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"Schluss mit dem Armutstourismus!"
Schön, wenn sich Reisende für ihr Urlaubsland wirklich interessieren. Nicht so schön, wenn dann auch noch Waisenhäuser auf dem Besichti­gungsprogramm stehen
05.12.2012

chrismon: „Kinder sind keine Touristenattraktionen“ heißt Ihre Aufklärungskampagne. Was läuft schief?

Sébastien Marot: Viele Kambodschatouristen zählen Waisenhausbesuche zu ihren regulären Sightseeingtouren. Es scheint ganz normal zu sein, ein Waisenhaus unangemeldet zu besichtigen. Wir möchten, dass das aufhört. Keiner weiß, wer die Personen sind, die einfach so hereinschneien. Es gibt nette Leute – aber nicht nur. Und es gab schon Fälle von Missbrauch. Die Kinder haben ­keine Privatsphäre und Sicherheit, wenn zu jeder Tageszeit neugierige Touristen Zutritt haben. Und die Art und Weise, wie die Waisenhaus­betreiber die Kinder benutzen, um Spenden von den Touristen zu generieren, ist unwürdig: Sie sind absichtlich ärmlich und schmutzig angezogen. Die Klassenzimmer und Schlafsäle, die vorgezeigt werden, sind besonders schlecht ausgestattet.

In Kambodscha gibt es keine Richtlinien für die Versorgung und Be­treuung von Waisen. Wer ­unter welchen Bedingungen ein Waisenheim eröffnen darf, ist unklar. Ebenso wer es wann besuchen darf. Waisenhauslizenzen sind dennoch leicht zu kriegen. ­Warum?

Es gibt Kompetenzgerangel zwischen zwei Minis­terien. Derzeit reicht es, wenn ein Dorfältes­ter einverstanden ist, ein Kind ins Waisenhaus zu geben. Das Problem hier ist, dass Waisenhäuser inzwischen wie Unternehmen betrieben werden. Jeder kann eines eröffnen und damit Gewinn ­machen. Geht es dort elend und verwahrlost zu, geben die Leute mehr, ohne zu fragen. Sehen sie gut und gepflegt aus, wirken sie weniger bedürftig, kommt  weniger Geld herein. Da haben die ­Ministerien keine Handhabe.

Spielt Korruption eine Rolle?

Sicher. Aber irgendwo müssen wir ja an­fan­gen. Wir sind wegen der unkontrollierten Tou­risten­besuche aktiv geworden.

Ausgerechnet bei einer der großen Einnahmequellen für Kambodscha...

Genau. Alarmierend ist: Im gleichen Maß, wie der Tourismus zunahm, erhöhte sich die Anzahl der Waisenhäuser: In fünf Jahren um 75 Prozent. Die ­Touristen können ja Geld spenden – sie ­müssen sich aber nicht in die Waisenhäuser drängeln.

Wer sollte denn sonst spenden, wenn nicht Ausländer, die sich vor Ort ein eigenes Bild von der Lage machen?

Auf persönlichen Kontakten zu bestehen, ist selbstsüchtig. Die Kinder sind nicht dafür da, damit die Touristen sich gut fühlen. Das macht die Kinder zu berechnenden, würdelosen Bettlern.

Wo sollen die Waisenkinder denn sonst hin?

Es wäre besser, sie gingen nach Hause zurück in ihre Dörfer.

Dort bekommen sie oft weder Schulausbildung  noch Erziehung.

Es ist achtmal billiger, ein Kind in einer Familie oder einer Dorfgemeinschaft  zu erziehen als in einem Waisenhaus. Das ist die ökonomische Seite. Die psychologische Seite ist, dass es besser für das Kind, die Familienstrukturen und die Gesellschaft wäre, die Kinder nicht aus ihrer angestammten Umgebung und ihrer Lebensrealität herauszureißen.

Was erwarten Sie von den Touristen?

Sie sollten denken! Denken, bevor sie sich für den Armutstourismus einspannen ­lassen.

Und wie können sie sinnvoll helfen?

Es wäre besser Lebensmittel, Spielzeug und Kleidung zu spenden und zu ­senden, ohne in die Falle der Waisenhausprofiteure zu laufen.

Damit ist auch nicht garantiert, dass die Gaben bei den Kindern ankommen. Es gibt Vorwürfe, die ebenfalls bedürftigen Heimmitarbeiter würden Sachspenden verkaufen – für ein privates Nebeneinkommen.

Deshalb raten wir den Touristen: Gehen Sie nicht in die Waisenhäuser. Machen Sie sich anders schlau! Unterstützen Sie die Childsafe-Network-Organisation. Überlegen Sie zweimal, bevor Sie etwas von Straßenkindern kaufen, und geben Sie weder den bettelnden Kindern noch den bittenden Müttern etwas.

Wie sollten sich die Touristen am besten informieren?

Wir haben einen Flyer und arbeiten an Apps für Reisende. So erfahren sie, wie sie zertifizierte Produkte kaufen können, die arme Eltern und ehemalige Straßenkinder produziert haben. Und bei welchen lokalen Behörden sie sich beschweren ­können, wenn sie Gefahren für die Kinder und Missstände beobachten.

Das machen die Leute nicht einmal zu Hause.

Wenn die Touristen aber helfen wollen, sollten sie etwas unternehmen, was wirklich gut für die Kinder ist. Sie ­dürfen mit ihren Besuchen kein System unterstützen, das auf die Dauer gefährlich und voller sozialer Spannungen ist und nur zum Erhalt von Waisenhäusern und zur Zementierung der Armut führt.

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