Anzunehmen, dass jemand einen liebt, kann ganz schön schwer sein. Kersten P. rang lang um die Liebe ihrer seelisch kranken Mutter, versorgte sie aufopferungsvoll, fast kam sie sich dabei selbst abhanden. Der erste Schritt war, sich zu bewegen und den Alkohol sein zu lassen, der zweite war, sich aufzurichten und andere anzusehen. Die nächsten Schritte folgten fast schon automatisch. Und schließlich fand sie auch einen liebevollen Mann
16.02.2011

Ich habe tatsächlich geheiratet. Mit 47 Jahren. Ich musste erst aufrecht werden, um zu ertragen, dass ein Mann mich liebt. Und um selbst lieben zu können.

Als ich vierzehn war, kam meine Mutter zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik. Sie hörte Stimmen. Damit war meine Kindheit auf einen Schlag vorbei. Ab da war ich die Hausfrau. Mein Vater war selten da, weil er im Schichtdienst arbeitete.

Doch dann, mit Anfang zwanzig, verliebte ich mich. Ich hatte eine feste Stelle als Erzieherin, wollte ausziehen und endlich nur noch für mich sorgen. Meine Mutter heulte: Ich könne sie doch nicht allein lassen! Da konnte ich einfach nicht gehen. Von meinem damaligen Freund, einer aus meiner Jugendclique, trennte ich mich; er war Alkoholiker. Danach wollte ich erst einmal keinen Mann mehr. Damals fing die große Fresserei an. So guckte mich bestimmt keiner an.

Mit 37 wog ich 115 Kilo

Dann starb mein Vater. Jetzt war ich ganz allein mit meiner Mutter. Sie erzählte von ihren Stimmen, manchmal schrie sie, weinte plötzlich oder motzte mich an. Ich redete mit niemandem darüber. Stattdessen fing ich an, Sekt zu trinken. Erst zwei, dann drei Flaschen jeden Abend, dazu Chips. Mit 37 wog ich 115 Kilo.

Für meine Arbeit in der Kita bekam ich viel Anerkennung von den Eltern, und die Kinder mochten mich. Ich war trotzdem allein. Abends, wenn Freunde anriefen, hatte ich nie Zeit, ich kochte ja für meine Mutter. Ich schenkte mein Leben meiner Mutter.
Aber dann ging ich mal an einem Schaufenster vorbei, zehn Jahre ist das jetzt her, und ich sah meinen Hintern, der Pullover war hochgerutscht. Es war schrecklich. Hosengröße 54, T-Shirt-Größe 56. Da wollte ich nur raus aus diesem Körper. Ich richtete ein Stoßgebet an meinen Vater: Bitte, Papa, zeig mir einen Weg!

Am Abend hockte ich wie immer vorm Fernseher und köpfte eine Sektflasche. Aber was mich sonst so angenehm bedüdelte und mir beim Abschalten half, schmeckte plötzlich richtig widerlich. Diesen Ekel habe ich genutzt. Ab da kein Alkohol, keine Chips. Ich war eisern. Und ich nahm ab.

Bestimmt auch wegen Hugo, dem Rauhaardackel meiner ­Mutter. Als sie nicht mehr rauswollte, bin ich jeden Tag mit ihm anderthalb Stunden spazieren gegangen. Die Sonne, der Flieder, andere Hundebesitzer zum Klönen – ich lebte auf. Als ich mich auf 90 Kilo runtergehungert und -spaziert hatte, ging ich schwimmen. Und niemand schaute mich abfällig an. Ich war so stolz!

Nicht mehr geduckt

Allmählich bekam ich auch eine andere Körperhaltung. Nicht mehr geduckt, Schultern nach vorn, Blick auf den Boden. Das hat aber fast sieben Jahre gedauert, bis ich aufrecht gehen konnte. Und auf einmal fragten mich fremde Menschen an der Bushaltestelle nach dem Weg oder klönten an der Kasse mit mir über das Wetter. Das machte mich auch meiner Mutter gegenüber gerader. Zum ersten Mal seit langem schaute ich sie direkt an, nahm sie sogar mal in den Arm, konnte sie als kranke Frau sehen und nicht als Mutter, die mir mein eigenes Leben verwehrte.

Und dann lernte ich Roger kennen. Er führte den Hund seiner Exfreundin Gassi. Wir waren gleich so stimmig miteinander! Nach drei Wochen hat er meinen Computer repariert. Zum Dank hab ich ihn geküsst. Er war ganz verwirrt. Dass ich mich das getraut habe! Als er mich zum ersten Mal nackt sah, hatte ich Angst. Wenn man vorher dick war, hängt ja alles, der Busen, der Bauch, die Schenkel. Aber er sagte: Das bist doch du! Der hat mich so genommen, wie ich bin. Das kannte ich nicht. Dafür fand er zuerst komisch, dass ich ihn so gern an den Händen halte. Heute kann er ohne Händchenhalten gar nicht mehr gehen.

Kurz danach kam meine Mutter ins Pflegeheim, sie war dement geworden, ich konnte sie nicht mehr versorgen. Ich heulte Rotz und Wasser, als sie abgeholt wurde. Aber dieser Tag war auch mein Glück. Jetzt konnten Roger und ich heiraten. In champagner­farbenem Brautkleid, mit hellblauem Cadillac! Und alle waren gekommen: Freunde, Kollegen, Kinder und Eltern aus meiner Kita. Sie sagten: „Dass die Kersten noch mal heiratet!“

Protokoll: Irmhild Speck

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