Foto: Espen Eichhöfer
Die frühere Sportlerin Ines Geipel und Theologieprofessor Wolfgang Huber über Rekorde und falschen Ehrgeiz
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
Tim Wegner
19.01.2012

chrismon: Sie laufen beide ganz schön schnell. Haben Sie eine Urkunde oder einen Pokal daheim?

Wolfgang Huber: Nein. Ich habe nie einen Pokal bekommen. Ich habe einmal versucht, 1000 Meter zu laufen. Aber da lief ich den anderen hinterher. Der Sport erfüllt mich nicht mit besonderem Ehrgeiz. Ich kann Tennis spielen, ohne zu gewinnen. Ich kann beim Skifahren hinter meiner Frau herfahren. Das macht mir alles gar nichts.

Ines Geipel: Sie wirken sehr sportiv!

Huber: Danke. Aber was Sie geschafft haben, wäre für mich völlig unerreichbar gewesen.

Geipel: Ach, na ja. Aber immerhin hatte ich den Luxus, 2005 den Weltrekord im Staffellauf von 1985 zurückzugeben. Kann ja auch nicht jeder.

Einen Weltrekord zu haben – was ist das für ein Gefühl?

Geipel: Klar ist das ein schönes Gefühl. Aber da fangen die Am­bivalenzen schon an. Oft versucht man im Hochleistungssport einen Knoten mit sich zu lösen.

Welchen Knoten?

Geipel: Schauen Sie: Wer mag diesen Sport? Das sind immer junge Leute. Es ist immer dieser Übergang zwischen Kindheit, Adoleszenz und Spätadoleszenz. In diesem Alter fragt man sich: Was willst du in deinem Leben? Wie sieht deine Zukunft aus? Diese Fragen stellt sich natürlich jeder anders. Junge Leute agieren zunächst einmal sehr viel mit dem Körper aus, weil sie die Sprache noch nicht haben.
 

"Das Laufen brauchte ich, um den Schmerz über die Enge und den Druck wegzulaufen"


Um den Sieg zu kämpfen ist doch schön, oder?

Geipel: Ich wollte an Grenzen. Etwas Inneres konnte in mir nur überleben, weil es den Körper gab. Das Laufen brauchte ich, um den Schmerz über die Enge und den Druck wegzulaufen und um mir die DDR größer zu machen. Sie war ja so wahnsinnig klein. Aber wenn du fast sieben Meter weit gesprungen bist – dann hast du das Gefühl: Du bist schon einmal aus dir draußen ge­wesen. Dieses Körpergefühl, diese Leichtigkeit, diese Dynamik vergisst man nicht. Eine Art imaginärer Altersvorsorge.

Hält der Wunsch, die Grenzen weiter vorzuschieben, nach der aktiven Sportlerzeit an?

Geipel: Bei mir war der Sport eine Geschichte von seelischer Not. Das hatte auch mit der Flucht vor mir selbst zu tun. Irgendwann war mir klar: Du kannst nicht mehr vor dir fliehen, du musst stehen bleiben und dich und eine Sprache finden. In meinem Leben kam die reale Flucht aus der DDR dazu. Über die Grenze zu gehen war insofern eine doppelte Erfahrung. Im Westen an­gekommen, war schnell klar: Hier ist nichts mehr mit Fliehen. Wohin auch? Es hatte sich ausgeflüchtet.

Was ist Ihr größter Ehrgeiz?

Huber: Das Wort Ehrgeiz kommt mir nicht so leicht in den Sinn. Ich finde, dieses Wort ist nicht positiv besetzt. Ich kann nicht überhören, dass in dem Wort Ehrgeiz das Wort Geiz steckt. Wer ehrgeizig ist, lässt sich von dem Ziel bestimmen, besser zu sein als andere, den Platz auf der obersten Stufe des Treppchens einzunehmen. Mich hat ein Satz meines ältesten Bruders geprägt: „Es kommt nicht darauf an, dass du besser bist. Es kommt darauf an, dass du gut bist.“ Wenn jemand zu mir sagt: Du bist ehrgeizig, dann habe ich das Gefühl: Er hat mich nicht verstanden.
 

"Ich würde immer nur sagen: Ich kann etwas besser. Aber nie: Ich bin besser."


Muss man denn nicht besser als andere sein, um eine Professur zu bekommen, um eine Landeskirche auf Trab zu bringen oder um Reformen anzustoßen? Dazu muss man doch besser analysieren, besser die Strukturen durchschauen können.

