Brief aus Jerusalem
An Heiligabend durch den Regen laufen und einen Checkpoint passieren? Israel ist voller Widersprüche

Es klingelt im Büro, an der Tür ist eine jüdische Familie. Sie möchte den Turm unserer Himmelfahrtkirche besteigen. Von dort hat man einen atemberaubenden Blick über die Jerusalemer Alt- und Neustadt und die judäische Wüste. Die strenggläubige Mutter möchte nicht durch die Kirche gehen, weil sie dann gegen ein Gebot verstoßen würde. Unser Küster schließt ihr den zweiten Zugang auf. Während die Frau mit ihren Kindern die 200 Stufen zum 54 Meter hohen Turm erklimmt, montiert der Küster einen Herrnhuter Stern über dem Eingangsportal. Weihnachtszeit auf dem Ölberg. Auf dem Kirchenvorplatz liegen Zypressen. Diese etwas kümmerlichen Weihnachtsbäume verkauft der jüdische Nationalfonds den Kirchen. Die geben sie an ihre Gemeindeglieder weiter.

Arabischer Kaffee und deutscher Stollen

Ich gehe zurück zu meinem Büro im Pilger- und Begegnungszentrum neben der Himmelfahrtkirche. Ich komme an Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern der angrenzenden Klinik vorbei, die hier im Schatten der Mauern ihre Pause machen und arabischen Kaffee trinken. Ein Patient aus Gaza geht vorüber. In seinen bunten Gewändern erscheint er selbst muslimischen Mitarbeitern der Klinik wie aus einer anderen Zeit. Viele Augen folgen ihm, während er sich einen ruhigen Ort zum Beten sucht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzt im Café des ­Pilgerzentrums ein deutsch-palästinensischer Arzt. Nach Jahren als Professor und Chefarzt in Deutschland ist er zurückgekehrt. Nun arbeitet er wieder in seiner Heimat, für einen Bruchteil ­seines alten Gehalts. Neben ihm sitzen junge Israelis aus Tel Aviv, modern angezogen, und essen Adventsstollen. Was verbindet all diese Menschen? Und sie mit meiner Frau Ulrike, meinem Sohn Issa und mit mir? Die Liebe zu der Stadt des Friedens, die keinen Frieden findet.

Hier dürfen wir leben, seit fünf Jahren schon. Auf dem Ölberg. Dort, von wo aus Christus in den Himmel aufgefahren sein soll. Von wo aus schon zu Jesu Zeiten Pilger aus Galiläa kamen. Wenn wir von hier oben auf die seit Jahrtausenden umkämpfte Stadt blicken, die nicht nur den Christen, sondern auch Juden und Muslimen heilig ist, sind wir immer wieder neu fasziniert. Das Glockenläuten der Grabes­kirche, die Rufe des Muezzins, das Heulen der Sabbatsirene, die Kuppeln, die im flirrenden Sonnenlicht glänzen, die Feuerwerke bei arabischen Hochzeiten – hier leben die Anhänger von drei großen Religionen zusammen. Eher nebeneinander als miteinander, nicht immer friedlich und ganz und gar nicht reibungslos. Aber es funktioniert doch. Irgendwie.

 Mit dem Pilger- und Begegnungszentrum an der Himmelfahrtkirche ist die Evangelische Kirche in Deutschland seit 1991 auf dem Ölberg präsent. Meine Frau und ich leiten das Zentrum. ­Pilger und Touristen machen hier Station, bevor sie sich auf den Weg begeben, den Menschen schon seit Jahrtausenden gehen: über den Ölberg durch das Kidrontal und wieder hinauf in die Stadt Jerusalem – um Gott und sich zu finden. 14 000 Besucher pro Jahr hat unsere Himmelfahrtkirche. Wir organisieren ­Lesungen, Vorträge, Andachten, Ausstellungen, Konzerte – für Gäs­te von außen und für die 200 Mitglieder der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache zu Jerusalem, in der ich eine Pfarrstelle innehabe. Palästinensische und israelische Regisseure ­zeigen bei uns ihre Filme und diskutieren mit unseren Gästen über ihre Werke.

