Russland nach den Pussy Riots, Venezuela vor der Präsidentenwahl, Thailand ohne Ruhepausen. Drei Auslandspfarrer berichten aus ihrer fremden Heimat
24.09.2012

Betreff: Best Agers unter Thailands Sonne

Gesendet von: Annegret Helmer, Pfarrerin in Bangkok

Viele Deutsche ziehen als Ruheständler nach Thailand, nicht alle aber suchen nur Sonne und Erholung. Friedhelm* etwa lernte ich in Pattaya kennen, einem thailändischen Badeort. Dunkle Hose, Krawatte, fein geschnittenes Gesicht, freundliches Lächeln. Er spielte Fagott in einem katholischen Gottesdienst, und ich tippte auf „pensionierten Studienrat“. Warum er hier ist? „Weil ich Musik machen will. In Deutschland wimmelt es von hervorragenden jungen Musikern, die für jedes Engagement dankbar sind“, sagt er. „Aber hier bin ich als Fagottist mehr als gefragt.“
Friedhelm ist 71 und tatsächlich ehe­maliger Lehrer. Aber auch ein Freigeist, der einen Kindergarten leitete, als Betriebs­psychologe in der Personalabteilung einer großen Firma arbeitete und therapeutisch tätig war. Seit Januar 2007 lebt er nun in Thailand. Selten ist er ohne seinen Instrumentenkasten unterwegs. Inzwischen hat er viele Kontakte in die Bangkoker Musik­szene geknüpft und spielt in verschiedenen Orchestern. Er leitet einen kleinen ökumenischen Chor. Engagiert junge ­Thai-Solisten und musiziert mit ihnen bei unseren evangelischen Gottesdiensten in Bangkok oder Pattaya.
Ob ihm das nicht manchmal zu viel sei? „Hier tue ich genau das, was ich möchte! Zur Ruhe werde ich früh genug gezwungen werden.“ Im Gegensatz zu vielen anderen Rentnern will Friedhelm irgendwann nach Deutschland zurückkehren, zu seinen Kindern und engsten Freunden. Noch ist nicht die Zeit dafür.


 

Betreff: Ausgetanzt

Gesendet von: Markus Schnepel, Pfarrer in Moskau

„Es gibt in diesem Land keine Luft zum Atmen mehr!“, sagte eine der Pussy-Riot-Sängerinnen, die im August zu zwei Jahren Straflager verurteilt wurden. Sie gehört zu einer kleinen, wachsenden Schicht, vor allem in Moskau und St. Petersburg, die sich eine offene Zivilgesellschaft wünscht. Das aktuelle Russland repräsentieren sie nicht. „Worüber regt ihr euch im Westen auf?“, hören wir öfter. Und: „Was muss man auch in der Kirche herumtanzen?“ Im Alltag beschäftigen die Russen ganz andere Dinge: Wie kann ich was zur Rente dazuverdienen? Wie kriege ich meinen Mann vom Alkohol weg? Oder, bei den jungen Reichen: Wo ist die hippeste Party? Wo das teuerste Restaurant?
Mancher Deutsche, der uns besucht, ist fast enttäuscht: Wir haben einen ganz normalen Alltag. Zwar weht seit Putins Wiedereinführung Anfang Mai wieder ­ ein rauerer Wind. Die Polizeipräsenz in Moskau wurde verstärkt, es gab mehr Kontrollen, wie ich aus den Augenwinkeln wahrnahm. An allen Schlüsselstellen der Stadt stehen Absperrgitter bereit, um bei Demonstrationen blitzartig einen Bereich absperren zu können. Dennoch: Moskau ist auch eine lebendige und spannende Stadt, in der wir uns frei und sicher bewegen.
Fast alle Kirchengemeinschaften in Russ­land ärgerten sich über den Auftritt von Pussy Riot, auch die Protestanten. Aber letztendlich saß der Nadelstich dieser Protestaktion so gut, dass einige Wahrheiten ungeschminkt ans Licht kamen: etwa das Bemühen von Staat und russisch-orthodoxer Kirche, im Einklang eine russische Identität zu proklamieren. Denn: Vielfalt führe geradewegs ins Chaos, wie man ja im dekadenten Westen sehen könne.
In welche Richtung der Zug gesellschaftlich in Russland fährt, weiß keiner. Aber dies ist ein Land mit großer Vielfalt – des Denkens und Lebens, und das wird sich in Freiheit durchsetzen. Es ist nur eine Frage der Zeit.


 

Betreff: Wahlkampfstimmung

Gesendet von: Lars Pferdehirt, Pfarrer in Caracas

Spannung liegt in der Luft. Am 7. Oktober wird der Präsident gewählt, und Wahlkampf ist in Venezuela Herzensangelegenheit. „Chavez, Herz des Volkes! Du bist ein Führer des Lebens!“, dröhnt es aus den Lautsprechern in der Stadt. Hugo Chavez tritt wieder an, er ist seit 1998 Präsident. Seine Anhänger verehren ihn. Ist er gesundheitlich angeschlagen, wird das wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Begriffe wie „Volk“ und „Vaterland“ beansprucht die ­Regierung für sich. Und verspricht, beides zu verteidigen gegen die Bourgeoisie, gegen den Imperialismus. Und gegen den Kandidaten der Opposition, den jungen Rechtsanwalt Henrique Capriles Radonski. Für die Regierungstreuen vertritt er die Oberschicht, mit den USA im Bunde.
Seit einem Jahr erlebe ich als Pfarrer den Sozialismus à la Simon Bolivar, den Chavez eingeführt hat. Ich staune: Über das geschenkte Benzin, über kostenlose Konzert- und Theaterbesuche. Gewöhne mich daran, für Lebensmittel Schlange zu stehen. Nur das bisschen kaufen zu können, was in den Regalen liegt. Und daran, dass alle Radio- und Fernsehsender die Auftritte des Präsidenten live übertragen.
Unsere Gemeinde ist in den letzten ­Jahren geschrumpft. Junge Leute suchen bessere Perspektiven in der „ersten“ Welt. Viele der Hiergebliebenen wollen auch ­gehen, falls die Regierung für weitere sechs Jahre bestätigt wird. Sie fürchten, dass der Lebensstandard weiter sinkt. Für andere zählt, dass unter Chavez die Ärmeren, vor allem die Indigenen, mehr ­Anerkennung genießen als vorher und jeder ein Recht auf Bildung und medizinische Versorgung hat.
Sollte es am 7. Oktober zu einem knappen Ergebnis kommen, sind massive Un­ruhen wahrscheinlich. Unsere Gemeinde wird dann zusammenrücken und alles tun, um einen angstfreien Ort zu bieten.

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