Siddhartha, Kristina, Seyhan in der Schillerschule in Augsburg. Foto: Monika Höfler
Aufbruch der Spätzünder
Sie haben nicht den allerfeinsten Schulabschluss, manche haben auch Ehrgeiz erst kürzlich entdeckt. Aber jetzt sind sie da. Und wollen was werden! chrismon hat sieben junge Leute besucht, ein Jahr nach der Hauptschule
Tim Wegner
13.04.2011

Hauptschüler können nicht rechnen, sie pöbeln ihre Lehrer an, sie haben keine Lust, sich anzustrengen – Restschüler, aus denen eh nichts wird. So in etwa sieht das Bild aus, das von Hauptschülern kursiert.

Und dann sitzt man Denis gegenüber, der höflich darum bittet, man möge ihm wenigstens die Chance geben, zu zeigen, was für ein guter Herrenmodeverkäufer er sein kann. Oder Bonnie, deren Wunsch, Ärztin zu werden, bei Erwachsenen regelmäßig Gelächter auslöst. Oder Siddhartha, der sich sehnlichst eine Lehrstelle als Fachkraft im Gastgewerbe wünscht. Lauter junge Menschen, die was werden wollen.

Denis, Bonnie, Siddhartha sowie Seyhan, Denizcan, Yonca und Kristina haben die Hauptschule in Augsburg-Lechhausen besucht. Ja, einige von ihnen haben die Schule in der Pubertät schwer schleifen lassen, sie haben Klassen wiederholt und erst im letzten Jahr zu lernen angefangen. Aber jetzt stehen sie bereit, sie wollen ­gebraucht werden. Was ist aus ihren Hoffnungen geworden, ein Jahr nach der neunten Klasse? Haben sie Tritt gefasst?

Denis möchte einfach nur Herrenmode verkaufen

Die Familie von Denis stammt aus Serbien, der Vater fährt für eine Bäckerei aus, die Mutter putzt im Klinikum. Denis ist ein freundlicher 17-Jähriger, der Erwachsenen die Tür aufhält. Und er ist, wie seine Lehrer von Schulfesten wissen, ein begnadeter Conférencier und Michael-Jackson-Imi­tator. Aber beruflich will er, ganz boden­ständig, Einzelhandelskaufmann werden. „Ich brauch Abwechslung, im Laden hat man die, weil immer andere Kunden ­kommen. Und es macht mir Spaß, mich auszukennen und Kunden zu beraten.“

Sein Plan am Ende der Schulzeit: eine Lehre in einem Mode- oder Elektronikfachgeschäft, dabei die mittlere Reife holen und sich später zum Abteilungsleiter hocharbeiten. Er rechnet sich gute Chancen aus, schließlich hat er den „qualifizierenden Hauptschulabschluss“, sozusagen einen Abschluss mit Stern.

Über 40 Bewerbungen hat er geschrieben, viele persönlich abgegeben, damit sich die Firma schon mal einen Eindruck verschaffen kann. Nichts, kein Ausbildungsplatz. „Ich hab nicht mal die Chance bekommen, in einem einwöchigen Praktikum zu zeigen, was ich kann.“ Warum er nur Absagen bekam, er weiß es nicht, auch ­seine ehemaligen Lehrer sind ratlos.

Jetzt ist er in in einer „berufsvorbe­reitenden Bildungsmaßnahme“ beim ­Kolpingwerk. Eignungsanalyse, Praktika, Bewerbungen. Auch im Kindergarten ­arbeitete er vier Wochen. Es hat ihm Spaß gemacht. „Aber für das, was man da alles leisten muss, und dafür, dass ich zwei Jahre Schule bis zum Kinderpfleger brauche und dann noch mal drei bis zum Erzieher, ist es zu wenig Geld. Als Mann, da bin ich ganz ehrlich, will ich schon was verdienen.“

Im Winter, endlich, durfte er fünf Wochen zum Praktikum bei seinem Wunscharbeitgeber, dem angesehenen Modekaufhaus Wöhrl. „Ich hab verkauft, als wäre ich ein ganz normaler Verkäufer! Ich habe viel Lob vom Abteilungsleiter der Herrenabteilung bekommen. Der fand auch, dass ich gut reinpasse ins Team.“ Und dann durfte er sogar an einem Bewerbungsgespräch für eine Lehrstelle teilnehmen. Denis war überglücklich.