Huber: Es ist ein Grundzug unseres christlichen Menschenbildes: Jeder Mensch hat andere Gaben. Wir sind mit bestimmten Gaben auf die Welt gekommen und können sie weiterentwickeln. Wir sind in einem Umfeld aufgewachsen, das wir uns nicht ausgesucht haben. Den Menschen zu reduzieren auf einen einzelnen Aspekt und ihn dann zu vergleichen und zu sagen: Der eine ist besser, der andere schlechter – das wird der Fülle unseres Menschseins nicht gerecht. Ich würde immer nur sagen: Ich kann etwas besser. Aber niemals: Ich bin besser.

Geipel: Deshalb sind wir wohl auch genau hier, an einem Ort, an dem die Garnisonkirche gestanden hat und wieder entstehen soll. Zuerst dachte ich: Boah, der Huber, der lockt uns jetzt auf seine Baustelle. Aber dann dachte ich: Kondensierter geht es gar nicht als hier – in Bezug auf das Leben, auf die Politik, auf die Kirche  (Anmerkung der Redaktion: mehr auf www.chrismon.de). Wenn wir eine Chance haben wollen, uns geistig neu zu verwurzeln, auch die deutsche Einheit im Inneren zu gewinnen, dann ist das hier ein wichtiger Ort. Die Frage des überzogenen Ehrgeizes hängt genau daran: Wir wollen und suchen unentwegt die Überflieger, diese komischen falschen Helden. Wir verstehen nicht mehr, dass das, was uns ausmacht und wirklich verändern kann, viel mit unseren Wurzeln zu tun hat. Wie schnell das vergangene Jahrhundert uns aus den Händen rutscht! Klar gibt es viel Streit um die Garnisonkirche, ein hoch belasteter Hort, missbraucht von zwei Diktaturen: dem Nationalsozialismus und der DDR.
 

In der Garnisonkirche trafen sich viele Widerstandskämpfer


Huber: Zu unserer Geschichte gehört eben auch, dass sich Menschen haben willig täuschen lassen. Aber: Zugleich gab es die Angehörigen des Infanterieregiments 9, die sich hier in der Garnisonkirche für den Widerstand vorbereitet haben. Diese militärische Einheit hatte den größten Anteil an Widerstandskämpfern.

Frau Geipel, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es einen Mangel an Idealen gibt, was dann zu einer großen Zahl an Depressionen beiträgt. Eigentlich gab es in der DDR doch Ideale genug?

Geipel: Die DDR-Ideale waren wie große Plastikhauben, die über die Menschen gestülpt wurden. Die DDR sah sich immer auf der goldenen Straße der Sieger. Politisch waren wir das Opferland. Die Täter saßen alle drüben. Eine schöne einfache Welt. Es fehlte eine Kultur der Kontroverse. Hier in der Garnisonkirche Potsdam könnte sie stattfinden.

Huber: Sie beschreiben sehr genau, was wir an diesem Ort als Ver­söhnung bezeichnen. Kontroversen nicht wegwischen, sondern einen Ort der Verlangsamung zu haben. Dazu einen offenen ­Himmel über sich, so dass man weiß, das Letzte kann man nicht selber verantworten.

Wo war der Hochleistungsdruck schlimmer: in der DDR oder in der BRD? Sie beschreiben ja auch „Zonenkinder“, die im Westen mit dem Leistungsdruck nicht zurechtkamen.

Geipel: Im Sport ist es so: Aus dem Zwangssystem wurde der Systemzwang. Es gab den ideologischen, politischen Missbrauch von acht-, neunjährigen Kindern im DDR-Sport zur Zeit des Kalten Krieges. Heute ist es nicht mehr nur der Sport, sondern wir machen uns in all der Effizienz freiwillig selbst zu Knechten. Heute gibt es Sportler, die sagen: Ich halte einfach meinen Arm hin und guck gar nicht, was da reinfließt. Es ist simpel, von System zu sprechen. Auch Systeme sind von Menschen gemacht. Du kannst Nein sagen. Die Fragen der Diktatur haben sich nicht erledigt. Es ist selten eine Generation so missbrauchsbereit gewesen wie die jetzige, eben weil sie so wenig inneres Fundament hat. Ich finde, wir haben die Pflicht, denen mehr mitzugeben. Auch, dass es nicht nur mit Ellenbogen geht.
 

"Das Leben von Kindern darf nicht von Anfang an auf ihren Gebrauchswert reduziert werden."


Wie ehrgeizig dürfen wir sein mit unseren Kindern?

