Artesia
Im Wald sind keine Räuber
Karnickel kann sie fangen und Regenwürmer rösten. Menschen aber machen ihr Angst. Deshalb lebte Marion jahrzehntelang allein. Ganz allein, weit weg von allem, was ihr bedrohlich erscheint. Die Geschichte einer allmählichen Annäherung
Hedwig Gafga, Autorin
26.06.2012

Sie besitzt nur ein einziges Dokument, einen Linolschnitt, einem Pass nachempfunden. Vorname: Marion. Nachname: aus dem Walde. Geboren: ja. Ort: Erde. Ein gemaltes Bild, das sie von hinten zeigt. Ein Stempel der Hamburger Melanchthonkirche und eine Telefonnummer.

Eine Kunsthandwerkerin hat ihn für sie hergestellt. Marion ist eine Frau, deren Identität niemand kennt, auch sie selber nicht.

Mehr als zwei Jahrzehnte hat sie fast nur im Wald gelebt, unter einem Zeltdach, das sie aus Tannenzweigen, Blättern und Plas­tiktüten – „den Tüten, die es umsonst gibt“ – zusammengefügt hat. Sie baut ihre Unterstände ins Dickicht, von außen erkennt man sie nicht. Wenn sie umzieht, kann es auch sein, dass sie sich einen leeren Schafstall sucht für eine Nacht. Zwischen Büschen und Bäumen bewegt sie sich geschickt, so dass die Tiere nicht aufgeschreckt werden. Sie kann mit Pfeil und Bogen umgehen, auch Fallen stellen und das Fleisch der erlegten Kaninchen auf dem Feuer rösten. Sie ist eine gute Feuermacherin, auch ohne Streichhölzer. Reibt zwei Steine, mit etwas Heu in der Mulde dazwischen, so lange, bis die Funken schlagen. Im Wald hat sie keine Angst. So erzählen es die Leute, die von ihrer Existenz wissen.

Nach einer Weile bemerkte er, wie sich eine Gestalt aus dem dichten Gebüsch löste

Zum Beispiel Andreas Zühlke. Er ist der Pfarrer, dessen Telefonnummer in Marions Pass steht. Einmal hatten sie sich verabredet, an einem Kreisel hinter einer Autobahn­abfahrt. Immer wieder fuhr Zühlke in seinem Auto die Runde, er konnte sie nirgends entdecken. Nach einer Weile bemerkte er, wie sich Marions Gestalt aus einem dichten Gebüsch löste. Sie hatte ihn eine Weile beobachtet, sich überzeugt, dass er wirklich allein, ohne Begleitung von Gesundheitsdienst oder Polizei, gekommen war. Zu diesem Zeitpunkt kannten sich die beiden noch nicht lange.

Es ist wohl 25 Jahre her, dass sie Zühlke das erste Mal anrief. Warum ihn? Möglich, dass sie ein paar andere Pfarrer durchtelefoniert hat, möglich, dass sie bei ihm hängengeblieben ist wegen seiner Stimme, die tief und ruhig klingt. Sie wollte kein Geld, nur reden. Und sie wollte vom Hamburger Hauptbahnhof abgeholt werden, was er auch tat. Schon am Telefon spürte er, dass sie sich psychisch in einem Ausnahmezustand befand. Bei der Frage, wie sie heiße, gab es ein Hin und Her, „wir einigten uns dann auf Marion“. In Wahrheit war es ein anderer Name, aber der soll nicht in der Zeitung stehen. Als sie später aufs Pfarrhaus zugingen, sah sie durchs Fenster seine Frau in der Küche hantieren, drehte sich um und rannte weg, er hinterher. An der Küche vorbei schleuste Zühlke sie in die Jugendetage der Gemeinde, brachte ihr gekochte Kartoffeln und Gemüse.

Mit Gustav war sie befreundet, bis er sich mit ihrem Geld davon machte

Er erfuhr weniges aus ihrem Leben: Aufgewachsen ist sie in einem Kinderheim in Köln, mit zwölf oder dreizehn Jahren von dort geflüchtet. Von da an lebte sie ihrer Erinnerung nach auf der Straße, schlief unter Brücken in Hamburg, jobbte stundenweise, sie schob die Einkaufswagen in einem Großmarkt vom Parkplatz zum Eingang zurück, fand Unterschlupf in einer angrenzenden Garage. Unterwegs hatte sie Gustav getroffen, mit dem sie eine Weile befreundet war, bis er sich mit ihrem ersparten Geld davonmachte.

In geschlossenen Räumen hält sie es nicht lange aus. Nur eine Nacht blieb sie damals, bei sperrangelweit geöffneten Fenstern, in der Jugendwohnung der Gemeinde.