Vielleicht doch bei Lidl bewerben?

Im Frühjahr kam die Absage: Man habe sich für zwei andere Jugendliche entschieden. Denis könne aber gern ein einjähriges Praktikum machen, danach werde man neu entscheiden. Denis ist deprimiert. Ein weiteres Jahr warten, bis es dann vielleicht doch wieder nichts wird? Er speckt seine Wünsche ab: Aus der Traum vom Kaufmann in der Elektro- oder Modebranche; er wird sich bei Lidl, Tengelmann und Co bewerben, als Kaufmann im Lebensmittel­einzelhandel.

„Das ist eine gute Idee, denn bei den großen Supermärkten hat man durchaus Aufstiegsmöglichkeiten“, findet Friederike Schneider. Sie ist Sozialpädagogin an der Schillerschule in Augsburg-Lechhausen und hat Denis und die anderen Neuntklässler bei der Berufswahl beraten. Es ist ein Balanceakt, den sie zu meistern hat: den Jugendlichen nicht all ihre Träume zu nehmen und sie zugleich auf realistische Berufsziele zu verweisen.

Theoretisch steht Jugendlichen mit Hauptschulabschluss eine Vielzahl an Berufen offen, in der Realität aber nehmen die Arbeitgeber meist lieber die mit mitt­lerer Reife. Und die Handwerksberufe, bei denen Hauptschüler eine Chance haben – wie etwa der zukunftssichere Anlagen­mechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik – sind in der Stadt nicht hoch angesehen, erzählt Beraterin Schneider.

Selbst Floristinnen sollen die Mittlere Reife haben

Hinzu kommt, dass 74 Prozent ihrer Schüler und Schülerinnen aus Einwandererfamilien kommen, und diese Eltern seien sehr auf Aufstieg und sozialen Status bedacht: Ihre Töchter sähen sie gern im Büro oder in medizinischen Berufen, die Söhne in der Industrie als Mechaniker. Doch in diese Berufe drängen schon ge­nügend Jugendliche mit mittlerem Bildungsabschluss. Selbst für die Floristin wünschen sich Betriebe heute die mittlere Reife. Nur Gärtnerin, das geht auch mit Hauptschulabschluss.

Seyhan träumt von der Banklehre

Seyhan aber wollte Bankkauffrau werden. Sie schwärmt noch heute von ihrem Praktikum bei der Stadtsparkasse: „Ich durfte alles machen! Am Schalter Überweisungen ausfüllen, wenn die Kunden es nicht wussten, bei einem Kreditberatungsgespräch dabei sein – ein Traumjob.“ Doch dann war sie „ein bisschen zu faul“ und musste von der Realschule auf die Hauptschule.

„Ein Weltuntergang“, sagt Seyhan, „ich hab mich so geschämt.“ Sie auf der „Restschule“, bei den Hauptschülern, die keine Lust haben, was zu machen! Doch die Wirklichkeit sei ganz anders gewesen: Alle in ihrer Klasse hätten sich angestrengt, weil sie einen Beruf haben wollten. Nur gebe ihnen keiner eine Chance. „Aber jeder Mensch ändert sich, jeder kann sich ent­wickeln“, sagt die mittlerweile 18-Jährige. Das habe sie doch an sich selbst erlebt.

Seyhan kam erst als Siebenjährige aus der Türkei nach Deutschland, die Mutter hatte einen Deutschtürken geheiratet. Ein schwieriger Start: „Ich konnte kein Wort Deutsch, ich hab nichts geredet. Und dann war ich noch sehr klein. Die anderen mobbten mich.“ Ganz allmählich jedoch sei sie zu einem Mädchen mit einem „sehr starken Charakter“ geworden. Sie sei direkt und ehrlich; sie könne gut argumentieren und gut organisieren; gut in Mathe ist sie sowieso immer gewesen.

Also hielt Seyhan auch auf der Hauptschule an ihrem Traum fest und bewarb sich mit dem Halbjahreszeugnis – Schnitt 1,6 – für eine Ausbildungsstelle als Bankkauffrau. Sie wurde auch eingeladen, zu Tests und Assessmentcentern. Doch dann hagelte es Absagen. Die Kreissparkasse schrieb, ohne mittleren Bildungsabschluss gehe gar nichts. Seyhan war geknickt.

"Die haben verloren, nicht ich!"

