Foto: Yvonne Seidel
Kehrwoche in Shavei Zion
Ein Schwabendorf in Israel: Ganz im Norden des Landes fanden Amos Fröhlich und seine Nachbarn vor mehr als 70 Jahren eine neue Heimat – eine Zuflucht vor Verfolgung. Damals noch Kinder, erlebten sie die Rettung vor dem Holocaust als ein großes Abenteuer. Die Fotografin Yvonne Seidel dokumentiert seit Jahren das Leben der Juden aus Rexingen.
13.07.2011

Immer wieder ist Amos Fröhlich diesen Weg gegangen. Die Dorfstraße entlang, an der Kirche der Christen vorbei, die Treppenstufen hinauf zum Kapfweg, dann ein gutes Stück durch den Wald und endlich durchs weite Friedhofstor zu den Gräbern der Ahnen. Die brüchigen Grabsteine unterm Laubdach der Bäume erzählen auch seine Familiengeschichte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts lebten die Vorfahren in Rexingen, dem stattlichen Bauerndorf in einem engen Seitental des oberen Neckar, nicht weit vom beschaulichen Bürgerstädtchen Horb. Amos Fröhlichs Großvater war einer der Letzten, die auf diesem Friedhof zu Grabe getragen wurden. Es war am 22. Juli des Jahres 1938. Auch Amos Fröhlich stand an jenem Sommersonntag am Grab. Acht Jahre war er damals alt und hörte auf den Vornamen Walter. Das war der Name, der in der alten Heimat zu ihm gehörte. Wenige Wochen später, als in Palästina sein neues Leben begann, nahm er den Namen des Propheten Amos an.

An keinem anderen Ort Deutschlands ist einer ganzen Gruppe wie den Rexinger Juden die Flucht geglückt

Angespannte Geschäftigkeit herrschte im Dorf, als man die Existenz des Bürgers und Viehhändlers Max Fröhlich zu Grabe trug. Vor einigen Rexinger Häusern standen riesige Holzkisten, in denen Hausrat, Möbel und Handwerkszeug verstaut wurden. Und einige der Häuser, die in jenen Tagen nach und nach ihre Seele verloren, waren bereits verkauft. Aufbruchstimmung herrschte, denn ein guter Teil der Rexinger Juden hatte sich dafür entschieden, die Heimat zu verlassen. Und eine erste Auswanderergruppe hatte sich schon im Frühjahr aufgemacht nach Palästina. Auch in diesem Dorf, in dem über Jahrhunderte Juden und Christen einvernehmlich und auskömmlich beieinander und miteinander gelebt hatten, war der Frieden vergiftet durch die Schikanen der Nationalsozialisten. So gingen jene Juden, die noch Schlimmeres ahnten, ins „Gelobte Land“, um eine neue Heimat zu suchen. Zu den Entschlossenen gehörte auch Amos Fröhlichs Vater, obwohl er mit seiner jungen Familie schon seit mehr als einem Jahrzehnt im nahen Tuttlingen lebte. Dennoch zählte auch er zur Rexinger Gruppe der Auswanderer, die sich gemeinsam vor dem Holocaust retten konnten. An keinem anderen Ort in Deutschland ist einer ganzen Gruppe wie den Rexinger Juden die Flucht vor der Vernichtung geglückt.     

In Tuttlingen hatte sich Julius Fröhlich schon in den späten 1920er Jahren als Viehhändler etabliert. Die Geschäfte gingen glänzend, bevor die National­sozialisten begannen, ihn und seine jüdischen Kollegen auch geschäftlich zu ächten. Deshalb ließ er sich leicht für die Idee ­gewinnen, nach Palästina auszuwandern. Der Wunsch, „als freier Mensch auf freier Scholle im Heiligen Land“ den Neubeginn zu wagen, faszinierte den jungen Familienvater. Und die Zukunft seiner Kinder Sonja, Helmut, Walter und Eleonore war ihm dieses Wagnis wert. So gehörte er auch zu jenem Erkundungstrüppchen, das am 22. September 1937 nach Palästina reiste, um Siedlungsplätze in Galiläa zu begutachten. Sie entschieden sich für ein ­Areal nördlich der Hafenstadt Haifa. Nach der Rückkehr der ­Prospektoren unterzeichneten 16 Umsiedler aus Rexingen den Vertrag mit der jüdischen Auswandererorganisation. Ihrem schwäbischen Dorf gaben sie später den Namen „Shavei Zion“ – Heimkehr ins Gelobte Land.