Jetzt wartet sie auf einem abgelegenen Parkplatz. Eine korpulente Frau mit einer geblümten Baseballkappe, unter der ein paar kurze graue Haarsträhnen zum Vorschein kommen. Andreas Zühlke parkt den Kombi so, dass man auf der Ladefläche sitzen kann, Marion bleibt mehrere Meter entfernt. Es ist der zweite Versuch, mit ihr zu sprechen, den ersten hatte sie abgebrochen. Jetzt aber ist sie vorbereitet. In der Hand hält sie eine Strichzeichnung. Ist das ihr Bett? „Nicht mein Bett“, sie kichert, „nur die Zeichnung davon.“ Sie erklärt, wie sie das Bett gebaut hat, um es von unten zu isolieren. Aus Material, das ihr der Wald liefert, Hölzern, Zweigen. Vor ihr Bett legt sie ein Tuch, damit das Bett nicht schmutzig wird. Drinnen in ihrem Unterstand gibt es ein Regal aus Steinen und Brettern und darin einen Jahreskalender von der örtlichen Sparkasse, den die Leute umsonst bekämen, sowie ein batteriebetriebenes Radio. Damit hört sie NDR 1 Niedersachsen – Musik und Wetter.

Früher habe sie die Kälte nicht gespürt, sagt sie, sei das ganze Jahr barfuß durch den Wald gelaufen, jede Nacht. Da beobachtete sie die Gestirne und das Dahinziehen der Wolken. Sie kann sich an den Sternen orientieren und kennt die Wetterseite der Bäume. Der Wald macht ihr keine Angst, im Gegenteil. „Da kommen weniger Räuber vorbei als auf der Straße.“

Das Kaninchen töten? "Das geht schnell"

Jahrelang hat sie Tiere gejagt, Kaninchen, Täubchen, auch Krähen – „aber den Rabenvögeln muss man die Haut abziehen, sonst schmecken sie bitter“. Auch Regenwürmer mag sie, „aber nur wenn sie gebraten sind“. Ihre Stimme klingt jetzt nicht mehr dünn, sondern hat einen singenden Tonfall, und dabei rollt sie das R. Sie hat die Spuren der Hasen verfolgt, erzählt sie, es werden wohl Kaninchen gewesen sein, und sie in einer Falle gefangen – mit Hilfe einer durch den Schmutz gezogenen Hose, deren Beine unten zugebunden waren. Wenn das Kaninchen hineingelaufen war, habe sie im richtigen Moment zugepackt. Das Karnickel töten? „Das geht schnell. Ein Schlag mit ’nem Knüppel.“ Das Fleisch habe sie überm Feuer gebraten. Wer hat ihr das beigebracht? „Das lernt man, wenn man im Wald lebt.“ Sie schaut sich um. Am Hang wachsen Brennnesseln, „da kann man Suppe draus machen“. – „Du hast aber auch Spargel geklaut“, sagt Zühlke. „Geklaubt“, wirft Marion ein, „geklaubt.“

Zühlke empfindet ihr Leben in dieser Phase als eine Kaspar-Hauser-Existenz, näher bei den Bäumen und Tieren als bei den Menschen. Auch von ihrer Lebenskunst spricht er, von ihrer Beob­achtungsgabe und Wendigkeit. Die braucht man, um im Wald zu überleben. Der Pfarrer bringt ihr mal einen Schlafsack vorbei oder warme Kleidung, die Ehrenamtliche aus der Gemeinde beim Basar für sie zurücklegen. Manchmal erzählt Marion von Alpträumen – vielleicht sind es auch Bruchstücke aus einem früheren Leben, das ist nicht klar zu unterscheiden –, in denen sie in einem Keller mit erwachsenen Männern eingesperrt wird. Von ihrer Mutter hat sie nur verschwommene Bilder im Kopf, sagt der Pfarrer, und sie sei sich nicht sicher, ob die Frau, die sich ihr gegenüber unbarmherzig gezeigt habe, wirklich ihre Mutter war.

