Kirchen in der Prignitz, Brandenburg
alle Fotos: Anne Schönharting/Ostkreuz
Aufbau Ost
Mit den Kirchen blühen die Dörfer – oder sie verfallen, wenn sich keiner drum kümmert. Ein Besuch in drei Ortschaften bei Pritzwalk, Brandenburg
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
10.10.2012

Früher haben sie in der Wilmersdorfer Gaststätte jeden ­Monat getanzt. Der Konsum bot alles Nötige für den täglichen Bedarf. Wer mittags Hunger hatte, aß in der Betriebskantine der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. In Wilmersdorf, Prignitz, war die DDR-Welt ziemlich in Ordnung. 1970 gab es einen Friseur, 66 Kinder im Kindergarten, etliche davon aus den Nachbardörfern. Es gab 270 Einwohner, viele lebten in schicken neuen Siedlungshäuschen. Ein Vorzeigedorf waren wir damals, sagen die alten Wilmersdorfer heute.

Nach der Wende schlossen der Friseursalon, das Lädchen, die Gaststätte. Die teils mit Asbestplatten verkleideten Satteldach­häuser stehen heute zusammenhangslos in der Gegend, umgeben von vermoostem Rasen, Blumenbeeten und Eisenzäunen. Immerhin konnte der Dorfverein den Kindergarten zum Gemeinschaftshaus umbauen und leuchtend gelb anstreichen.

Am sichtbarsten ist der Verfall im Zentrum, wo die meist menschenleeren Straßen von Wilmersdorf zusammenlaufen, wo der Postbote werktags den Briefkasten leert, die Buslinie 911 fünfmal täglich hält und sich ein paar Dorfjugendliche langweilen. Da steht auch die Kirche. Es dauert wohl nicht mehr lange, dann kracht sie in einer riesigen Staubwolke in sich zusammen. Frühere Wilmersdorfer Generationen hatten sie nach dem großen Feuer von 1811 erbaut und liebevoll ausgestattet. Heute sind die Balken auf dem Fundament durchgerottet. Die Fens­terscheiben platzen unter dem Druck des Fachwerks. Die einzige Regenrinne ist mit den Blättern der umstehenden Eichen und Kastanien verstopft. An der Nordseite hat jemand eine alte Stalllampe angeschraubt.

Drinnen riecht es nach feuchtem Staub. Gut erhalten wirkt der alte preußische Kanzelaltar mit gewölbten Säulenimitaten und Predigtpodest in Form einer Blumenvase. Schade, wenn das alles unter Schutt und Gebälk begraben würde. Das bunte Kerzentransparent hinter der aufgeschlagenen ­Altarbibel zeigt eine Weihnachtskrippe. Vorne links hat jemand Tannennadeln zusammengekehrt, sie sind braun und vertrocknet.

Heiligabend 2010 feierte ein Lektor hier zum letzten Mal ­Gottesdienst, erzählt der damalige Pastor Thomas Hellriegel am Telefon. Hellriegel zog im Mai 2011 ins Berliner Umland, seither ist kein Pfarrer mehr im Dorf gewesen. Auf den eingestaubten Bänken liegen Kissen, jedes anders bestickt – wohl private Polster, für den nächsten Kirchgang zurückgelassen. Im Turm lehnt das Pendel ausgehängt am Uhrwerk. Das löchrige Mauerwerk bietet großzügige Ausblicke aufs Dorf.

 

Verkauf an Privat abgelehnt: Jetzt verfällt die Kirche

Peter Vierke hätte die Kirche gern gerettet. Der ehemalige Buchhalter der Genossenschaft, die nach der Wende aus der örtlichen LPG hervorging, bewohnt mit seiner Frau das schönste Haus im Ort auf dem schönsten Grundstück neben dem Dorfteich. Vor neun Jahren hatte er dem Wilmersdorfer Kirchenvorstand ein Angebot gemacht: Er kauft Kirche und Grundstück und garantiert als neuer Eigentümer, dass die Kirche jederzeit für ­Gottesdienste und als Kulturhaus für Vereinsfeiern offenstehe.

Erst waren alle hundert Wilmersdorfer dafür. Vierke erwarb Klinker, Dachziegel und Eichenholz, holte Angebote für doppeltverglaste Kippfenster mit Unterteilungen ein. Für das schmale Hauptschiff hatte er einen 15-armigen Leuchter mit vergoldeten Messingverzierungen und bemaltem Engel in der Mitte hergerichtet, groß wie ein Wagenrad. Das hölzerne Treppengeländer zur Empore wollte er durch ein schmiedeeisenernes ersetzen. Vor der Eingangstür auf der Wetterseite plante er einen kleinen Vorbau, die Zinkhaube hierfür hatte Vierke auch schon besorgt.