Mittlerweile sagt sie trotzig: „Die haben verloren, nicht ich.“ Dann geht sie eben weiter zur Schule! In zwei Jahren wird sie die Wirtschaftsschule mit der mittleren Reife abschließen und außerdem viel ­Ahnung haben von Finanzbuchhaltung, Unternehmensformen und Investitionskrediten.

Und der Traum von der Bankkauffrau? „Ist zu Ende.“ Neulich habe ein ehemaliger Schüler von seinen Erfahrungen als Bankkaufmann berichtet: dass man die Kunden manchmal belügen müsse, dass man sich aber daran gewöhne. „Ich würde mich nicht daran gewöhnen“, sagt Seyhan empört, „das ist doch kein ehrlicher Beruf!“
In der Autoelektrik-Übungsfirma ihrer Schule „handelt“ sie gerade in einer simulierten Geschäftswelt mit anderen Wirtschaftsschulen. Vielleicht, überlegt sie, mache sie in den Ferien ein Praktikum im BMW-Laden bei ihr um die Ecke, Auto­mobilkauffrau klinge nicht schlecht. Eins steht jedenfalls fest: „Am Ende werde ich auf jeden Fall was.“

Seyhans einstige Deutschlehrerin Heide­marie Brosche seufzt, als sie diese Neuigkeiten aus Seyhans Leben hört: „Sie ist wirk­lich eine Kämpferin! Aber es wäre gut, wenn sie von der Fixierung auf die Bankkauffrau wegkäme.“

Hart: Berufsorientierung schon mit 12 Jahren

Die Lehrerin beneidet die Jugendlichen nicht. Es sei hart, sich in diesem Alter für einen Beruf entscheiden zu müssen. „Meine älteren beiden Söhne hatten ihre tiefsten Krisen in einem Alter, in dem ich meine Schüler bereits entlasse. Heute studieren meine Söhne, aber damals waren sie noch überhaupt nicht gefestigt.“ Hauptschüler jedoch müssen sich schon ab der siebten Klasse mit Berufsorien­tierung beschäftigen. Und die 12- bis 14-Jährigen bekommen dann dauernd zu hören: Seid nicht so kindisch, ihr müsst reifer werden!

Kristina möchte nicht so schnell erwachsen werden

Kristina hat die Berufsorientierung so erschreckt, dass sie am liebsten gar nicht erwachsen werden möchte. „Ich weiß doch nicht, was mir mein ganzes Leben lang ­gefallen könnte!“ Mit 15 machte sie ihr ­erstes Praktikum, in einem Kaufhaus: Das Stehen, die Dauermusik, die Kunden, die alles aus den Regalen rissen, was sie dann aufräumen musste – „Gott bewahre und Schreck lass nach! Ich will was Besseres.“

Dafür, dass sie was Besseres kriegt, steht sie jetzt jeden Tag um fünf Uhr auf und fährt mit drei Mal Umsteigen zwei Stunden nach München, zu einer öffentlichen und damit kostenlosen Wirtschaftsschule. Abends fällt Kristina todmüde ins Bett. Aber alles besser, als jetzt schon auf den Arbeitsmarkt treten zu müssen, findet die 17-Jährige. „In der Schule ist man irgendwie sicher, man weiß, wie es weitergeht.“ Und bitte, man möge sie duzen.

Im Herbst wird sie 18. „Muss ich dann von zu Hause ausziehen?“, hatte sie jüngst besorgt ihre Mutter gefragt. Natürlich nicht, hatte die geantwortet, „du kannst bei uns bleiben“. Geborgenheit ist Kristina sehr wichtig. Als sie neun war, zog die Familie von Kasachstan nach Deutschland. Die zurückbleibende Großmutter stand am Flughafen hinter einer gläsernen Wand, sie sagte noch etwas, aber man konnte es nicht verstehen – wie im Stummfilm. Nur alle paar Jahre reicht das Geld für eine Reise nach Kasachstan. Die Mutter arbeitet an der Supermarktkasse, der Vater baut Lkw-Anhänger zusammen.

