Fotograf: Monica Menez
Protest!
Der Mediator und der Schriftsteller über Bürger, die mitbestimmen wollen – und Politiker, die das lernen müssen
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
Tim Wegner
12.07.2011

chrismon: Herr Wörner, haben Sie schon mal demonstriert?

Johann-Dietrich Wörner: Ja, in Darmstadt habe ich als Unipräsident zusammen mit den Studenten gegen Studiengebühren demonstriert und gegen Kürzungen bei den Bibliotheksetats. Das war Ende der 90er.

Und als junger Mann?

Wörner: In Berlin, an der TU, hieß es mittags in der Mensa: Demo ab 14 Uhr, das Thema wird später bekanntgegeben. Da habe ich mich nicht angeschlossen, weil das keine Positionierung war.

Herr Steinfest, Sie demonstrieren jetzt gegen Stuttgart 21 – aber generell sicher auch nicht zum ersten Mal.

Heinrich Steinfest: Nein, aber das ist lange her, in Österreich, gegen ein Wasserkraftwerk in den Donauauen. Übrigens eine Besetzung, die zu einem heftigen Polizeieinsatz führte, zu gefällten Bäumen, einem Volksbegehren, einer Großdemonstration und dazu, dass wir dort heute ein Naturschutzgebiet haben.
Warum sind viele Menschen in Deutschland so aufgebracht?

Wörner: Meine Analyse fängt in den 50er Jahren an. Damals gab es für die Menschen ein gemeinsames Ziel, den Aufbau. Ende der 60er kam die Bewegung, die alle Werte infrage stellte. In den letzten 15 Jahren entwickelten wir uns zur „Schnäppchengesellschaft“, bei der die individuellen Interessen vor dem Gemeinwohl stehen. In der Werbung sieht man das deutlich. Zugleich ist Unmut darüber entstanden, dass eine Reihe von Entscheidungen ohne Beteiligung gefallen ist. Das hat sich zum Beispiel in Stuttgart gefunden: unterschiedliche Interessen und ein gemeinsames Feindbild – und ein politisches System, dass diese Veränderung nicht hinreichend realisiert hat.

Steinfest: Ich habe das viel direkter erlebt. Als ich vor 13 Jahren nach Stuttgart kam, hatte ich Erfahrung mit dem klassischen Demo-Publikum. Hier aber traf ich ältere, bürgerliche Leute auf der Straße, das hat mich fasziniert. Früher bekam ein junger Demonstrant zu hören: Leiste erst mal etwas, hab einen Beruf, bring Kinder in die Welt, bevor du mitreden möchtest. Und heute? Alte Menschen, die der nächsten Generation die Zukunft verbauen, wenn sie gegen dieses Projekt sind, heißt es in Teilen der Politik. Dabei sind es oft Leute, die große Kenntnisse haben. Wir haben es mit Bürgerexperten zu tun, die wollen sich einbringen.

Sie nennen sie Bildungswutbürger...

Steinfest: Darum streiten die Leute so viel: weil sie so viel wissen. Aber es geht auch um Empörung, um Leidenschaft. Das ist mehr als ein Bauchgefühl. Nichts gegen die Emotion, ohne sie würden wir uns nicht engagieren.

Warum sind diese Leute nicht schon früher auf die Straße gegangen? Warum haben die, wie Sie in Ihrem Krimi schreiben, so lange mit den Schultern gezuckt?

Steinfest: Die waren nicht desinteressiert, sondern mit sich selbst beschäftigt. Solange sie arbeiteten, waren sie nicht frei: Leute aus der Stadtverwaltung, Journalisten, Lehrer. Als pensionierter Mensch kann man sich kritischer äußern. 

Wörner: Stimmt, das Mitreden hat gefehlt. Aber die Leute sind nicht deshalb auf die Straße gegangen. Die haben nicht das Thema „Wir wollen mitreden“, sondern ganz konkrete Probleme.

Steinfest: Ich gebe Ihnen recht, es ist eine komplexe Gruppe von Menschen, die man nicht so leicht einteilen kann, wie man das früher konnte. Da gibt es die politisch Bewegten; einige, die sagen: Ehrlich gesagt mag ich den alten „Steinhaufen“ auch nicht, aber ich bin darüber empört, wie das hier läuft; andere sagen: In der Schule meiner Kinder sind dringend Investitionen nötig, und hier werden Milliarden ausgegeben...

Wörner: ...oder es gibt Leute, die „Auf der Prag“ wohnen und sagen: Wenn das alles intensiv bevölkert wird, verliert mein Viertel an Wert.