Mitte Oktober 2003 erreichte ihn dann die Absage. Plötzlich gab es Gegenstimmen im Kirchenvorstand. Streit drohte. Nicht weil Vierkes Ausstattungspläne missfielen. Sondern weil die ­Kirche mit dem Hausrecht die Kontrolle darüber abgegeben hätte, wer sich im Gotteshaus einmieten darf und wer nicht.

In seinem Absagebrief fragte Pfarrer Hellriegel damals, ob Herr Vierke sein Geld nicht für den Wiederaufbau der Kirche stiften wolle. Peter Vierke lacht darüber. Er habe etwas Bleibendes hinterlassen wollen, was mit seinem Namen verbunden ist. Geld investiere er nur in sein Eigentum. – Jetzt verfällt die Kirche. Was aus dem Dorf wird? Wilmersdorfs gute Zeiten seien vorbei, sagt Vierke. Heute verfolge jeder seine eigenen Pläne.

 

Alt Krüssow kämpft um seine alte Wallfahrtskirche

Wer eine Kirche restaurieren will, braucht Menschen, die sich dafür engagieren. So etwa sagte es Thomas Begrich, Vorsitzen­-der der Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland (KiBa). Das war während einer Fernsehsendung im April vor fünf Jahren. Begrich saß in der ersten Publikumsreihe eines Sendesaals mit einem überdimensionierten Scheck auf dem Schoß. Vorne auf der Bühne musste Uwe Dummer, Vorsitzender des Kirchbauvereins aus Alt Krüssow, Ostprignitz, seine alte Wallfahrtskirche anpreisen. Gegen drei Konkurrenten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Es ging um die Publikumsgunst – und natürlich um den Scheck über 500 000 Euro.

 

Daheim in Alt Krüssow war ein großer Schwenk­arm mit Kamera vor der Kirche aufgebaut. Das ganze Dorf hatte sich versammelt, um Aufgaben aus der MDR-Show „Ein Dorf wird gewinnen“ zu lösen. Eine der Aufgaben: eine Dorfhochzeit nachstellen. Man sollte einen Schornsteinfeger herbeischaffen, ein Blumenmädchen, eine Bäuerin mit Schlegel, eine Vogelscheuche, ein küssendes Hochzeitspaar. Den Pfarrer gab Superintendent Volker Sparre vom Kirchenkreis Havelberg-Pritzwalk, das Brautpaar ist inzwischen verheiratet und hat ein Kind. „Ich ging gerade hier an der Kirche vorbei“, sagt Roswitha Schick, „da kam mir die Vogelscheuche entgegen.“ Auch Frau Schick trat in ihrem alten Hochzeitskleid mit ihrem Mann im Smoking vor die Kamera – eine weitere Aufgabe aus der Sendung. Am meisten freute sie sich darüber, dass alle Dorfbewohner für einen Filmtrailer einen Kreis um die Kirche bildeten und sich an den Händen hielten.

„Im Urlaub sehe ich mir gern Kirchen an“, sagt Frau Schick. „Aber wenn ich wieder zu Hause bin, denke ich: Unsere ist doch die schönste.“ Dann zeigt sie mittelalterliche Glasmalereien mit Hase und Schere in ihren Wappen.  Sie holt eine Bischofsskulptur aus dem 13. Jahrhundert hervor, eine hohle Eichenholzschnitzerei, die sich gegen den scheibenförmigen Verschluss im Rücken zu lehnen scheint. Sie zeigt Ausguss und Wasserbecken, die in die Ostwand eingelassen sind; die vergitterterte Wandnische im ­Kapellenanbau, wo möglicherweise eine Nachbildung des Hei­ligen Grabes stand, vielleicht waren es auch Reliquien.

Ein Mönch durchkreuzte das Geschäftsmodell "Heiliger Rock"

Elf Meter ragt das backsteinerne Rippengewölbe in die Höhe, für die hundert Einwohner wirkt die Kirche viel zu groß. Auch im Mittelalter war das Dorf winzig. Dennoch lohnte sich der Bau. Der angebliche Rock der heiligen Anna, der Mutter Mariens, lockte Pilger schon vor Fertigstellung der Kirche 1520 an. Schon bald durchkreuzte ein Mönch namens Martin Luther die Geschäfts­idee. Mit der Reformation ebbte die Pilgerei wieder ab.

Das Bauwerk ist eine historische Perle – und eine finanzielle Last. Der Förderverein Wallfahrtskirche Alt Krüssow um Uwe Dummer lässt sich davon nicht entmutigen. Saniert wird abschnittsweise, je nach Kassenlage: erst das zu DDR-Zeiten eingeworfene Ost­fenster, dann der feingliedrige östliche Stufengiebel, dann der Dachstuhl über der Kapelle.