Lieber weiter zur Schule gehen

Und was soll aus Kristina werden? Die zeichnet in ihrer spärlichen Freizeit Mangas. „Das sind die Mädchen mit den Glubschaugen“, erklärt sie. Ganze Geschichten erzählt sie auf diese Weise. Auf einer Manga-Homepage ist sie für 500 Fans die Favoritin. Als sie neulich in der Wirtschaftsschule freihändig gerade Li­nien zog, war der Lehrer beeindruckt. „Ja, ich kann’s“, sagt Kristina, „aber technisches Zeichnen interessiert mich nicht.“

Dann wird sie lieber, ihre neueste Idee, Fachlehrerin für Werken, Kunsterziehung und Kommunikationstechnik. Dafür reicht die mittlere Reife, die entsprechende Schule ist praktischerweise in Augsburg – und, Kristina grinst, sie dürfte weiter zur Schule gehen.
50 Jugendliche waren zuletzt in den neunten Klassen an der Schillerschule in Augsburg. Nur 20 davon haben auf Anhieb einen Ausbildungsplatz gefunden, ent­weder in einem Betrieb oder in einer Berufsfachschule. Acht wiederholen die ­Klasse, zwei gehen auf eine weiterführende Schule. Und die anderen 20 Jugendlichen? Die meisten sind in „berufsvor­bereitenden Bildungsmaßnahmen“.

Siddhartha trägt drei Teller und hofft auf eine Lehrstelle

So wie Siddhartha. Dabei hatte er noch nicht mal hochfliegende Pläne, er wollte einfach nur Fachkraft im Gastgewerbe werden. Das Praktikum gefiel ihm, viel besser als Autolackierer („nicht abwechslungsreich“) oder Altenpflegehelfer („Leuten beim Duschen helfen, jeden Tag, das möchte ich nicht“). Auch sein indischer ­Vater ist Kellner, und seine österreichische Mutter arbeitet in der Kantine von MAN.

Doch kein Restaurant stellte Siddhartha als Azubi für diese zweijährige Ausbildung ein. Das kränkt ihn. Aber Siddhartha ist ein heiterer, ein gutmütiger Mensch. Jetzt macht der 17-Jährige eben ein Langzeitpraktikum in einem Gasthaus mit bodenständiger deutscher Küche. „Einstiegs­qualifizierung Jugendlicher“, so heißt diese Maßnahme. 216 Euro bekommt er dafür im Monat, nicht vom Arbeitgeber, sondern von der Arbeitsagentur.

Drei Teller kann Siddhartha schon ­tragen, vier sind das Ziel. Neulich bekam er Extralob, als er zwei Tafeln für 16 Gäste alleine eingedeckt hatte, inklusive Ser­viettenfalten, das Besteck natürlich immer einen Daumen breit über der Tischkante und die Wassergläser in direkter Verlängerung der Messer. Auch mit unhöflichen Gästen weiß er umzugehen: „Ich bleibe ­ruhig und setze ein falsches Lächeln auf.“ Am Tempo allerdings müsse er wohl noch arbeiten. Aber er ist stolz, schließlich war er in der ersten Klasse wegen motorischer Schwierigkeiten auf einer Förderschule.

Jetzt setzt er seine ganze Hoffnung da­rauf, dass ihn der Chef am Ende des Prakti­kums als Azubi nimmt. „Ich streng mich schon mehr an als früher“, sagt Siddhartha. Sein Fernziel: mal auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten – auch wenn er seine Eltern bestimmt sehr vermissen werde.

Kleine Menschen, die nach Anerkennung lechzen

Neulich erzählte Heidemarie Brosche, Siddharthas einstige Deutschlehrerin, den Mitgliedern des Lions Club von ihren Schülern und Schülerinnen. „Die Honoratioren hingen richtig an meinen Lippen, als ich sagte, dass das keine Nullbockalles­egals sind, sondern kleine Menschen, die – wie wir alle – nach Anerkennung und Zufriedenheit lechzen. Aber wenn sie zu uns in die Schule kommen, haben sie oft schon viel erlebt, schwierige familiäre ­Geschichten, Geschichten von Migration, Flucht, Arbeitslosigkeit, auch von Gewalt. Und wir verlangen von ihnen, dass sie einfach funktionieren.“

Sie funktionieren aber nicht, sondern sind phlegmatisch, ängstlich, desinteressiert, ohne Biss – und so ernten sie in der Schule oft nur Misserfolge. Manche resignieren dann vollends. Ein Teufelskreis, den Heidemarie Brosche wenigstens an einer Stelle durchbrechen wollte. Aufgeben gilt nicht, so könnte man ihr Motto als Lehrerin umschreiben. Also schob sie ein gewaltiges Projekt an: Ihre neunte Klasse sollte ein Buch über sich selbst schreiben und es auch selbst produzieren, inklusive Layout, Kalkulation, Vertrieb, Marketing...

