Jörg Brüggemann
Wir messen alles, nur kein Vertrauen. In Basel gehen Wissen­schaftler der Frage nach, ob Gastlichkeit ein Kapital ist
Tim Wegner
19.10.2012

Es gibt einen Index für menschliche Entwicklung, die Post macht den Glücksatlas – wozu noch einen Sozialklimaindex?

Arne Scholz: In Deutschland werden viele Daten erfasst, aber das ist nicht überall so. Die Grundlagen vieler internationaler Indizes  sind also nicht richtig vergleichbar. Häufig ist das Bruttoinlandsprodukt, das BIP, eine Größe, um Länder zu vergleichen. Fragwürdig!

Warum?

In Deutschland beträgt das BIP 44 000 Dollar, in Mexiko 10 000 pro Kopf. Aber ist Deutschland vier Mal lebenswerter als Mexiko? Das würde ich bezweifeln, zumal das BIP vieles misst, was die Menschen nicht glücklicher macht. Wenn ein Staat sich verschuldet, um Kriege zu führen, erhöht sich das BIP.

Viele Mexikaner wollen mehr Wachstum!

Stimmt, Mexiko gilt als Schwellenland, ein höheres BIP würde viele zufriedener machen – erst mal. Aber in vielen Ländern hat der Wohlstand ein Niveau erreicht, ab dem ein weiterer Anstieg nicht glücklicher macht. Auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen ist nicht alles endlos steigerbar. Und: Durchschnittswerte wie das BIP erfassen nicht Faktoren wie die soziale Ungleichheit, die großen Einfluss auf die Zufriedenheit haben.

Was besagt der Sozialklimaindex?

Er zeigt das Sozialkapital in hundert Ländern, also die Summe immaterieller Güter wie Vertrauen, Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft. Auch in den sogenannten Entwicklungsländern gibt es Sozialkapital, das müssen die Menschen dort gar nicht entwickeln.

Wie messen Sie das Sozialkapital?
Wir fragen Experten. Etwa: Wie schätzen Sie die Gastfreundschaft der Menschen ein? Und wie die Akzeptanz für Steuererhöhun­gen, um Schulden abzubauen?

Wer ist ein Experte?

Zum Beispiel ein Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation. Wenn wir aus einem Land wie Botswana zehn Antworten bekommen, ist das schon was. Auch in Europa wenden wir uns vor allem an Experten, aber jeder ausgefüllte Fragebogen hilft uns weiter.

Und die Leute flunkern nicht?

Dazu ein Begriff aus der Statistik, die Standardabweichung. Der Wert besagt, wie sehr die Angaben der Befragten vom Durchschnitt aller Antworten abweichen. Oft ist diese Standardabweichung gering – ein Hinweis, dass die Befragten ehrlich sind.

Gibt es schon Ergebnisse?

Die Menschen beurteilen ihr Land häufig viel besser, als die Medienberichte bei uns es vermuten lassen. Der Drogenkrieg in Mexiko ist zweifellos eine schlechte Nachricht. Aber das Sozialkapital zeigt Potenziale auf, die wir dabei übersehen: In puncto Gastfreundschaft erreichen die Mexikaner auf der Skala von 1 bis 10 einen Wert von 1,375. Das ist sehr gut, fast Weltspitze.

Was haben die Menschen davon?

Warum soll sich in zehn Jahren die Kredit­würdigkeit eines Landes nicht auch am Sozialkapital orientieren? Wenn Menschen für­einander einstehen, ist die Gesellschaft, in der sie leben, doch sehr vertrauenswürdig.

Hat sich eine Ratingagentur gemeldet?

Leider noch nicht. Aber nicht nur die Ratingagenturen müssen sich ändern; die Gesellschaft müsste den Wert immaterieller Güter überhaupt mehr anerkennen.

Sozialkapital klingt so, als wenn das Miteinander bald einen Preis bekommt!

Nein! Es geht darum, in sozialen Beziehungen eine Ressource zu sehen: Starke Gemeinschaften funktionieren besser, auch in den reichen Ländern. Dänemark und Schweden werden absehbar weit vorne landen – die Menschen in beiden Ländern sind sehr gesund. Das ist kein Zufall!

Und Deutschland?

Wird im guten Mittelfeld landen.

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