Bellen Sie ruhig mal durch! Flämisch ist immer gut für ein paar Missverständnisse. Überhaupt ist Belgien eine Überraschungstüte

Belgien ist ein erstaunliches Land. Deutsche denken oft, sie führen nur ein paar Kilometer über die Grenze und würden sich schon zurechtfinden. Gut, da muss man sich gleich mit zwei fremden Sprachen mühen. Aber Französisch hatten viele ja mal in der Schule. Und Flämisch soll der deutschen Sprache ja recht ähnlich sein. Was man erst später merkt: ahnlich ja, aber deshalb nicht unbedingt verständlich.

Der flämische Wortschatz ist für uns Deutsche voll falscher Freunde: Mit „Enkel“ ist nicht der Nachkomme gemeint, sondern der „Knöchel“. „Bellen“ heißt „klingeln“ und „telefonieren“. „Liegen“ ist „lügen“. Ansonsten ist Flämisch wirklich eine ganz liebenswerte Sprache mit ihrem überall angehängten Verkleinerungs-„tje“, was meine Frau und mich sehr an unser schwäbisches „-le“ erinnert. Die Flamen nennen ihre Sprache übrigens lieber „Niederländisch“. Das klingt vornehmer, und so sind sie auf Augenhöhe mit der Wallonie, dem Süden des Landes, wo man auch eine „richtige“ Sprache spricht: Französisch.
 

Wehe, man braucht Handwerker!

Viele Belgier können auch Englisch und in vielen Fällen auch ein wenig Deutsch. Im Osten des Landes ist Deutsch sogar Amtssprache. Das Gebiet um die Städte Eupen, Malmédy und St. Vith mit seinen rund 70 000 Einwohnern war ehemals deutsch und kam 1920 auf Grundlage des Versailler Vertrags zu Belgien.

Die Belgier machen es einem also nicht allzu schwer.  Aber wehe, man braucht Handwerker! Und das tun wir ständig, denn das Brüsseler Gemeindezentrum, in dessen Pfarrwohnung wir im ­September 2010 einzogen, ist 37 Jahre alt, und es geht dauernd irgendetwas kaputt. Den Wortschatz für das Bauwesen beherrschen wir natürlich weder in Niederländisch, der Sprache des Architekten, noch in Französisch, was der Dachdecker spricht. Andererseits: Auch mit guten Sprachkenntnissen läuft es mit den Handwerkern oft anders als in Deutschland gewohnt. Man vereinbart einen Termin, und dann passiert erst mal gar nichts.

Nach mehreren Anrufen kann es sein, dass es eine neue Vereinbarung gibt. Manchmal kommt auch nach ein paar Stunden ein Vertreter des sehnsüchtig erwarteten Fachmanns und erklärt, dass er für den Sachverhalt nicht zuständig ist. Belgien wird nicht zu Unrecht das „nördlichste Land Südeuropas“ genannt. Das ­Laisser-faire, die notorische Unpünktlichkeit, aber auch die Freude an einem guten Essen im Restaurant, das man sich gerne etwas kosten lässt – die alten Römer haben in ihrer einst nördlichsten Provinz deutliche Spuren hinterlassen.

Warmherziger Empfang

Das alles erfuhren und merkten wir aber erst mit der Zeit. Zunächst überwältigte uns die überaus freundliche Aufnahme in der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde in Brüssel, in der wir unseren Dienst aufnahmen: zunächst als Pfarrer und ­„mitreisende Ehefrau“. Erst später übernahm meine Frau einen Dienstauftrag in Antwerpen und betreut nun in halber Stelle die dortige deutschsprachige Gemeinde.

Von den Brüsseler Gemeindemitgliedern wurden wir oft eingeladen und bekamen sofort wertvolle Tipps und Listen mit den wichtigsten Adressen von deutschsprachigen Ärzten, Friseuren, Geschäften. Wir waren und sind zudem beeindruckt, wie vielfältig und lebhaft diese Gemeinde ist. Und wie anspruchsvoll! Die meisten Mitglieder sind akademisch gebildet, häufig haben sie sehr gute theologische Kenntnisse. Bei unserem Kreis „Bibel im Gespräch“ kann es leicht passieren, dass der Pfarrer gefragt wird, wie denn bitte eine bestimmte Stelle im griechischen Urtext lautet.

Kurzfristige Beheimatung

Es ist eine selbstständige, als Verein organisierte Gemeinde, die sich vollständig selbst finanzieren muss. Sie hat knapp 1000 angemeldete Mitglieder. Rechnen wir aber Ehepartner und Kinder dazu – Familienmitglieder werden erst gezählt, wenn sie sich nach der Konfirmation selber angemeldet haben – kommen wir auf etwa 4000 Menschen, die sich mit der Gemeinde unmittelbar verbunden fühlen.