Es war viel Arbeit, vor allem für die ­Lehrerin. Aber das Buch ist tatsächlich erschienen. „Heaven, Hell & Paradise“ heißt es. Auch Gelder von der Bundesinitiative „Stärken vor Ort“ konnte Brosche ergattern. „Und ich glaube, die Saat ist aufgegangen“, sagt sie. Viele hätten ein anderes Bild von sich bekommen: Ich kann was, und deshalb will ich jetzt auch was! Sogar öffentlich vorgelesen haben die Jugendlichen aus dem Buch, etwas, was ihnen ­niemand zugetraut hätte.

Bonnie blieb schon in der Grundschule sitzen

Bonnie, eine der wenigen Deutschstämmigen in der Klasse, ist so eine, der kaum noch jemand etwas zugetraut hatte. Schon in der Grundschule sitzengeblieben, erneut in der sechsten Klasse. Und dann will sie auch noch Ärztin werden!

„Mir war damals alles egal“, sagt Bonnie. Oft kam sie Stunden zu spät zur Schule. Ob es mit der Scheidung der Eltern zusammenhing, keine Ahnung, irgendwann habe es klick gemacht, sie fing an zu lernen. „Denn für alles, was mir gefällt, muss man studieren.“ So schaffte sie den Übergang auf den Mittlere-Reife-Zug an der Hauptschule.

Psychologie und Medizin, das interessiert sie. Schulsanitäterin ist sie bereits. Neulich, bei einer Veranstaltung, war sie unter lauter Erwachsenen die Einzige, die wusste, was zu tun war, als ein Mann einen epileptischen Anfall erlitt: „Stabile Seitenlage, Rettungswagen rufen und was zwischen die Zähne legen, damit sich der Mann nicht die Zunge durchbeißt.“

Jetzt will sie Ärztin werden. Schafft sie das?

Dass es ein langer Lauf wird bis zum Studium, ist Bonnie klar: erst die mittlere Reife, dann weiter auf die Fachoberschule, dort in der 12. Klasse das fachgebundene Abitur mit mindestens der Note 2,8 machen, damit sie in die 13. Klasse gehen darf, um das allgemeine Abitur abzulegen. „Das habe ich vor“, sagt Bonnie und linst unter ihrem Haarvorhang hervor, ein bisschen verlegen, aber auch entschlossen.

Und dann würde sie sich gern auch ihren zweiten Traum erfüllen: einen kleinen Konzertflügel. Bislang spielt sie auf einem Keyboard, nach Gehör und ohne Unterricht. „Ein bisschen Klassik sollte man schon kennen“, findet Bonnie. Zum Beispiel Beethovens „Pathétique“. Öfter aber spielt sie Modernes wie „Coming Home“ von Puff Daddy, dem schwarzen Rapper.

Heidemarie Brosche hält viel von Vi­sionen. „Wer einen starken Willen hat und ein Ziel, der schafft vielleicht mehr als jemand, der hochintelligent ist, aber ohne Ziel.“ Die Lehrerin hat schon viele unerwartete Lebensverläufe gesehen. So malt sie sich aus, wie sie dereinst als Rentnerin mit Herzbeschwerden zum Internisten geht und dann vor Frau Dr. Bonnie steht.

Yonca ist verzweifelt

Während Bonnie einen geraden Weg vor sich sieht, hat sich Yonca im Gestrüpp verlaufen. Zum Schulende hin sah es so gut für sie aus: Sie hatte eine Lehrstelle als ­Bürokauffrau ergattert, der Traumjob aller Hauptschülerinnen. Ja, sie ist gewandt und überhaupt nicht verlegen im Umgang mit Erwachsenen. „Und ich mag es, zu tele­fonieren und Dinge zu ordnen.“

Doch dann wird ihr in der Probezeit gekündigt. „Vielleicht war ich zu langsam?“ Gleichzeitig ist sie fast schon froh über die Kündigung, denn die kleine Firma vertreibt CDs, die das Unterbewusstsein neu programmieren sollen, das war ihr nicht geheuer.
Und nun? Eltern stehen ihr nicht zur Seite. Die Mutter war 16 bei Yoncas Geburt, Yonca wuchs im Kinderheim auf. „Es gibt keine Ebene zwischen uns, sie ist zu jung.“ Noch lebt sie in einer Jugendwohngemeinschaft, aber da muss sie jetzt raus, denn sie ist 18. „Wie soll ich das nur alles schaffen?“ Hals über Kopf heuert sie als Lehrling bei einem Friseur an. „Ich muss doch was arbeiten!“

"Ich bin so doof gewesen früher!"