Emotionale Achterbahnfahrt

Ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist aber: zuhören und er­klären und, wenn nötig, trösten und ermuntern. In den wenigen Tagen einer Studienreise erleben viele Touristen und Pilger eine emotionale Achterbahnfahrt. Manchmal besuchen sie am selben Tag die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und den Checkpoint nach Bethlehem – eine der Grenzkontrollen, die sowohl Israelis als auch Palästinenser nicht ohne weiteres passieren können. Sie fahren vorbei an jüdischen Siedlungen, die gegen internationales Recht gebaut wurden. Und sie besuchen Kibbuzim, bewundern auf dem Tempelberg den islamischen Felsendom und stecken ­wenige Meter weiter Zettelchen in die Fugen der jüdischen ­Klagemauer. Kann man dieses Land verstehen? Auch wir haben nach fünf Jahren auf viele Fragen keine Antwort.

In unserem Café „Auguste Victoria“, das von Ehrenamtlichen betrieben wird, treffen sich Juden, Muslime und Christen. Selbstverständlich sprechen sie auch über Politik. Diskutiert wird derzeit besonders das Streben junger Israelis nach Reformen im ­sozialen Bereich. Und auch dass es den Ägyptern und Tunesiern mit friedlichen Mitteln gelungen ist, einen Wandel in Richtung mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit auf den Weg zu bringen. Und natürlich geht es immer wieder um den Nahostkonflikt.

Christen aus aller Herren Länder

Eine Frau unserer Gemeinde, die ein Waisenhaus in der Westbank geleitet hat, erzählte mir neulich von einer ihrer Ziehtöchter. Das ehemalige Waisenkind ist mittlerweile eine erwachsene Frau mit vier Kindern und gehörte zu den 1027 Palästinensern, die im Oktober aus israelischen Gefängnissen entlassen wurden – im Gegenzug zur Freilassung von Gilad Shalit, der mehr als fünf Jahre Geisel der Hamas war. Die Frau war inhaftiert worden, weil sie einen Selbstmordattentäter zu seinem Einsatz begleitet hatte. Der Sprengsatz detonierte nicht, sie bekam dreimal lebenslänglich. Neun Jahre davon saß die Palästinenserin ab. Nun muss sie wieder lernen, Mutter ihrer mittlerweile pubertierenden ­Kinder zu sein und mit ihrer Tat außerhalb des Gefängnisses zu leben. Nur einen Tag zuvor hatte ich mit einem jüdischen Freund unserer Gemeinde über den Gefangenenaustausch gesprochen. Er befürchtete, dass Israel nun erpressbar und damit verwundbarer als vorher sei.

Es ziehen sich viele Konfliktlinien durch dieses Land, in dem es an die sechzig Konfessionen aus den unterschiedlichsten ­Kulturen und Traditionen gibt. Auch das Zusammenleben der Christen, die zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, ist nicht immer einfach. Christen aus Syrien und Griechenland, Äthiopien und Armenien, Ägypten und Europa teilen sich die heiligen ­Stätten. Das führt zu Auseinandersetzungen, zugleich aber ist diese Vielfalt der größte Schatz dieser Stadt. So beten die Syrer noch immer das Vaterunser auf Aramäisch, in der Sprache, in der es Jesus schon seine Jünger lehrte. Die Griechen bewahren einen ­liturgischen Schatz, der die Gottesdienstabläufe der ganzen Welt prägte. Die Franziskaner hüten die heiligen Stätten als Kommune von Mönchen aus aller Welt. Und wir deutschen Protestanten bringen eine ganz eigene Prägung mit.

Durch die Sperranlagen nach Betlehem

Zum Beispiel dass bei uns auch Frauen ordiniert werden. Das stößt häufig auf Unverständnis, auch unter den christlichen ­Strömungen. Als meine Frau aber mit Israelis von einer jüdischen Reformgemeinde ins Gespräch kommt, laden diese sie prompt ein, die Auslegung an einem Freitagabend in der Synagoge zu halten. Was sie bei keiner anderen christlichen Konfession in ­dieser Stadt dürfte, geht bei den Verwandten des liberalen Judentums. Kräfte stärken, die verändern wollen, indem man es im Kleinen vormacht – gerade das macht die Arbeit in Jerusalem so spannend. Und oft sehr aufreibend. Wir lieben das.

In der Heiligen Nacht werden wir uns wieder mit über hundert Menschen auf den Weg machen zur Geburtsbasilika in Bethlehem. Die etwa neun Kilometer lange Strecke führt entlang der Hauptstraße. In den letzten Jahren war es oft kalt und regnerisch auf dieser Wanderung. Und der Checkpoint, den wir an der Sperranlage zwischen Jerusalem und Betlehem passieren müssen, wirkt um zwei Uhr nachts alles andere als weihnachtlich. Doch die Botschaft von der Menschwerdung ist gerade in dieser Unwirtlichkeit präsent.

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