Nach der MDR-Show bekamen die Alt-Krüssower immerhin den Trostpreis, 50 000 Euro. Die KiBa, die nicht nur Spendengelder zur Verfügung stellt, sondern auch Erfahrung, riet Uwe Dummer, das Geld aufzubewahren – für den Fall, dass sich später ein größerer Fördertopf auftut, der Eigenmittel erfordert. Genau das geschah. Im September 2012 konnte das ganze Kirchdach ­erneuert werden. Und weil sie den Baufortschritt sehen, bleibt den Alt-Krüssowern der Elan erhalten.

Fertig Renoviert: Die Dorfkirche in Bölzke

Mit Bölzke geht es bergauf. Zu DDR-Zeiten hatten die Behörden noch Alkoholiker hierhin abgeschoben. Als das Ehepaar Helm Mitte der neunziger Jahre die örtliche Revierförsterei übernahm, fragten Bekannte verwundert: „Ihr wollt wirklich nach Bölzke? Überlegt euch das!“ So schlecht war der Ruf damals.

Mit den Helms begann der Aufstieg. 1998 gründeten sie den Förderverein zum Erhalt der Bölzker Kirche. Sie sammelten Geld, feierten Dorffeste. Im Jahr 1999 zum Beispiel die 725-Jahrfeier des Ortes. Susanne Gloger war gerade in der Gegend. Sie ist freischaffende Historikerin aus Berlin, auf Zisterzienserinnen spezialisiert und betreute damals eine große Ausstellung im benachbarten Heiligengrabe. Sie sah die Festwerbung, kam – und verliebte sich in das idyllische und lebhafte Dorf.

Inzwischen ist sie fast jedes Wochenende da, macht im Kirchbauverein mit, organisiert Mittelalterspektakel, Kürbis- und Erntedankfeste vor der Kirche und drinnen italienische Abende mit Commedia dell’Arte, Andachten, Lesungen, Kinoabende, Ausstellungen. Auch ihre Mutter ist hergezogen, aus Frankfurt am Main.

Aber das Dach der Kirche war immer noch undicht und das Fachwerk morsch. Akut einsturzgefährdet, diagnostizierte ein Gut­achten. Da war Susanne Gloger bereits stellvertretende Vor­sitzende des Kirchbauvereins. Die kulturellen Veranstaltungen sollten weitergehen, die Kirche musste saniert werden – aber woher die erforderliche Viertelmillion Euro nehmen?

Auf dem Annenpfad durch Ostprignitz und Pritzwalk

 

Mit ihren Mitstreitern tat Susanne Gloger einen EU-Fördertopf zur Landschaftspflege auf. Ihre Idee: Vom Pilgerzentrum Heiligengrabe aus führt ein 22 Kilometer langer Wanderweg durch die Landkreise Pritzwalk und Ostprignitz, vorbei an der Wilmersdorfer Kirche, der alten Pilgerkirche von Alt Krüssow und Bölzke. Wer hier läuft, bekommt in der Bölzker Dorfkirche eine Ausstellung zur Pilgerei zu sehen – und erfährt, dass noch ein dritter früherer Pilgerort in Fußnähe liegt: Wilsnack. So verbanden sich Landschaftspflege und Kirchenrestaurierung.

Gründonnerstag 2011 wurde der Annenpfad eröffnet, benannt nach der Alt-Krüssower Wallfahrtskirche St. Annen. Das Konzept überzeugte, die Geldgeber aus Brüssel bewilligten 180 000 Euro, weitere 60 000 musste der Förderverein dazugeben. Heute informieren Tafeln auf Eisenstelen vor und in der Kirche über Pilgerrouten, Gefahren unterwegs und berühmte Pilger. Im Kirchen­inneren ist der Altar fachmännisch restauriert, eine Filmleinwand lässt sich von der Decke runterfahren. Die Orgel funktioniert, die versteckte Heizanlage ebenso.

Jetzt kommen auch immer mehr Berliner. Einige bauen alte Backsteinhöfe in Wochenendhäuser um, andere lassen sich ganz hier nieder. Ein paar Höfe sind noch verfallen, Pepe Danquart hat unlängst in einem von ihnen einen Weltkriegsfilm gedreht. Aber die Kirche ist saniert, das alte slawische Runddorf hat sein Zentrum zurückbekommen. Und die neuen Einwohner sprechen den Namen ihrer Ortschaft mit Stolz aus. Eine will demnächst eine Pension eröffnen, „Bett und Bölzke“ soll sie heißen.

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