Bitter rechnet Yonca mit ihrem bis­herigen Leben ab: „Immer heißt es: Man lernt nicht für die Schule, sondern für sich selbst. Früher konnte ich das nicht verstehen. Aber jetzt! Ich wollte immer nur raus und hübsch sein, hab nur an Freunde gedacht.“
Nur wenn sie ans Fußballspielen denkt, wo sie mit Leib und Seele im Mittelfeld rackert, hellt sich ihre Miene auf, allerdings nur für kurz. „Ich wünschte, ich wäre noch mal in der ersten Klasse. Ich bin so doof gewesen früher. Hätte ich bloß! Jetzt ist es auch zu spät.“ Die Tage darauf geht sie nicht mehr ans Handy.

Denizcan war "Wackelkandidat"

Wie viel aufgehobener fühlt sich dagegen Denizcan, 17, bei seinen türkischstämmigen Eltern. Der Vater hat eine kleine Autowerkstatt, die Mutter ist Bürokauffrau. „Mamas Essen“, seufzt Denizcan wohlig. Heute, als er von der Arbeit kam, gab es Chicken Nuggets. Ja, er muss nicht mehr um Einlass in die Arbeitswelt bitten, er ist schon drin. Aber es war knapp.

Er hatte ein Praktikum bei einem Nutzfahrzeug-Familien­unternehmen gemacht, das Spezialaufbauten für Lkws entwickelt – Waldfahrzeuge zum Beispiel, Feuerwehrkräne, Hubarbeitskörbe für Straßenbauämter. In den Osterferien ging er gleich noch mal für eine Woche hin, „damit die erleben, wie du arbeitest und wie du mit den Kollegen klarkommst“.

Das war strategisch klug, denn tatsächlich bot ihm die Firma am Ende eine Lehrstelle als Karosserie- und Fahrzeugbau­mechaniker an. Unter einer Bedingung: dass er den qualifizierenden Hauptschul­abschluss schafft. Doch Denizcan schaffte ihn nicht. Es flossen Tränen.

Der Betrieb wollte ihn trotzdem nehmen – wenn er sich in den drei Monaten Probezeit besonders anstrenge, auch in der Berufsschule. „Das habe ich gemacht, in der Berufsschule gehöre ich zu den Guten“, sagt Denizcan. „Und ich bin auf der Arbeit länger geblieben, schon in der ersten Woche. Weil ich zeigen wollte, dass ich meine Sachen selbstständig fertig kriege und dass ich diesen Beruf wirklich möchte.“

"Ich hab was aus meinem Leben gemacht"

Aber wie taten ihm anfangs die Füße weh vom stundenlangen Stehen! Die Feier­abende sind jetzt immer gleich: duschen, essen, bisschen fernsehgucken, Playstation spielen, dann ab ins Bett. Damit er um 5:30 Uhr wieder fit ist. Die Mutter steht mit ihm auf, um ihm Frühstück und belegte Brötchen für die Pause zu machen.

„Ich bin kein Wackelkandidat mehr“, sagt Denizcan stolz, „ich hab was aus meinem Leben gemacht.“ Jetzt redet er, der Erfahrene, streng mit seinem Cousin, der gerade in der neunten Klasse an der Hauptschule ist: Fang endlich an mit Bewerbungen, jetzt!