Die beste Freundin von Sonja war ausgerechnet die Tochter des NSDAP-Kreisleiters

Für den halbwüchsigen Walter Fröhlich begann nun ein Abenteuer, dessen düsteren Hintergrund er in kindlicher Unbeschwertheit nicht ahnte. Denn nur wenig von dem, was die Eltern be­unruhigte, spiegelte sich in seiner Kinderwelt wider. Zwar hieß die Schule, die er besuchte, nun Horst-Wessel-Schule, und die Schüler mussten allmorgendlich den Arm zum Hitlergruß recken. Auch hatte die Haushaltshilfe Hilde von einem Tag auf den an­deren ihre Stellung aufkündigen müssen, weil es im Rahmen der „Nürnberger Gesetze“ Frauen unter 45 Jahren verboten wurde, bei jüdischen Familien zu arbeiten. „Aber nie wurden wir als Juden angepöbelt oder beleidigt.“ Und die beste Freundin der Schwester Sonja war die Tochter des NSDAP-Kreisleiters Huber. 

Im Herbst 1938 reisten die Fröhlichs dann über Zürich nach Triest und gingen an Bord der „Galiläa“, die knapp eine Woche später in den Hafen von Haifa einlief. Dort trennte sich die Familie. Die Kinder lebten in einem Heim, bis die Siedlung am Meer aufgebaut, ein Wachturm errichtet und die Baracken durch einen Palisadenzaun gegen Überfälle der Araber geschützt waren. An Rosch Haschanah, dem jüdischen Neujahrsfest, kamen auch die Kinder nach Shavei Zion, sahen zum ersten Mal die neue ­Heimat. Und wie seine Geschwister durfte sich auch Walter ­Fröhlich einen hebräischen Namen aussuchen.

Der Vater kümmerte sich um die Viehwirtschaft der Dorfgenossenschaft. In der Schule lernten die Kinder Hebräisch, im Dorf aber wurde schwäbisch gesprochen. Die Hausfrauen kochten, wie einst in Rexingen, saure Kutteln und Linsen mit Spätzle. So stärkten sie die Familien gegen das Heimweh. Harte Arbeit verdrängte die Sorge um die Daheimgebliebenen. „Von dem, was in Deutschland Schreckliches passierte“, erinnert sich Amos Fröhlich, „haben wir nichts erfahren.“ Eine Zeit lang kamen zwar noch Briefe an, die das Rote Kreuz befördert hatte, doch verbarg sich das Leid der Daheimgebliebenen hinter vorsichtigen Andeutungen. Nach dem Krieg wurde das Unfassbare offenbart. Amos Fröhlich musste nun mit dem Schmerz leben lernen, dass seine Großmutter ­Auguste in Theresienstadt ermordet worden war, dass sich die Lebensspur seines Onkels Simon und seiner Tante Martha im Konzentrationslager Riga verloren hatte.

Mit 23 Jahren wurde Amos Fröhlich Geschäftsführer der Genossenschaft Shavei Zion

Mit 17 Jahren besuchte Amos Fröhlich mit Erlaubnis der Genossenschaft die Landwirtschaftsschule. Es war zu jener Zeit, als die Araber den Norden Palästinas abriegelten und die Zufahrtsstraßen nach Shavei Zion blockierten. So war der Westen von Galiläa nur noch übers Meer zu erreichen. Auch Amos Fröhlich hat in jenen Tagen diesen Weg gewählt, um zu seiner Familie zu gelangen. Und dann geschah das: Drei Tage nach seiner Rückkehr wurde in Shavei Zion Amos Fröhlichs Schwester Sonja erschossen. „Nicht von den Arabern aus dem Nachbardorf, die waren anständig, sondern von Terroristen von außerhalb.“ Der Unabhängigkeitskrieg forderte auch von seiner Familie ein Opfer.

Gerade 23 Jahre alt war Amos Fröhlich, als er zum Geschäftsführer der Genossenschaft von Shavei Zion gewählt wurde. Und bis zum Jahr 1957 wurde er Jahr für Jahr in diesem verantwortungsvollen Amt bestätigt. Zu jener Zeit hatte er davon gehört, dass es in Bayern möglich sei, als Volksschüler das Abitur nachzuholen. Also entschloss er sich, diese Chance zu nutzen. Im Dorf stieß sein Vorhaben teils auf Verwunderung, teils auf schroffe Ablehnung. Doch ließ sich Amos Fröhlich nicht beirren. „Beim Abschied war ich sicher, dass ich in ein paar Mo­naten wieder zurück sein würde, aber dann sind acht Jahre daraus geworden.“