Im April 1988 hatte sich der Pfarrer mit Marions Einverständnis an den DRK-Suchdienst in München gewandt. In dem Brief hat er damals zusammengefasst, was er von ihr in Erfahrung bringen konnte: Vorname Marion, im Heim Susanne gerufen, ihre panische Angst davor, eingesperrt zu sein, die Angst vor Frauen. Der Name der Mutter: Betty oder Barbara, ihr eigener Nachname ist nicht bekannt, Hofmann hatte sie manchmal gemeint, dann wieder verworfen. Geburtstag und Geburtsort un­bekannt. Das Alter kann er nur schätzen, zwischen 25 und 40 Jahre alt, gibt er damals an, mittlerweile glaubt er, dass sie in seinem Alter ist, also etwa 65 Jahre. Die Identität wird nicht geklärt. Aber der Kontakt zwischen Marion und dem Pfarrer, später erweitert um die Pfarrersfamilie und Michael Bock, einen praktischen Arzt, bleibt bestehen, auch die Gemeinde weiß von ihr.

Als der Arzt sie berühren wollte, warf sich Marion auf den Boden

Wann sie miteinander in Kontakt treten, bestimmt Marion. Umgekehrt ist sie nicht erreichbar. Niemand weiß genau, wo sie lebt, auch der Pfarrer nicht. In unregelmäßigen Abständen meldet sie sich aus einer Telefonzelle. Manchmal ruft sie täglich an, dann kommt monatelang kein Lebenszeichen. Als sie vor Jahren von einem Baum gefallen war und über Gliederschmerzen klagte, bot ihr der Pfarrer ein Handy an. Sie hätte dann aus ihrem Unterstand im Wald jederzeit anrufen können. Abgelehnt. „Zu nah, zu viel Kontrolle“, meint Zühlke trocken. Er überredete sie, sich zu einem Arzt begleiten zu lassen, von dem er glaubte, dass er mit einem verletzlichen Menschen umgehen könne. Als der Arzt sich anschickte, sie anzufassen, warf sich Marion auf den Boden und war schwer zu beruhigen, erzählt der Pfarrer. War Marion suizidgefährdet? „Ja, sie wollte sich schon hin und wieder das Leben nehmen.“

Er bittet Michael Bock, den Arzt, den er aus seiner früheren Gemeinde kennt, Marion bei Bedarf telefonisch zu beraten. Sie ruft häufig an, und es kommt zu einem Treffen im Gemeindehaus. „Da saß Marion, mitten im Sommer in einen Wintermantel eingewickelt, ihren Schäferhund hatte sie dabei“, erinnert sich Michael Bock. Er ist einfach auf sie zugegangen und hat losgeredet. Vom Telefonieren war ihr seine Stimme ja vertraut. Eine Untersuchung hat sie damals nicht zugelassen, inzwischen sei es möglich, sie mit dem Stethoskop abzuhören und Blutdruck zu messen, das sei aber das Äußerste. Eine Weile ruft sie täglich an, aus der Telefonzelle, „nicht unter einer Stunde“. Einmal entschlüpft seiner Ehefrau, als sie ein Gespräch annimmt, der Satz: „Sie sind ja eine tüchtige Telefoniererin“, woraufhin Marion drei Monate nichts von sich hören lässt. „Extreme Scheu und Verletzlichkeit“, erklärt Bock.

Jetzt ist sie in einem Alter, wo das Leben im Wald schwerer fällt

Marion ist ein Mensch, zu dem keiner gehört, nicht einmal in der Erinnerung.
Die beiden Männer unternehmen wiederholt Versuche, ihr wenigstens äußerlich, behördlich, eine Identität zu verschaffen. Sie bekäme dann Lebensunterhalt, immerhin ist sie in einem Alter, wo das Leben im Wald schwerer fällt. Sie fragen bei sozial und kirchlich engagierten Behördenleitern nach, ernten aber Ratlosigkeit. Als das größte Hindernis erscheint Marion selbst. „Jemandem eine Identität zu geben“, sei äußerst schwierig, „umso mehr, wenn die Person allen Menschen ein tiefes Misstrauen entgegenbringt, und noch mehr den Institutionen“, sagt ihr Arzt. Es sei „alles so schwer nachvollziehbar, weil sie ein anderes Leben geführt hat als wir normalen Westeuropäer“. Andererseits: Wie viele verwandte Lebensgeschichten wird es nach dem Krieg in Deutschland gegeben haben, wo viele Kinder verwaisten, von ihren Eltern getrennt oder aufgegeben wurden und in Heimen und Anstalten lebten, die eher an Lager erinnerten?

Es weht ein kühler Wind, die Sonne scheint. Marion trägt über einem T-Shirt einen roséfarbenen Pullunder. „Den habe ich selbst gestrickt, zwei links, zwei rechts, in der nächsten Reihe versetzt.“ Eine Frau ohne Familien­namen und ohne Lebensgeschichte, die Fallen baut und Pullunder strickt, die sagt, dass sie nicht in der Schule war, aber schreiben und rechnen kann, und die besser Englisch spricht als der Arzt und der Pfarrer? Englisch hat sie mit ihnen nur in den Wochen eines seelischen Ausnahmezustands gesprochen. Woher ihre Sprachkenntnisse stammen, weiß sie nicht. Es gibt nur Vermutungen, es könne eine familiäre Verbindung zu einem Besatzungssoldaten gegeben haben. Schon eine erstaunliche Geschichte. Gut, dass es die beiden Zeugen gibt, die sie seit 25 beziehungsweise 15 Jahren kennen.

