Foto: Tamara Lorenz
Würstchen und Kartoffelsalat
Die Regisseurin und der Komponist über Bräuche an Weihnachten. Und Klassiker auf der Bühne
Tim Wegner
Tim Wegner
17.11.2011

chrismon: Stellen Sie sich vor, Sie würden ein Krippenspiel ­inszenieren – wie würde es aussehen und wie würde es klingen?

Karin Beier: Ich habe vor zwei Jahren eines gesehen mit meiner Tochter, sie war drei und eines der Engelchen. Das war ein wenig brav. Dabei haben Kinder so etwas Anarchisches! Ehrlich gesagt fand ich Krippenspiele immer am tollsten, wenn die Engel gähnten oder in der Nase bohrten. In Köln gab es lange Jahre den Jesuitenpater Mennekes, der ziemlich abgefahrene Krippenspiele inszenierte. Bei ihm sausten die Engel angegurtet über ein Drahtseil von der Balustrade zum Altar herunter. Ich würde auf jeden Fall wie er die Wildheit und Fantasie der Kinder aufnehmen, die den Zuschauer sicher mehr anregen als das brave Abarbeiten von Geschichten.

Dieter Falk: Als Kind wollte ich immer Josef sein – und war doch jedes Mal nur der Flötenspieler. Ich finde auch: Krippenspiele müssen raus aus dem Muff! Nicht immer nur das süße Jesulein. Ich würde Pep reinbringen. „Lasst uns froh und munter sein“, wenn der Organist sich ans Keyboard stellt und jemand dazu trommelt, klingt es schon nicht mehr so betulich.

Beier: Man hat immer das Gefühl, Freude und Lachen ist ver­boten. Das ist aber auch eine deutsche Untugend. Lachen wird mit Oberflächlichkeit gleichgesetzt – Komödie ist oberflächlich. In Deutschland gibt man sich gerne zerknirscht.

Falk: Dieter Hüsch hat mal gesagt: „Wo wir Deutschen hingrübeln, wächst kein Gras mehr.“ Das ist auch in der Musik oft so. Ich bin kein Gralshüter – aber im Weihnachtsgottesdienst sollte auf jeden Fall „O du fröhliche“ gesungen werden. Was ich total vermisse, ist „Go Tell It on the Mountain“ – das ist ein Weihnachtslied! Wenn man das im Gottesdienst mal swingig spielen würde, wäre ganz schön was los in der Kirche! Das ist doch schon Fröhlichkeit pur. Stattdessen: immer die gleichen Lieder.

Beier: Ich gehe normalerweise Weihnachten nicht in die Kirche, nur wenn meine Tochter es möchte. Ich bin in einer atheistischen Familie groß geworden, der Kirchgang gehört bei uns nicht zum Weihnachtsritual.

Wie feiern Sie Weihnachten?

Beier: Wir mischen unsere Weihnachtsrituale, so wie auch das „traditionelle“ Weihnachtsfest eine Mischung von Ritualen ist. Der heidnische Weihnachtsbaum, der christliche Anlass und der osmanische Nikolaus beziehungsweise der Weihnachtsmann als Erfindung von Coca-Cola. Bei uns werden englische und deutsche Traditionen gemischt, Weihnachtsgans und Christmas pudding, nicht jedermanns Sache, aber ich mag es. Außerdem zelebrieren wir das Auspacken der Geschenke, nie packen alle gleichzeitig aus, sondern einer nach dem anderen, und alle schauen zu und kommentieren. Das zieht sich über den ganzen Abend hin. 

Falk: Klingeln Sie auch?

Beier: Nein, das kennen wir nicht. Aber es klingt toll!

Falk: Das ist ein Klassiker!

Beier: Das habe ich von Freunden gehört. Wir haben gar kein abschließbares Wohnzimmer...

Falk: Wir auch nicht, bei uns warten die Jungs oben in ihren Kinderzimmern.

Beier: Und dann dekorieren Sie den Baum zusammen?

Falk: Nein, dann kommen sie runter zur Bescherung. Sie sind schon 14 und 17 Jahre alt, aber auf dem Glöckchen bestehen sie.

Junge Leute geben sich gerne wieder Ritualen hin – ist die Welt so unübersichtlich geworden, dass sie darin Halt suchen?

