamente ab. Ein Segen, dass dieser Laden erhalten blieb, das findet auch der örtliche Hauptamtsleiter Dietmar Bareis: „Ein Stück Alltags- und Lebenskultur, dass die alten Leute hier noch zu Fuß einkaufen können.“

Und weil von Milch, Zucker und Backpulver kein Dorfladen überleben kann, ließ sich Dorfpfarrer Bernd Fetzer ein besonderes Schmankerl einfallen: Er fragte junge Kreativköche und alte Odenwald-Metzger nach Rezepten. Heute gibt es in Paddis Lädchen neben den Produkten des täglichen Bedarfs auch regionale Köstlichkeiten, damit die Touristen kommen. Dosenwurst mit einem winzigen Kreuz auf dem Etikett – das Beste vom Bentheimer Schwein. Mal würzt der ­Pfarrer die Wurst mit afrikanischen Aromen, mal mit Schoko­lade, er experimentiert mit Ingwernudeln und mixt Sherry in die Spargelmarmelade. Auch das gefällt nicht allen. Wein verkaufen, um die Jugendarbeit in der Gemeinde zu finanzieren? Oje. Fetzer, inzwischen im Vorruhestand, beruft sich auf klösterlicheTraditionen. „Die Mönche haben den Heiligen Geist immer als Impuls für Innovation gesehen.“

Innovation – das braucht die Gemeindearbeit auf dem Dorf ganz bestimmt. Damit die Alten dort leben und sterben können, wo sie zu Hause sind. Und damit auch ein paar Junge im Dorf bleiben und „nicht nur am Bushäusle rumlungern“, wie es der Schulleiter an der Eichenwaldschule im schwäbischen Aichstetten ausdrückt.

Da kann er aber froh sein, dass seine beiden Kirchenmänner – der evangelische Pfarrer und der katholische Gemeindereferent – so junge, coole Kerle sind. Der katholische, Bernd Schneider, ist 42, hat einen Knopf im Ohr, war früher Grafikdesigner und macht nicht nur Kommunion und Seelsorge, sondern backt mit den Kindern auch das Brot selber, das sie später teilen. Der evangelische, Lennart Meißner, Erfinder der „Skywalkers“, ist 35, hat vorher in einer christlichen Schule in Beirut unterrichtet und dort erkannt, wie wichtig Jugendarbeit ist.

Und wie spannend man evangelischen Religionsunterricht gestalten kann. Vierte Klasse, letzte Schulstunde vor den gro­ßen Ferien, heute ist „Samariterkurs“. Es sieht jetzt in der Schulturnhalle von Aichstetten wirklich ein bisschen aus wie in den Barrikaden von Beirut. Bänke und Kästen sind umgeschmissen, drei „Verletzte“ liegen mit blau geschminkten Augen und aufgemalten Wunden zwischen improvisierten Trümmern. Auf einem Schwebebalken dreht sich Blaulicht, aus dem Ghettoblaster dröhnt die Filmmusik von „Fluch der Karibik“. Die Trillerpfeife ertönt, Einsatz der „Retter“: Drei andere Kinder suchen vorsichtig nach den Opfern, legen behutsam Kompressen auf gebrochene Nasen und fixieren gebrochene Arme mit Mullbinden. Danach werden die Rollen getauscht, und später im Klassenzimmer diskutieren sie – über den barmherzigen Samariter aus der Bibel. Über praktische Erste Hilfe. Dass man mit gebrochenen Nasenbeinen besonders vorsichtig sein muss. Und dass eine Schülerin schon mehrfach erlebt hat, wie die Mama ein gebrochenes Nasenbein hatte.

„Ich glaube nicht, dass Seelsorge nur daraus besteht, dass zwei mit einer Kerze dasitzen und über ihre Probleme reden“, sagt der junge Pfarrer. Er will reden, bevor er die Kerze anzünden muss. Auf dem Weg zum Tauchen, zum Klettern, zum Brotbacken, zum Fußballtraining. Er will hier, in der evangelischen Diaspora, den Kindern zeigen, dass „evangelisch nicht nur anders ist. ­Sondern positiv“. Das mit dem „anders“ spürt ein Kind in Aichstetten ­spätestens, wenn es neun wird und alle anderen zur ­Kommunion rosa Barbiehäuser und coole Kickboards bekommen. Hier ist man katholisch. Auf dem Gefallenen-Ehrenmal, wo ein Soldat mit gesenktem Kopf über seine Kameraden trauert: „Wir opferten uns der Pflicht, Gott rette unser Volk“ – da fehlen bis heute die Namen der evangelischen Gefallenen.

Und drum ist es einfach ziemlich cool, dass sie 60 Jahre später in Aichstetten gemeinsam beten, die Evangelischen und die Katholischen. Und zusammen kicken und tauchen und beim Klettern im Berg hängen. Weil, der Angstschweiß da im Berg, der ist eh derselbe. Und der Himmel, in den sie gucken, die ­„Skywalkers“? Der auf jeden Fall.

 

Mitarbeit: Anne Buhrfeind, Claudia Keller, Kerstin Klamroth, Eduard Kopp.

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Sehr geehrte Frau Ott,

auf den ersten Blick ist es ein tolles Foto zu ihrem Artikel "Das sind ja schöne Aussichten" ... für jeden, der schon einmal gekettert ist, ist es allerdings schockieren zu sehen, daß min. drei der Jungendlichen falsch gesichert sind und der Bergführer hier verantwortslos handelt! Die Karabiner MÜSSEN IMMER entgegengesetzt eingeklingt werden, um ein versehentliches, gleichzeitiges Öffnen beider Sicherungen zu verhindern. Gerade beim Klettern hat die eigene Sicherheit höchste Priorität und jeder ist selbst dafür verantwortlich. Die Aufgabe des Bergführers ist es aber, für die Sicherheit der Gemeinde zu sorgen - Leider ist dies hier nicht der Fall.
Zum Glück sind alle wieder heile unten angekommen.

Mit freundlichen Grüßen
A. Töns

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