Denn nach dem Abitur studierte er in München Tiermedizin, und während seiner Zeit in Deutschland heiratete Amos Fröhlich auch. Auf einer Deutschlandtour hatte er seine spätere Braut als Anhalterin im VW-Käfer mitgenommen. Die junge Gila stammte aus Dresden und arbeitete in einem Münchner Krankenhaus. 1964 ließen sich Amos und Gila in der bayerischen Hauptstadt von einem Rabbiner trauen; sie hatte zuvor den jüdischen Glauben ange­nommen. Nach dem Examen arbeitete Amos Fröhlich zunächst als Veterinär in der Schweiz, 1965 kehrte er mit seiner jungen Familie nach Israel zurück. Aufs Neue kümmerte er sich um den Vieh­bestand der Genossenschaft, der über Jahrzehnte eine sichere Einkommensquelle für die Siedlung war. Überdies war er als Tierarzt für die ganze Region des unteren Galiläa verantwortlich. Ende der 1990er Jahre aber kam das Ende der Milchwirtschaft und der Bullen­mast in Shavei Zion. Und Amos Fröhlich ging in Pension.

"Nie hat man von den Rexingern ein Wort des Bedauerns gehört"

Schon als Münchner Student hatte Amos Fröhlich die Heimat der Vorfahren besucht. Auf dem Rexinger Rathaus holte er den Schlüssel fürs Friedhofstor, und vor den Gräbern stiegen aus der Erinnerung die Bilder einer fernen Kindheit auf. Dann hat er den Schlüssel wieder abgegeben und ist gegangen. „Nie hat man von den Rexingern ein Wort des Bedauerns gehört.“ Was sie sagten, war immer dasselbe: „Mir hend nix g’wisst!“ An Amos Fröhlichs Vater aber konnten sie sich noch gut erinnern. Selbst an dessen Spitznamen „Balbusele“, der so viel bedeutet wie Hausbesitzer. „Und dann haben wir auch noch hören müssen, dass die Sachen nicht recht waren, die die Leute im Dorf von den Juden für billiges Geld gekauft haben, bevor sie sich auf den Weg machen mussten in die Todeslager.“ Das konnte Amos Fröhlich nicht begreifen. Er war fassungslos, hat sich „geschämt für die Rexinger“.

Inzwischen fährt Amos Fröhlich ohne Beklommenheit nach Rexingen. Das hat er den engagierten Mitgliedern des Synagogenvereins zu verdanken, die 2008 mit einer großen Ausstellung an die gemeinsame Auswanderung der Rexinger Juden nach Palästina erinnert haben. Seither ist Rexingen für Amos Fröhlich wieder ein Ort der Einkehr. Seine Heimat aber ist Shavei Zion. Eine Heimat, die ihm  Sorgen macht: Er bangt um die Zukunft Israels, das immer noch zum „Verteidigungskampf um die Existenz“ genötigt sei. 

Im Überseecontainer waren etliche Besen für die Kehrwoche

Alisa Klapfer, die wie Amos Fröhlich bis heute in Shavei Zion lebt, hat das Abenteuer Auswanderung ebenfalls als Kind erlebt. Ihr Vater, der Viehhändler und Landwirt Alfred Preßburger, war einer der Initiatoren der Übersiedlung nach Palästina gewesen. Schwäbisch gewissenhaftig hatte er sich gemeinsam mit seiner Frau Resi auf den Neuanfang vorbereitet. Die Bestückungsliste ­seines Überseecontainers ist bis heute erhalten. Sie ist ein an­rührender Beweis dafür, dass er den festen Vorsatz hatte, die schwäbische Alltagskultur an der Mittelmeerküste zwischen Asien und Afrika heimisch zu machen. Neben Beißzangen, Holzbeilen, Heugabeln und allerlei anderen Gerätschaften verzeichnet die Werkzeugliste vier Straßenbesen, also Stoßbesen, und zwei Sorgho­besen, Strohbesen. Und bis vor wenigen Jahren noch radelte Alisa Klapfer auf jenem Fahrrad durch Shavei Zion, das der Vater vor der Auswanderung vom Erlös seines Motorrads gekauft hatte.

Mit seinem Besensortiment nach Kräften für Sauberkeit zu sorgen in der neuen Heimat, blieb Alfred Preßburger versagt. Wenige Wochen nach seiner Ankunft in Palästina starb der ­Pionier des Auswanderungsunternehmens an einer Infektion im Krankenhaus von Haifa. Er war der Erste, den man in der neuen Heimat zur ewigen Ruhe bettete.