Beier: Ich glaube, dass die Welt in erster Linie atheistischer geworden ist. Das Absolute fehlt. Dennoch gibt es eine große Sehnsucht nach dem Irrationalen, dem nicht Erklärbaren. Meine Eltern haben uns früh klargemacht, dass das Christkind nicht ­existiert. Ich aber lasse meine Tochter in dem Glauben. Da wir so vernunftbedingt leben, ist es mir wichtig, dass es ein paar Tage im Jahr gibt, an denen wir irrationalen Dingen Zeit schenken. Feiertage rhythmisieren und takten das Jahr, was tatsächlich stabi­lisiert. Seit meine Tochter auf der Welt ist, fange ich auch wieder an zu dekorieren. Ostern, Weihnachten, die Jahreszeiten rauschen sonst so an einem vorbei, vor allem als Städter.

Falk: Mein Gottesglaube ist kein Ritual wie der kindliche Glaube ans Christkind. Er stellt meinen Alltag auf feste Füße. Ich stamme zwar aus einem religiösen Elternhaus, habe aber keinen Zwang empfunden. Wenn meine eigenen Kinder abends rufen, wir möchten schlafen, gehen meine Frau oder ich nach oben, und wir sprechen ein Gutenachtgebet, reden auch ein bisschen über den Tag. Was uns so auf der Lippe liegt. Ich hätte gedacht, das verflüchtigt sich, wenn sie älter werden – aber das stimmt nicht.

Beier: So wie das Jahr durch Jahreszeiten und Feiertage getaktet ist, sucht jede Familie auch einen eigenen Rhythmus im Alltag. Bei uns kommt zum Beispiel meine Tochter morgens zu mir ins Bett, ich lese ihr etwas vor, der Tag beginnt möglichst langsam. Dann mache ich sie fertig, der Papa schmiert das Brot und bringt sie zum Kindergarten. Am Abend gibt es Spielzeit, fernsehgucken, ins Bett gehen und vorlesen, dann Licht aus und noch mal erzählen. Diese Rhythmisierung des Tages bewahrt uns vor der Leere.

Falk: Ich habe das Studio im Haus, und wenn meine Frau, die Grundschullehrerin ist, morgens mit den Kindern aus dem Haus geht, kann ich bis halb drei arbeiten. Wir essen gemeinsam Mittag, quatschen eine Stunde, dann arbeitet jeder für sich, und abends essen wir wieder gemeinsam. Ich glaube, in der Generation der Playstation spielenden Kinder gibt es eine Sehnsucht nach einer solchen Taktung.

 

"Wenn ich neue Stücke spiele, wollen die Zuhörer immer auch Vertrautes hören"


Wie wichtig ist Harmonie?

Beier: Ich bin harmoniesüchtig. Ich lebe in der Arbeit nicht aus der Reibung. Aus Unruhe oder Streit im Ensemble kann ich keine Kraft ziehen. Natürlich gibt es auch meist von Ängsten getragene destruktive Energien. Mein Job ist es unter anderem, den Schauspielern diese Ängste zu nehmen.

Falk: Ja?

Beier: Natürlich, als Schauspieler macht man sich waidwund, wird aber permanent benotet. That’s the name of the game. Man kommt aus dem System, dass die Öffentlichkeit über einen urteilt, nicht heraus. Gleichzeitig wird eine hohe Sensibilität verlangt. Für den Seelenzustand ein sehr schwieriger Beruf.

Falk: Ich kenne das, auch wir werden ständig benotet, Sternchen bei Amazon oder iTunes. Gut ist, wenn man fünf Punkte bekommt – oder nur einen. Schlechter sind zwei oder drei. Das ist doch im Theater auch so, oder? Auch ich will polarisieren, indem ich Johann Sebastian Bach modernisiere. Ich glaube, er lässt es mit sich machen, dass man ihn nach 2011 transportiert, dass man einen Groove und neue Sounds unter ihn legt.

Manche Pastoren spielen keinen Bach mehr. Zu harmonisch...

Falk: Oh, oh, dagegen wehre ich mich aber. In der Matthäus­passion gibt es Stellen, „...trotz des Todes Rachen“, die sind sehr verstörend!

Frau Beier, wenn man aus einem Ihrer Jelinek-Stücke kommt, ist man auch verstört!