Das Prinzip Sankt Florian?

Wörner: Nein, das hat ja alles seine Berechtigung.

Steinfest: Ebenso wie die Motive ist auch die Art und Weise, wie man protestiert, sehr unterschiedlich. Hier finden permanent Diskussionen statt. Viele Stuttgarter sprechen plötzlich miteinander, die das ohne S 21 nicht taten. Kultivieren den Streit. Es geht nicht allein um das Reden mit der Politik. Auch wenn da lange Zeit eine Kommunikationsverweigerung vorherrschte.

Wörner: Auf allen Seiten gab es Kommunikationsverweigerung. Auf allen Seiten habe ich bei meinen Sondierungsgesprächen erlebt, dass Leute Bedingungen stellen wollten und sagten: Ich rede erst, wenn...

Ein Teil der Bahnhofsgegner sagt: Der Wörner bringt nur Beruhigungspillen, wir sprechen überhaupt nicht mit ihm.

Wörner: Das ist für mich und das Verfahren ziemlich blöd. Ich bin keine Beruhigungspille. Ich habe das selbstständig initiiert und bin dann aufgefordert worden, tätig zu werden. Warum sollte ich Beruhigung spielen, was hätte ich davon? Ich habe keinen Vorteil, ich habe sogar die Fahrtkosten selbst bezahlt.
 

Abholen und mitnehmen - das klingt nach Kindergarten


Was darf man denn von einem anständigen Bürger in Sachen Politik erwarten?

Wörner: Erst mal müssen wir darüber reden, was der Bürger von der Politik erwarten darf. Er darf erwarten, dass sie Bürger ernst nimmt, die sich mit Politik beschäftigen. Kumulieren und Panaschieren bei Kommunalwahlen – das ist okay, aber das sind bloß Kreuze auf dem Zettel! Beteiligung ist etwas anderes. 

Steinfest: Das sehe ich genauso. Viele Menschen sind nicht mehr bereit, eine Partei aus ideologischen Gründen zu wählen. Wir werden die Leute abholen, heißt es jetzt immer. Abholen und mitnehmen, das macht man mit Kindern vom Kindergarten. Das hat etwas Entwürdigendes. Es gibt immer mehr Bürger, die sich genau anschauen, ob mit ihnen gesprochen wird oder nicht. Ob sie eingebunden werden. Und es gibt die – das halte ich für sehr positiv –, die zum Experten werden; der Bürger wird zum Profibürger, wie der Ästhetikprofessor Bazon Brock sagt. Man kann das natürlich ironisch sehen, der Diplom-Bürger, der Diplom-Konsument, der Diplom-Patient...

Wörner: In jedem Unternehmen ist man doch froh über Leute, die mehr wissen als man selber. Das ist am allerbesten!

Steinfest: Genau. In vielen Städten geht es jetzt um die Rekommunalisierung, zum Beispiel der Stadtwerke. Wenn man die Bürger wieder erst im Nachhinein informiert, läuft das schief. Wir müssen Modelle entwickeln, damit die Leute nicht erst einbezogen werden, wenn Rahmenbedingungen feststehen und sie nur noch an der Peripherie ein bisschen was dekorieren dürfen. Aber der Bürger hat auch eine Verantwortung. Heute wird gern gefordert, der Politiker müsse doch einmal zugeben, etwas falsch gemacht zu haben. Aber dann braucht es einen Bürger, der das goutiert. Im Moment geht es in politischen Diskussionen so: Der, der am eloquentesten ist und am telegensten, kriegt den Applaus.

Wörner: Politik durch Macht wird nicht mehr funktionieren. Aber „politics by public“ ist richtig schwer. Dazu gehört die Auseinandersetzung, die Bereitschaft zu lernen und nicht zu sagen: Das hab ich ja nicht gewusst. Fehler billige ich jedem zu, aber ich möchte sie reduzieren, indem wir im ganzen Verfahren transparent mit den Informationen umgehen. Was etwa um den Stresstest für Stuttgart 21 für ein Geheimnis gemacht wurde! Das ist doch in diesem Verfahren gar nicht nötig.

Also sind die Zeiten vorbei, als ein Politiker wie Franz-Josef Strauß sagen konnte, „vox populi, vox Rindvieh“?

Wörner: Ja, oder die Basta-Politik, um die andere Partei auch zu zitieren, das ist alles vorbei. Gleichzeitig brauchen wir Entscheidungen. Und die muss man verantworten. Wenn die Entscheidung falsch war, muss das Konsequenzen haben – Beteiligung ist eine permanente Aufgabe. Sie haben recht: Abholen und Mitnehmen ist für denjenigen, der abgeholt wird, etwas sehr Passives.