 

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Ja, ist es denn die Möglichkeit? In einer christlichen Zeitschrift wird heute (August 2011) noch in der Sprache und der Sichtweise von 1938 über Neusiedlungen in Palästina durch jüdische Einwanderer berichtet. Von der Bevölkerung des Landes, den Arabern/Palästinensern, wird nur erwähnt, dass sie mit Überfällen auf die neuen Siedlungen beschäftigt sind, dass sie die Zufahrtstraßen zur neuen Siedlung blockierten und einige, die nicht „anständig, sondern Terroristen von außerhalb“ waren, erschossen sogar eine Siedlerin. Durch das Fehlen jeglicher kritischer Selbstreflexion des Zeitzeugen und das Fehlen jeglichen korrigierenden und ergänzenden Kommentares des Journalisten zeigt dieser Artikel eine unerträgliche, verfälschende Einseitigkeit. Seine Aussagen entsprechen eher der offiziellen israelischen Geschichtsschreibung als dem bestens dokumentierten tatsächlichen Geschehen. Hat der Siedler Amos Fröhlich nie ein verlassenes arabisches Dorf gesehen? Hat er sich nie darüber Gedanken gemacht, warum Araber ihr Zuhause, ihre Heimat verlassen haben? Hat er nie davon gehört, dass Flüchtlinge gelegentlich heimlich zurück kommen, um noch etwas aus ihrem Haus zu retten? Weiß er bis heute nichts davon? Ist der Journalist Helmut Engisch wirklich überzeugt, dass er mit seinem Artikel in dieser Form etwas Gutes für uns und Israel tut? Weiß er nichts anderes von der Besiedlung? Ist die Redaktion einer christlichen Zeitschrift wirklich einverstanden damit, dass dem Vorurteil, Araber seien Terroristen, hier noch Vorschub geleistet wird? Sollte eine christliche Zeitschrift nicht vielmehr alles daran setzen, dass über die Ungerechtigkeiten bis hin zu Verletzungen der Menschenrechte gegenüber den Palästinensern in Israel und vor allem in den besetzten Gebieten endlich korrekt berichtet wird? Jan Teich, Hamburg
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Amos Fröhlich,der Freund aus fröhlichen münchner Studententagen und vielen nächtlichen lebhaften Diskussionen,der mit seiner Gila und den Kindern die heute erwachsen sind ein Leben lang treuer Freund blieb! Es ist schön so einen freundlichen Artikel über Dich und die Deinen zu lesen und dabei an wunderschöne Besuche in ShavejZion und Eure Besuche bei uns erinnert zu werden.Dass man sich Sorgen um die Zukunft Eures schönen Landes macht,das Eure Elterngeneration mit soviel Herzblut zum blühen brachte ist doch wohl legitim,Herr Teich aus Hamburg! Wenn Sie übrigens von Ihrer Kindheit erzählen,zerfleddern Sie dann immer gleichzeitig die Schwierigkeiten die Friesland mit den Dänen hatte?"Lever dot as Slav"?Und,wann waren Sie denn das erste bezw.das letzte Mal in Israel und Palestina?Machet sie´s halblang!
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Ev Dehmel (nicht überprüft) schrieb am 27. September 2011 um 17:13: "Und,wann waren Sie denn das erste bezw.das letzte Mal in Israel und Palestina?" ------------------------- Ich habe keine Ahnung, ob der angesprochene Herr Jan Teich monatlich einmal in diese Gegend fährt oder ob er sein ganzes Leben in Hamburg verbracht hat. Es ist mir auch völlig egal. Er hat nämlich Argumente in seinem Beitrag gebracht. Diese gilt es zu überprüfen. Die versuchte Stimmungsmache nach der Melodie, nur derjenige könne über die Todesstrafe was Vernünftiges aussagen, der schon mal hingerichtet wurde, ist ebenso verbreitet wie verkehrt.
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Herzlichen Dank für Ihren Bericht über Shave Ziyyon. Die Herren Amos und Jakob Froehlich, Werner Neufliess, Marx und Dr. Scheurer waren 1962 Gastgeber von unser Gruppe, Abiturienten aus dem Kepler-Gymnasium in S-Bad Cannstatt. Durch Vermittlung des damaligen Altbundespräsidenten Professor Heuss besuchten wir als erste Jugendgruppe nach dem Krieg insbesondere Shave Ziyyon, eine besondere Form der Gemeinschaftssiedlung, damals mit eigener Währung. Bei unseren Gesprächen wurden viele alte Wunden der Rexinger Juden aufgerissen, aber wir haben dabei auch gelernt, ohne Angst in die gemeinsame letzte Vergangenheit zurückzublicken.

 

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