Beier: Ach, ja? Es ist ja auch gut so. Früher hat man gesagt, Theater sei der Spiegel der Gesellschaft. Ich würde sagen, das Theater muss die Gesellschaft infrage stellen. Nicht spiegeln, sondern in Zerrbildern hinterfragen. Und grundsätzlich soll es bewirken, dass Menschen sich einmischen. Sie sollten das Theater nicht schweigend, sondern diskutierend verlassen. Ein gewisses Maß an Irritation oder Verstörung ist da sicherlich hilfreich.

Falk: Aber wenn Sie nicht subventioniert wären, sondern von den Eintrittskarten abhängig – könnten Sie sich dann ganz frei machen von dem, was bei den Leuten ankommt?

Beier: Verstören heißt ja nicht, dass es bei den Leuten nicht angekommen ist! Ich gehe doch auch deshalb ins Theater, um emotional berührt oder intellektuell wachgeküsst zu werden. Als ich mit 15 Jahren das erste Mal im Theater war, hatte ich immer das Bedürfnis, etwas reinzurufen. Man gibt zum Beispiel der einen Figur recht und der anderen nicht. Und mein Nachbar gibt der anderen recht und der einen nicht, und so entsteht im besten Fall eine Diskussion oder ein Streit. Das ist doch wünschenswert. Und das, was für die Figuren gilt, gilt auch für Ästhetiken, theatrale Formen und grundsätzliche Gedanken.

Falk: Da ist der Konzertbetrieb anders. Wenn Sie was Neues ­machen, brauchen Sie immer auch etwas Vertrautes, in das Sie das Neue einpacken. In der Popmusik ist das bei mir auch so. Ich bin nicht subventioniert, ich lebe von den Eintrittskarten. Wer zu mir kommt, erwartet, dass ich meine zwei, drei Hits spiele – zum Beispiel meine Version des Chorals „Nun danket alle Gott“. Man steigert die Aufnahmefähigkeit für Neues, indem man Bewährtes spielt. Dass Sie als 15-Jährige am liebsten reingerufen hätten – das zeigt doch: Interaktion ist wichtig! Die gibt es bei mir, indem die Leute mir spontan Titel zurufen, die sie hören wollen...

Beier: Da haben Theater und Kirche auch was gemeinsam. Jeder Zuschauer sieht sein eigenes Theater, und trotzdem ist das Er­gebnis ein kollektives. Vielleicht hat diese Sehnsucht auch mit der Vereinzelung durch Playstation und Internet zu tun, was ich übrigens nicht nur negativ sehe.

Was machen Sie mit Leuten, die gar nicht mitgrooven wollen?

Falk: Wer da nicht drauf steht, kommt gar nicht erst in meine Konzerte. Aber ich werde auch keinen auf die Bühne zerren. Ich gehe mit einem drahtlosen Mikro zu den Leuten und sage, so, wir singen jetzt mal dreistimmig. Robbie Williams bricht auch die Gesetze. Er läuft über Pauken runter, und du denkst, oh Hilfe, was ist das? Es muss eben eine Ecke und Kante haben, sonst bleibt nichts hängen.

 

"Ich will das Publikum nicht unterhalten, ich will es zum Nachdenken anregen"


Frau Beier, Sie haben ein Stück von Elfriede Jelinek inszeniert, „Ein Sturz“, über den Einsturz des Stadtarchivs in Köln. Wie da die geschundene Erde auf die Bühne kommt, das hat schon ­etwas Religiöses...

Beier: Das Stück hat einen sicherlich kathartischen Effekt für die Stadt. Hier wurde etwas unter den Teppich gekehrt, immerhin starben bei dem Einsturz zwei Menschen. Ja, auch das Archiv, also das Gedächtnis der Stadt, wurde verschüttet, darüber wurde ganz viel gesprochen, über die zwei Toten nur sehr wenig. Und irgendwann wurde die Katastrophe dann endgültig totgeschwiegen. Bei uns im Theater gibt es jetzt die Möglichkeit des kollektiven „Gedenkens“, auch wenn die Fragestellung, vor allen Dingen die laute Frage nach Schuld und Verantwortung, sehr unbequem und bösartig gestellt wird. Die Trauer und der Schmerz bleiben, auch das Schweigen, trotz der vielen Worte auf der Bühne. Nennen Sie es ein religiöses Trauerritual – ich nenne es Abgesang, Requiem.