Darunter sind etwa zur Hälfte dauerhaft in Brüssel und Umgebung wohnende Deutsche – vor allem aktuelle und ehemalige Beamte der EU oder Firmenangestellte – und zur anderen Hälfte Menschen, die nur für ein paar Jahre in Brüssel leben, weil sie hier zum Beispiel für die NATO oder für Ländervertretungen arbeiten. Viele von diesen kommen mit Ehepartnern und Kindern. Neben der „normalen“ Gemeindearbeit ist es deshalb unsere Aufgabe, den jungen Familien bei ihrer kurzfris­tigen „Beheimatung“ zur Seite zu stehen. Wichtig sind dafür  Angebote für Kinder und Jugendliche, aber auch Seelsorge bei Paar- oder Familienkonflikten. Denn diese verschärfen sich im Ausland eher.

Religion für viele nicht wichtig

Belgien ist ein erstaunliches Land. Man ist hier überaus liberal, auch in Sachen Religion. Ein Großteil der Belgier ist eher säkulär orientiert und legt wenig Wert auf Religion. Protestanten machen nur knapp ein Prozent der Bevölkerung aus. Katholiken sind, ­soweit wir es bisher erlebt haben, ausgesprochen aufgeschlossen und ökumenisch eingestellt. Überhaupt erleben wir die Belgier als äußerst freundlich, hilfsbereit, gelassen, oft auch unbürokratisch. Zumindest dort, wo wir mit ihnen in Kontakt kommen,  beim Einkaufen zum Beispiel oder in den Behörden. Das gilt auch für den Norden des Landes,  wo meine Frau zurzeit als Pfarrerin der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde eine Vakanz überbrückt.

Das Gemeindeleben ist dort überschaubar und weniger hektisch als in Brüssel. Die Gemeinde hat nur 210 Mitglieder. Zu ihrem Einzugsgebiet gehört auch die Kleinstadt Mol mit dem größten Kernforschungszentrum des Landes. Zu den Mitgliedern gehören deshalb viele Fachleute aus diesem Zentrum beziehungsweise ehemalige Mitarbeiter. Die meisten leben schon lange in Mol, haben längst auch einen belgischen Pass und sprechen Flämisch – pardon: Niederländisch – wie ihre Muttersprache. In Antwerpen und Umgebung arbeiten viele der Gemeindemitglieder am Hafen oder in der chemischen Industrie.

Ob Norden oder Süden: Die Belgier sind auch Ausländern gegenüber sehr offen. In Brüssel sind das immerhin 30 Prozent der Einwohner. Dort leben viele Menschen aus den ehemaligen Kolonien in Afrika. Und jedes der mittlerweile 27 EU-Länder schickt eine Flut von Beamten und Angestellten in die (inoffi­zielle) Hauptstadt Europas. Die Brüsseler nehmen’s mit Gelassenheit,  ärgern sich allerdings über die hohen Immobilienpreise, die sie oft nicht mehr bezahlen können.

Die Schlümpfe sind auch Belgier

Belgien ist nicht nur Brüssel und Antwerpen, sondern ein ­wunderschönes Land mit Tausenden von Sehenswürdigkeiten, von denen wir bis jetzt leider erst wenige sehen konnten. Beeindruckt hat uns bereits die große Zahl mittelalterlicher Stadtkerne mit romanischen und gotischen Kirchen, besonders prächtig in Löwen. Und der Reichtum an Schlössern. Es gibt eine Menge ­klassischer und moderner Chöre, Orchester und freischaffender Musiker.

Der Chansonnier Jacques Brel stammte aus Brüssel. Der weltweit bedeutende Wettbewerb „Concours Reine Elisabeth“ bringt alljährlich zahlreiche junge Musiker nach Brüssel. Und: Mit Rubens, Magritte und Bruegel hat das kleine Land gleich drei Maler von Weltruhm hervorgebracht. Trotz alledem: Belgien nimmt sich sympatischerweise selbst nicht allzu ernst, siehe L­ucky Luke, Tintin und die Schlümpfe – alles von hier!

Wir sind täglich dabei, dieses Land noch besser zu verstehen und mit seinen Menschen lieben zu lernen. Das südländische Flair, die unzähligen Straßencafés, das leckere Essen – zum Glück haben wir noch vier Jahre Zeit! Nur eine Sache klingt ein wenig beunruhigend. Hier fragt man angeblich nicht: Wie viele Jahre sind Sie schon in Belgien? Sondern: Wie viele Kilos sind Sie schon hier? Wir sehen dem Ergebnis mit belgischer Gelassenheit entgegen!

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