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Mit großem Interesse habe ich die Bemühungen der " Spätzünder " gelesen.Schon sehr lange mache ich mir Gedanken darüber, warum Firmen, die doch angeblich ausbilden wollen, die Einstellungskriterien so hoch schrauben,dass man den Eindruck bekommt, sie wollen gar nicht von der " Pike auf " ausbilden, sondern perfekte, einsatzbereite Mitarbeiter haben. Ich habe selbst vier Kinder und kann ein Lied davon singen, was es für Eltern bedeutet, Kinder zu erziehen, zu lieben, ihnen Bildung und Werte zu vermitteln. Drei meiner Kinder konnten aufgrund ihrer guten schulischen Leistungen studieren und sich dadurch eine gute Basis für ihr eigenes Leben schaffen. Für ein Kind konnte ich, trotz unzähliger Bemühungen letztendlich nur eine einfache Lehrstelle ergattern. Es war für meinen Sohn ein völlig ungeeignetet und ungeliebter Beruf in der Metallbracnche. Sein Wunsch Bäcker zu lernen scheiterte an der Tatsache, dass Abgänger mit Zeugnis der Klasse 8 überall abgelehnt wurden. Ich habe mich immer daran erinnert, wie es bei mir gewesen ist. Damals, ich war fast noch ein Kind (knapp 14 Jahre alt,) lernte ich Fachverkäuferin, ebenfalls nicht mein Traumberuf, aber ich wurde gut ausgebildet und konnte später durch Qualifizierungsmaßnahmen und Abendstudium Handelsassistentin und Berufsausbilderin werden. In einem großen Kaufhaus habe ich als Verkaufsabteilungsleiterin gearbeitet, war auf Messen im In- und Ausland tätig und kann zurückblickend sagen, jeder noch so kleinste Erfolg treibt uns an mehr Branchenwissen zu erobern, wodurch auch das Unternehmen reichlich profitiert.
Mit vielen Grüßen R. Starke

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Liebe Seyhan, lieber Denis, liebe Kristina, lieber Siddharta, liebe Bonnie, liebe Yonca, lieber Denizcan,
ich schreibe euch, weil ich sehr beeindruckt von jeder einzelnen eurer Biografien in der heutigen Ausgabe der CHRISMON
bin. Haltet an euren Plänen und Zielen fest! Ich bin überzeugt, dass jeder von euch seine Chance bekommen
wird - denn auf Dauer kann niemand eine solche Willenskraft und einen solchen Elan übersehen.
Ich bin Lehrerin an einem Gymnasium und weiß nur zu gut, dass meine Schülerinnen und Schüler es viel viel leichter
haben, einen Ausbildungsplatz oder einen Studienplatz zu ergattern, wenn sie erst einmal das Abitur geschafft haben.
Ich weiß aber auch, wie vielen von ihnen ein Ziel vor Augen fehlt und wie viele aus diesem Grund nicht wirklich vorankommen.
Manchmal ist es auch so, dass es gar nicht die Schüler selbst sind, die aufs Gymnasium wollen, sondern ihre
Eltern, die ihnen von Beginn an eine Menge Druck machen, ohne dass es etwas bringen würde. Denn tatsächlich lernt
man nur etwas, wenn man es selbst will.
Ihr bringt also, unabhängig davon, was viele der Arbeitgeber glauben, die besten Voraussetzungen mit: Wer motiviert
ist und Freude am Lernen und an der Arbeit hat, der wird nicht nur selbst sehr zufrieden sein, sondern auch seinen
Chef glücklich machen. (Oh je, oh je, ich klinge wie eine alte Tante!)
Seyhan ist mir ganz besonders aufgefallen. Den Satz, den du gesagt hast, hast du stellvertretend für alle von euch
gesagt, die bisher nicht erfolgreich mit ihren Bewerbungen waren: „Die haben verloren, nicht ich.“ Eine hübsche junge
Frau, die so selbstbewusst in die Kamera blickt, die Prinzipien hat und kämpfen kann, wird ihren Weg gehen. Und das
werdet ihr alle! Ich freue mich sehr, dass ich die Gelegenheit bekomme habe, euch „kennenzulernen“. Ich wünsche
euch für euren privaten und beruflichen Weg viel Erfolg, Freude und das nötige Stückchen Glück!
Mit herzlichen Grüßen,
Annika

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Ich danke Ihnen sehr für diesen Artikel.

Wie oft musste ich bei den (zu begrüßenden) Veröffentlichungen der Abiturienten in der Zeitung denken, dass zur Aufwertung der Hauptschulabschlüsse diese ebenso in der Zeitung erwähnt werden sollten. Auch hier wurde gearbeitet, gelernt, um Noten gebangt, ein Ziel erreicht. Es kann nicht jeder intellektuell das Abitur schaffen, einigen fehlte es mit Sicherheit an der Unterstützung durchs Elternhaus – Anerkennung haben sie um so mehr verdient! Ich hoffe, dass dazu ihr Artikel beiträgt!