Huber: Der Alltag der Kinder darf einfach nicht völlig durchge­plant sein. Der Spielraum der Freiheit wird in der Kindheit an­gelegt oder er wird nicht angelegt. Das Leben von Kindern darf nicht von Anfang an auf ihren Gebrauchswert reduziert werden. Wenn sie deshalb in ihrer Kindheit mehr gefördert würden, damit wir später mehr Facharbeiter haben, dann fände ich das eine unerträglich ökonomische Reduktion des Menschen. Am Umgang mit Kindern entscheidet sich, ob wir die Würde des Menschen ernst nehmen. Es ist die alte Frage: Welches Vorbild gibt eine erwachsene Generation einer nachwachsenden?

Was können die Pfarrer in Sachen Vorbild tun?

Huber: Nicht nur Pfarrer, sondern alle Christen haben die Pflicht, besonders auf das zu achten, was sich nicht rechnet. Und sich für die Menschen viel Zeit zu nehmen und Empathie für sie zu entwickeln. Der einzelne Mensch ist vor Gott unendlich wertvoll.

Kaum haben Sie, Herr Huber, eine große Vision für diese evangelische Kirche und schlagen Reformen vor, schon klagen viele Pfarrer über Mehrbelastung und Überforderung. Warum?

Huber: Ja, warum? Ich war selbst nicht darauf gefasst, dass unsere Reformvorschläge von manchen so stark als eine Entwertung dessen aufgefasst würden, was ist und was man heute tut. Ich knoble auch noch an der Frage, ob diese Reaktionen auf Veränderungsvorschläge in der Kirche stärker sind als anderswo. Der Beruf des Pfarrers und der Pfarrerin unterscheidet sich von anderen durch das hohe Maß an Identifikation. Du beschäftigst dich mit dem, was du selbst für den Kern deiner Identität hältst.

... aber das ist doch wunderschön!

Huber: ...aber auch anstrengend. Deswegen ist eine Infrage­stellung dessen, was du da tust, ganz nah an einer persönlichen Kränkung und Verletzung. Ich war nicht darauf gefasst, dass unsere Reformvorschläge in einem solchen Ausmaß Kränkungen auslösen könnten. Ich respektiere das, und dennoch kann die Antwort nicht sein: Wir verzichten auf Reformen.

Geipel: Ich nenne das die Konstruktive des Schmerzes.

 

"Eine Predigt anhören heißt auch, sich innerlich zu sammeln"


Haben wir verlernt, dass Menschen unterschiedlich schnell vorangehen?

Geipel: Jedenfalls haben wir verlernt, dass es ein großer Gewinn sein kann zu verzögern. Ich habe nach meinem Buch „Seelenriss“ berührende Briefe bekommen von Leuten, die auf die Alm gehen oder in die Kirche...

Huber (lacht): Das wollen Sie doch nicht ernsthaft vergleichen!

Geipel: Na ja, an Orte, an denen die Zeit wie angehalten ist. Eine Predigt anhören heißt auch, sich innerlich zu sammeln. Der Trend ansonsten ist ja eindeutig: Wachstum, Perfektion. Aber das mulmige Gefühl ist bei vielen doch längst da. Immer mehr Menschen ziehen die Reißleine, steigen aus, kommen nicht mehr klar. Wir reden heute nicht mehr von Liebe oder Beziehung, ­sondern von Kontakten. Aber wie im Auge des Taifuns gibt es die Möglichkeit zu sagen: Wir hören endlich auf, uns immer nur zu wiederholen.

Huber: Wir wollen doch hoffen, dass die Geschichte nicht so ausgeht, dass auf der einen Seite die sind, die sich stromlinienförmig in diese Effizienzgesellschaft einpassen, und auf der anderen ­Seite die, die aussteigen müssen. Freiwillige Begrenzungen haben eine große Bedeutung. Denken Sie nur an den Streit um den Sonntagsschutz. Es ist letztendlich ein Streit um die Rundum-Verfügbarkeit des Menschen für Arbeit und Konsum. Da habe ich mich als Bischof lange Zeit verkämpft und politisch Ärger be­kommen. Eine andere Freiheitserfahrung: die evangelische Fastenaktion „7 Wochen Ohne“. Auch sie eine Mahnung, sich weder total zu unterwerfen noch auszusteigen, vielmehr am Ball zu bleiben und zu arbeiten, aber mit einem Sinn für Maß und Grenze.
 

"Man muss schon ziemlich wach sein, um in dieser Rasanz-Gesellschaft durchzukommen."

Geipel: Und das in einer Rasanz-Gesellschaft, wo wir alle völlig gaga gemacht und medial übertölpelt werden. Man muss schon ziemlich wach im Kopf sein, um da durchzukommen.