Steinfest: So entsteht Politikerverdrossenheit.

Wörner: Ja, Sie sagen Politikerverdrossenheit, ein feiner Unterschied...

Steinfest:. ...zur Politikverdrossenheit. Die ist hier in Stuttgart nicht spürbar. Aber Politikerverdrossenheit. Nur gibt es die Verdrossenheit auch umgekehrt, das habe ich bei Politikern aller Couleur gesehen, eine Distanz gegenüber dem Bürger, als wenn der a bisserl was Ansteckendes hätte. Das kann sich jetzt ändern!

Wörner: Es muss aber auch klar sein: Wir brauchen Infrastruktur, Straßen, Stromnetze, Abwasseranlagen. Da ist es unabdingbar, dass dieser Politikwandel stattfindet.

Aber es gibt ja heute auch schon Beteiligungsformen, die Anhörungsverfahren etwa.

Wörner: Die sind nicht ausreichend, da geht es nicht um Dialog oder Diskussion, sondern um Darstellung von Betroffenheit.

Dann braucht jedes Großprojekt einen Dialog?

Wörner: Ein Dialogforum, von einer unabhängigen Person geleitet, plus Gelder für Gutachten, Expertisen, damit man vorwärtskommt – ich sehe im Moment nichts Besseres. Am Ende muss es aber auch eine Entscheidung geben. 

Andererseits wird das „Netzausbaubeschleunigungsgesetz“ jetzt durch den Bundestag gepeitscht...

Steinfest: Es klingt wahrscheinlich zu lyrisch, aber wir sind in einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion darüber, was wir überhaupt wollen. Das hat in Stuttgart fast exemplarisch begonnen und hat durch Fukushima eine neue Dimension erreicht. Wir stehen vor der grundsätzlichen Frage, ob wir bereit sind, einen gewissen „Stillstand“ zu akzeptieren, eine Phase des Nachdenkens.

Und des Verzichts?

Steinfest: Auch das. Aber Verzicht ist unchic. Atomkraft wollen wir nicht, das ist uns zu heikel. Verschandelung durch Windkrafträder wollen wir nicht, aber verzichten wollen wir auch nicht. Das werden wir vielleicht jetzt lernen.

Wörner: Wir vom DLR haben eine Studie gemacht zur Energienutzung der nächsten Jahrzehnte und dabei auch Sparpotenziale eingebaut. Nicht nur Ausbau, Ausbau, Ausbau. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die viele Anforderungen an Mobilität und Kommunikation hat, auch den Lebensstandard will ich nicht infrage stellen. Deshalb ist der Ausbau der Stromnetze wichtig. Die Leute denken, wenn der Strom weggeht, geht nur das Licht aus. So war das in den 60ern. Wenn heute der Strom ausfällt, bricht die Infrastruktur zusammen. Dann funktioniert selbst die Toilette nicht mehr!

Steinfest: Aber darum geht es ja nicht.

Wörner: Beim Netzausbau geht es darum! Und die Demokratie wird es auch in Zukunft nicht jedem recht machen können. Aber jeder muss zu seinem Recht kommen, das ist der Unterschied. Rechtssicherheit muss gewährleistet bleiben.

Für ein Bahnhofsprojekt wünschen Sie sich ein begleitetes Verfahren – aber den Netzausbau kann man durchdrücken?

Wörner: Prinzipiell müssen wir bei den Verfahren die Beteiligung frühzeitig herstellen. Und zwar eine echte Beteiligung. Dann wird auch immer etwas Schlaues rauskommen.

Nämlich was?

Wörner: Am Frankfurter Flughafen haben anfangs alle gesagt: Das bringt doch nichts. Aber das Mediationsergebnis hat verschiedene Überlegungen und Wünsche weitgehend erfüllt. Auf der einen Seite Ausbau, mehr Verkehr, auf der anderen mehr Ruhe.

Die Flugzeuge fliegen nachts immer noch.

Wörner: Moment. Erstens ist die Mediation noch nicht an dem Punkt, denn noch wird die neue Bahn nicht genutzt. Zweitens stimme ich Ihnen zu, dass die Politik, das hessische Wirtschaftsministerium, dem Mediationsergebnis leider nicht gefolgt ist. Trotzdem, die Mediation hat ein Ergebnis gebracht, zu dem alle am Tisch gesagt haben: Nicht mein Wunsch, aber ich akzeptiere es als Ganzes. Das ist eine Leistung. Und die erwarte ich auch woanders. Ich glaube, dass es einen Netzausbau gibt, der nicht gegen das deutsche Volk ist. Insofern wäre da eine Beteiligung jetzt richtig. Wie? Eine Volksbefragung ist jedenfalls das Falsche. Das ist so ähnlich wie „mitnehmen“. Das Kreuzchen...