Hat sie im Heim stricken gelernt? „Nein. Von den alten Frauen“, antwortet sie unbestimmt. Im Heim sei es so gewesen: Wenn sie als Kinder eingenässt hätten, seien sie eiskalt abgeduscht, oft auch geschlagen worden. Es ist eine der wenigen Erinnerungen, die sie aus dieser Zeit mitteilt. Für eine Weile ist es still. Ob sie jemanden aus ihrem früheren Leben gern noch einmal wiedersehen würde? „Gustav, weil der mir noch mein Geld schuldet.“ Sie lacht.

Seit einiger Zeit kommt sie meist zweimal die Woche in den Ort. Ihre Beine sind so geschwollen, dass sie sich nur ganz langsam bewegen kann, im Ort kann sie einen Rollstuhl benutzen. In den letzten Jahren hat sich ihr Leben verändert, was mit der Freundschaft zu einer alten Frau zu tun hatte. Marion hatte ihr Hilfe angeboten, sie ab und zu im Rollstuhl herumgefahren. In der Wohnung dieser Frau konnte sie duschen. Als die Frau starb, organisierte die Familie den Nachlass so, dass der Rollstuhl für Marion dablieb. Und sie boten ihr an, nun bei ihnen zu duschen. Für ein paar Euro schiebt sie einmal in der Woche die leeren Mülltonnen in ein Mietshaus zurück. Vom Bäcker bekommt sie altes Backwerk. „Man muss höflich fragen“, rät sie und macht es mit übertrieben hoher Stimme vor: „Haben Sie vielleicht noch alte Brötchen von gestern?“ Bei einer Lebensmittelausgabe für Arme geben sie ihr manchmal Obst, auch ohne Bedürftigkeitsnachweis. „Es fällt ihr in der letzten Zeit leichter, auf Menschen zuzugehen“, sagt ihr Arzt. Auch zu Annegret Zühlke, der Frau des Pfarrers, bei der sie früher wortlos den Hörer auflegte, hat sich im Lauf der Jahre ein anderes Verhältnis entwickelt. Die beiden tauschen sich über Gesundheit, Essen und Wetter aus.

Jetzt spricht sie auch mit der Pfarrersfrau - über das Wetter, die Gesundheit

Über die Einzelheiten in Marions Alltag  weiß Annegret Zühlke am besten Bescheid – dass die Familie am Ort für Marion Haferschleim kocht und ausprobiert, welches Obst sie verträgt. Marion leidet seit einigen Wochen unter schweren Schluckbeschwerden, der Arzt vermutet eine ernste Erkrankung. Sie ernährt sich überwiegend von Astronautennahrung aus der Apotheke, in die sie Schmelzflocken und Früchte mischt. Sie bekommt dafür Geld vom Pfarrer, vom Arzt und von der Gemeinde – für Marion ein Problem. „Sie hat eine klare Einstellung dazu, was sie von Leuten annehmen will und was nicht“, sagt Michael Bock. In absehbarer Zeit braucht sie vielleicht Pflege. Aber eine Pflege mit wechselnden Pflegepersonen anzunehmen, sei für sie völlig undenkbar. In letzter Zeit spricht sie wieder davon, sich das Leben zu nehmen. Der Arzt will sie in ihrer Entscheidung weder bestärken noch hindern, er will ihre Autonomie respektieren. In den Telefongesprächen und den Treffen am Ortsrand geht es öfter um Abschied. Sie wolle nicht beerdigt werden, hat sie ­Zühlke mitgeteilt, und „sie hat Danke gesagt“, woraufhin er sehr beunruhigt war.

Aber der Pfarrer und der Arzt sind nicht die Einzigen, die sich Gedanken machen. Die Familie, bei der Marion manchmal duscht, hat mit ihr geredet. Sie könne sich jetzt nicht davonmachen. Die Tochter bekomme ein Mädchen. Keiner von ihnen habe Zeit, Marion solle für das Kind warme Sachen stricken. Wieder ein Anruf bei Zühlke: Sie hätte gern noch ein bisschen Wolle, um etwas vorzubereiten für das Kind, das im Herbst geboren werden soll.

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