Wie haben Sie, Frau Geipel, die Belastungen als Spitzensport­lerin persönlich bewältigt? Sie sind hoch gestiegen und nicht – wie so viele Sportler, die Sie in Ihrem Buch porträtiert haben – abgestürzt. Sie hätten daran zerbrechen können.

Geipel: Ja, das hätte passieren können. Ich weiß, wie zerbrechlich das Leben ist. Was rettet dich: Kraft, Schicksal, Glück? Es war immer ziemlich ernst. Ich hatte das Glück, Menschen zu treffen, die mir den Weg wiesen. Ein Chirurg, der mir sagte: Ich weiß, was mit Ihnen ist. Ein halbes Jahr später wäre ich tot gewesen. Oder ein besonderes Publikum: Menschen, die selber an der Grenze zwischen Leben und Tod stehen und die einem sehr viel sagen können, weil sie selbst in Grenzsituationen sind.

Huber: Welch ein Geschenk, dass Sie die Möglichkeit zu solchen Gesprächen haben und dadurch mit Ihrer eigenen Geschichte ­fertig werden!

Geipel: Ja, ein unglaubliches Privileg. Wir hatten eine Geschädig­tengruppe im Sport, keiner von ihnen konnte anfangs öffentlich ein Wort sagen. Und jetzt höre ich manchmal im Radio, wie die inzwischen parlieren, wie stark sie geworden sind.
 

"Nach der Flucht aus der DDR kamen für mich läuternde Jahre wie in einem Kloster."


Haben Sie es später manchmal vermisst, bewundert zu werden? Hunderttausende haben auf Sie geschaut.

Geipel: Nein, nach der Flucht kamen für mich läuternde Jahre, wie in einem Kloster. Ich arbeitete als Kellnerin in einer Weinstube, wohnte in einer Gesindekammer mit kaltem Wasser, trug ein rosa­farbenes Dirndl. Und das, obwohl ich Germanistik studiert hatte. Ich verstand, wie viel ich nicht brauchte. Ich brauchte auch das Stadion nicht mehr. Heute liebe ich Lesungen mit zehn Zu­hörern, mit denen man wirklich reden kann, mehr als eine wogende Masse von 1000 Leuten.

Als Sie die Medaillen zurückgegeben haben, war das nicht, als müssten Sie Ihre Weihnachtsgeschenke wieder hergeben?

Geipel: Das Verrückte ist, dass diese Rückgabe viel, viel mehr ­Öffentlichkeit erregte als der Rekord selbst. Das nämlich hat das Siegersystem massiv gestört. Bis heute gibt’s Anrufe, als hätte ich fünf Millionen Euro verschenkt. Für mich war das etwas ganz Kleines, aber es bedeutet mir mehr als die Goldmedaille.

Huber: Das hat sehr stark in die Öffentlichkeit gewirkt, die ja von dem Gedanken beherrscht ist: Man gibt nichts weg, was man hat.

Geipel: Auf einmal war ich auf der Liste der Sieger ein Sternchen, kein Name mehr. Herr Huber, ich bin schon jetzt ein Stern im Himmel!

Gibt es eigentlich etwas, was Sie gar nicht können?

Huber: Ich bin ganz schlecht in allen handwerklichen Sachen. Mein ältester Sohn, der das sehr gut kann, hat mich neulich wieder auf den Arm genommen, weil ich selten etwas Handwerkliches im Haus gemacht habe, ohne irgendwo zu bluten.

Geipel: Ich habe eine Parkhausmacke. Ich nehme in Parkhäusern jede Ecke mit. Schon die Vorstellung, in ein Parkhaus zu müssen, setzt mir zu. Ich habe eine echte Parkhausphobie. Das tut den Autos nicht gut, aber ich kann damit leben.

Huber: Und außerdem kann ich keinen Kopfstand!

 

 

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Wie halten sie es mit der Wahrheit: in der DDR ist man mit 14 Jahren nicht zuhause "rausgeflogen". Entweder, sie kamen in ein Heim für Schwererziehbare oder in ein Eliteinternat wie Wickersdorf. Dahin kamen die Kinder von "wichigen" Personen, wie z.B. Thomas Schmidt, der Sohn des Clubchefs vom FC Carl Zeiss Jena. Also was ist die Wahrheit?
Sie sind auch aus dem SC Motor Jena "geflogen". Warum?
Da sie so für Ehrlichkeit sind, warum führen sie dann den Titel Professor? Sie haben weder promoviert noch habilitiert! Der Titel ist quasi geschenkt.
Also? Wo bleibt die Ehrlichkeit?

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