Darf Theater anstrengend sein?

Beier: Ja, natürlich! Es ist nicht unsere Aufgabe zu unterhalten. Da­für gibt es andere Theaterformen, das Boulevardtheater, das ich durchaus schätze, aber das ist nicht die Aufgabe eines Stadttheaters. Wir wollen zum Nachdenken anregen, das ist anstrengend.

Wie viel Tradition, wie viel Irritation verträgt der Kulturbetrieb?

Falk: Ich bin ja zwischen U und E, Unterhaltungs- und ernster Musik. Manche Leute regen sich auf, dass ich klassisches Repertoire verrocke oder verjazze. Aber genau die sprechen nachher auch drüber. Ich mache das seit 30 Jahren und hole mir Watschen von der Klassikpolizei. Das habe ich aber auch so erwartet.

Wer ist die Klassikpolizei?

Falk: Es gibt Leute, die sagen, man darf Pop und Klassik nicht vermengen, für sie ist das Pure auch ein Ritual, aber da bin ich anderer Meinung. Ich glaube, dass Bach heute mit den handwerklichen Mitteln unserer Zeit arbeiten würde. Er war seinerzeit ganz vorne dran, die modernsten Orgeln, die schrägsten Akkorde für seine Zeit. Er war der erste Jazzer; der Walking Bass  – zum Beispiel bei der „Badinerie“ oder „Air“ – ist eine Erfindung von Bach, nur der Name existierte damals nicht.

Pop – was ist das eigentlich? Die Presse feiert Sie, Frau Beier, als Popstar...

Beier: ...ich bin sogar zweimal im Karnevalszug aufgetaucht! Weil ich zur Gallionsfigur einer Bürgerbewegung wurde, die sich nicht mehr alles gefallen lässt von der Politik.

Sind Sie stolz darauf?

Beier: Ich will nicht lügen, das tut der Eitelkeit gut, am Theater streben wir alle nach den Augen der vielen, wir sind alle Narzissten. Die öffentliche Rolle, in die ich reingeschlittert bin, hat allerdings mein Bewusstsein für die Verantwortung meiner Aufgabe als ­Intendantin geprägt. Das beeinflusst auch die Wahl der Texte: Ich könnte jetzt schlecht „Kabale und Liebe“ inszenieren, wir suchen nach politischen Stoffen. Das Publikum goutiert es. Man genießt den Ruhm, und gleichzeitig gibt es ein Bewusstsein für die damit verbundene Aufgabe.

Herr Falk, Sie haben in der Jury einer Fernsehsendung den Daumen gehoben; der ist ein Popstar, der nicht...

Falk: Das Wort Star ist ausverkauft, und – das sage ich ganz selbstkritisch – was im deutschen Fernsehen inzwischen mit Castingshows gemacht wird, ist hanebüchen. Der echte Star heute schafft es, fünf bis zehn Jahre so zu begeistern, dass die Leute aus dem Konzert kommen und Kribbeln im Bauch und auf der Haut haben.

So viele Katastrophen auf der Bühne und hinter der Kamera – wie finden Sie an Weihnachten zum Frieden?

Beier: Für mich hat es ganz viel mit Dunkelheit zu tun, schwarze Nacht, gelbe Lichter. Ich bin letztes Jahr mit meiner Tochter in eine Straße gefahren, die als bestgeschmückte Straße gilt – und wir haben trotz Schnee und Eiseskälte das Verdeck aufgemacht und sind ganz langsam da durchgefahren. Nur Lichter!

Falk: Wir werden mal richtig ausspannen, ich hatte mit meinen Söhnen im Herbst viele Auftritte, und Weihnachten ist die erste Offzeit. Wir kochen aufwendig. An Heiligabend selber gibt’s ­allerdings nur Würstchen und Kartoffelsalat...

Beier: ...da muss ich einhaken. Jede Familie hat ihr Alleinstellungsmerkmal, und trotzdem ist sich jeder bewusst, dass die Leute in der Etage über einem und unter einem gegen 17, 18 Uhr andere Bräuche haben – dabei feiern wir alle dasselbe. Das gibt es nur an Weihnachten.

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