Mit freundlichen Grüßen aus Berlin,

Dr. Barbara Schulte-Hobein
 

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Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Frau Holch,

ich selbst war auch ein "Spätzünder", weshalb ich Ihren Artikel mit ganz besonderer Aufmerksamkeit gelesen habe.

Viele Äußerungen der jungen Menschen kann ich sehr gut nachempfinden.

Ich hatte ein wenig erfreuliches Realschulzeugnis, bekam aber trotzdem 1966 einen dreijährigen Lehrvertrag bei einer Volksbank, weil ein kluger und erfahrener Mensch erkannt hatte, dass "mehr" in mir zu stecken schien. 1973 erhielt ich Handlungsvollmacht, 1974 Prokura (ich war 24 1/2 Jahre alt) und 1977 wurde ich mit nicht einmal 28 Jahren Vorstandsmitglied jener Volksbank. 1983 wechselte ich in den Vorstand einer Großstadt-Volksbank und 1976 war es mir vergönnt, bei der Verschmelzung dieser Genossenschaft mit einer anderen Volksbank entscheidend mitzuwirken.

Dieser Lebenslauf soll eine Bestätigung des Inhalts Ihres beeindruckenden Artikels sein, den sich mancher heute aktive Personalchef "hinter den Spiegel" klemmen sollte, der Bewerber zunächst nach dem Namen der besuchten Schule, dem Schulsystem und den erteilten Noten "einfach aussortiert", ohne mit dem einzelnen jungen Menschen auch nur ein einziges Gespräch geführt zu haben!

Im Laufe meines Berufslebens haben "meine Personalleiter" (und ich) etlichen jungen Menschen aus schwierigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen bzw. mit "traurigen Zeugnissen" eine Chance gegeben. An vier von ihnen erinnere ich mich heute immer noch mit großer Freude: eine junge Dame (30) ist mittlerweile Abteilungsleiterin in einer großen Genossenschaftsbank, eine andere Personalchefin in einem großen Unternehmen, die dritte wertvolle Mitarbeiterin im Kundenservice "meiner" Volksbank, und ein junger Mann (auch etwas über 30) ist Einkaufsleiter in einem EDV-Unternehmen.


Traurig gemacht hat mich aber die Aussage der jungen Seyhan, die Bankkauffrau werden wollte und diesen Traumjob nicht mehr anstreben will, weil ihr ein ehemaliger Schüler gesagt hat, dass Bankkaufleute manchmal die Kunden belügen müssen.

Während meiner über 40 Berufsjahre habe ich keinen meiner Kunden belogen und auch keinen meiner zuletzt rd. 500 Mitarbeiter (m/w) aufgefordert oder es stillschweigend geduldet, einem Kunden die Unwahrheit zu sagen.
Das Bankgeschäft baut sich auf dem wechselseitigen Vertrauen (Credere!) von Kunde und Bank auf. Wenn ich heute einen Kunden belüge, ist er morgen weg! Wenn ein Kunde mich heute belügt, ist er morgen nicht mehr mein Kunde! So einfach ist das.
Wie im ganzen menschlichen Leben gilt auch und insbesondere im Bankgeschäft das Gebot: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten!"

Liebe Seyhan,
überlege es Dir noch einmal ganz genau!
Wenn es Dein Traum ist, Bankkauffrau zu werden, dann lasse Dich nicht von einer einzigen Äußerung von Deinem Traum abbringen!
Du wirst es eines Tages bereuen, Deinen Traum nicht verwirklicht zu haben!
Wie heißt der kluge Spruch: "TRÄUME NICHT DEIN LEBEN, LEBE DEINEN TRAUM!" Bewirb Dich bei einer ordentlichen Volksbank/Raiffeisenbank (oder auch Sparkasse), schildere offen und freimütig Deine Vorstellungen, aber auch Deine Sorgen, die auf der Aussage dieses ehemaligen Schülers beruhen.
Und wenn es für Dich nützlich sein sollte, kannst Du meine Lebensgeschichte gerne bei passender Gelegenheit als Beispiel erwähnen.

P.S.
Auch in Erinnerung an meinen Berufsweg haben meine Frau und ich kürzlich eine Stiftung gegründet, die unter anderem die "Spätzünder" im Fokus haben soll.

Mit freundlichem Gruß
Martin Hill

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