Steinfest: Den Leuten ist das Kreuzchen zu wenig. Es darf aber nicht sein, dass solche Mediationsveranstaltungen als Feigenblatt benutzt werden. Nach dem Motto: Wir entscheiden das, und dann brauchen wir ein paar Kommunikationsspezialisten, die das an die Leute vermitteln. Dann heißt es: Ihr habt ja was bekommen, ihr habt sogar am Tisch mit uns sitzen dürfen, aber jetzt reicht es!
 

Die Partei, die das begreift, wird in den kommenden Jahren erfolgreich sein


Welche Rolle spielt das Internet?

Steinfest: Eine wesentliche Rolle, nicht nur in Ländern mit sogenannten Regimen! Informationen, Expertenmeinungen werden auch hierzulande unterschlagen, und das Internet...

Wörner: ...ist die perfekte Basis, Informationen nicht nur gezielt, sondern frei verfügbar zu machen.

Steinfest: Für alle!

Wörner: Genau. Und damit eine radikale Veränderung unserer Gesellschaft zu erreichen. Das ist partizipative Demokratisierung. In Frankfurt nutzen wir das die ganze Zeit, alle Gutachten sind frei verfügbar, jeder, der will, kann sie lesen.

Steinfest: In Stuttgart sind gewisse Gutachten einfach nicht an die Öffentlichkeit geraten. Dabei nützt es doch der Politik, informierte Bürger zu haben. Wenn die sich frühzeitig engagieren, tragen sie die Entscheidungen und deren Folgen viel eher mit.
In letzter Zeit war viel vom Schweizer Modell die Rede.

Wörner: Bis wir so weit wären wie die Schweizer mit ihrer Volksabstimmung, bräuchten wir zwanzig Jahre. Wenn man jetzt in Deutschland abstimmen ließe über die Abschaffung der Steuern, dann bekäme man wohl eine Mehrheit. In der Schweiz nicht.

Steinfest: Das ist die Gefahr des Populismus. Andererseits verlieren die Leute das Vertrauen, wenn sie mitbekommen, wie sogenannte demokratisch legitimierte Prozesse abgelaufen sind. Mit Fraktionszwang. Voreiligen Verträgen. Privatistischen Abmachungen. Mit Mandatsträgern, die sagen, ich kann doch nicht alle Gutachten lesen. Da fragen sich die Wähler: Wer ist das, der hier die Entscheidungen trifft? Ist der wirklich informiert? Die Politik muss in der Mitte stehen – nicht den Schulterschluss mit Lobbyinteressen vollziehen und die Dinge durchboxen.

Wörner: Ich bin gespannt, welche Partei aus dieser Entwicklung die richtigen Schlüsse zieht und echte Beteiligung organisiert, nicht mit Kreuzchen – mit Inhalten. Denn das wird die Partei sein, die in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren richtig Erfolg hat. Mein Zauberwort heißt partizipativ repräsentative Demokratie.

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Ich möchte der pessimistischen Sicht des Schriftstellers Steinfest, „Solange sie arbeiteten, waren sie nicht frei: Leute aus der Stadtverwaltung,... Als pensionierter Mensch kann man sich kritischer äußern“ optimistisch entgegenhalten: Man kann das auch als aktiver Beamter!

Als 1989/1990 die erste rot-grüne Senatskoalition in Berlin sich mit rechtsfremder  bis rechtsfeindlicher Justizpolitik hervortat, bin ich zwar nicht auf die Straße demonstrieren gegangen. Ich habe aber binnen eines Jahres durch einen ganzseitigen Leitartikel und 4 Leserbriefe in Berliner Tageszeitungen meine Kritik an dieser Politik deutlich geäußert und unter jedem meiner Beiträge durch Nennung meiner Dienstbezeichnung „Staatsanwalt“ Flagge gezeigt.

Nach dem vierten Leserbrief bat mich meine oberste Dienstherrin, Justizsenatorin Jutta Limbach, zu einem persönlichen Gespräch in ihre Diensträume. Sie hat mich nicht geduckt, ich habe nicht nicht gekuscht: Es war ein gutes, offenes Gespräch von fünfundvierzig Minuten Dauer.

Meine Dienstlaufbahn hat keine Beeinträchtigung erfahren.

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