Benjamin Nachtwey: Esso
Frank Schulz: Lea im Raumschiff
Wie ein UFO aus dem All, wie eine Lichtoase in der Dunkelheit? Benjamin Nachtweys Acrylfarben beleuchten Tankstellen, an denen es längst um mehr geht, als um Sprit und Sixpacks. Auch bei Schriftsteller Frank Schulz geht es um mehr. Er ließ sich von den nächtlichen Bildern zur folgenden Geschichte über das Ende einer Kindheit inspirieren
19.05.2011

Welche von diesen Figuren ist keine Ente?, hört sie Günther Jauchs Stimme aus dem Wohnzimmer fragen.

Gegenfrage, wispert Lea mit dem Kinn auf dem verschwitzten Wachstuch. Wie viel Wissen hält man eigentlich aus?

Petroleumaroma tränkt die atemlose Abendluft. Keine Chance für den Verdunstungsduft aus dem Blumenkasten.

a) Gundel Gaukeley; b) Daniel Düsentrieb; c) Klaas Klever oder d) Dagobert Duck?

Weißt du das?, hört sie Paps’ Stimme fragen, und Mams: Wieso. Klaas Klever natürlich. Quatsch – der heißt ja, wie heißt der noch mal, vom Heute-Journal... Und dann lacht sie, wie sie nur lacht, wenn sie über sich selbst lacht, und Paps fängt an zu wiehern, wie er nur wiehert, wenn er über Mam wiehert. Leaaa!, grölt er heraus. Wusstest du schon? Claus Kleber ist keine Ente!

Der ewige Treffpunkt der Dorfjugend: verwaist

Eine vespula germanica (Ordnung hymenoptera) versucht, sich in eine feuchte Erdkrume zu verkrallen. Gib’s auf, wispert Lea. Du bist doch schon tot. Nimmt sie ins Visier. In dieser Perspektive steht genau unterm Stiefmütterchen, direkt neben der unentwegt vergeblich nestelnden Wespe, ein VW-Käfer. Der alte VW mit der Werbung für die Tanke da drüben, vor der er steht, da unten, am gegenüberliegenden Rand der B 73. Der ewige Treffpunkt der Dorfjugend. Verwaist.

Das Fernsehgeplapper von hinterrücks gedämpfter, und schon spürt sie Paps’ Fingerkuppen im feuchten Nackenflaum. Mit ihm tritt ein Gespenst aus kühlerer Luft heraus. Puh, heiß auf Balkonien! Geht’s dir gut, Süße?

Jaa.

Wirklich?

Jaa. Daniel Düsentrieb. Der hat einen spitzen Schnabel, wahrscheinlich Hühnervogel. Klaas Klever ist Onkel Dagoberts schärfster Konkurrent im Klub der Milliardäre.

So was weißt du noch?

Sooo lang ist das ja nicht her. Und als sie merkt, dass das eigentlich sein Text ist, fügt sie, verschlimmbessernd, hinzu: Mir ist so öde...?

Lea, sagt Paps, und sein Timbre reizt ihre Tränendrüsen. Falls es wieder losgehen sollte, dann sagst du es uns, ja?

Jaa. Sie spürt im eigenen Hals, was es ihn kostet, ein Seufzen zu unterdrücken, und dann seufzt er doch. Und heuchelt: Ein Wetter, was? Wahnsinn.

Ja. Wahnsinn, das Klima.

Er geht darauf nicht ein. Willst nicht ein bisschen raus, solang es noch hell ist?

Wozu. Sind ja eh alle auf Malle und holen sich Haut–

Irina doch nicht.

War ich heut Nachmittag. Hat Hausarrest.

Tja. Er geht einen Schritt. Willst nicht mitgucken? Letzte Folge vor der Sommerpause.

Sie merkt, er will noch etwas sagen, doch es fährt ein Lkw durch. Die Reifen auf dem Asphalt hören sich an, als entrolle ein Riese Klebeband von einer Walze.

Sie ging hinein und sagte Mam und Paps gute Nacht

Wie in Trance ließ sie den Verkehr auf der B 73 zyklisch hyperventilieren. Sah zu, wie die Dämmerung das Chlorophyll aus der jungen Allee saugte. Wie das Neonhologramm der Tankstelle über dem VW aufflammte, in Gelb, mit roten Akzenten. Wie die Bauernsöhne mit ihren GTIs auf dem Weg ins Hip-o-drom Sprit und Zigaretten holten. Als die Wespe sich nicht mehr rührte, ging sie hinein und sagte Mam und Paps gute Nacht.

Um halb zwei drückt sie unten die Haustür zu, die Pumps – eigentlich erst für die Konfirmation gedacht – in der Rechten, getuscht die Wimpern, die Lider schattiert. Huscht über den nachtwarmen Asphalt. Hüben angekommen, wirft sie einen Blick zurück. Betäubt und finster die Häuser drüben, dahinter die trockenen Äcker; von beiden Enden der B 73 je ein Motorrad, sie klingen, als stemmten sie ferne Stadtmauern auf.

Lea wischt Steinchen von den Fußsohlen und schlüpft in die Schuh. Sie kennt die Tanke von Kindesbeinen an, doch heute Nacht kommt es ihr vor, als sauge ein Film sie in sich hinein. Als betrete sie ein grad gelandetes extraterrestrisches Raumschiff.

Jeder Schritt pflockt ihr Selbstbewusstsein fester. Ziel des Catwalks die Panzerglasschleuse. Tatsächlich, er hat Dienst. Halloo!
Er gafft. Lena?! Was machst du denn hier um diese Zeit. Das Mikrofon filtert die Emotionalität raus. Er wirft einen kurzen Blick auf ihre langen Beine.

Lea heiß’ ich. Sie hat eine andere Frage erhofft.

Seine geraden Wimpern zucken nicht einmal. Was darf’s sein?

Irgendwas gegen Angstattacken.

Auf die Kasse gestützt, wartet er. Sagt dann doch: Angst­attacken?
Vegetative Störungen. Heißt das so? Ich mach mir zu viel Sorgen, sagt der Onkel Doktor. Um die Zukunft und so. Wie lang gehen deine Semesterfe–

Hör mal, was möchtest du. Cola? Hubbabubba? Das ist hier keine Apo–

Eine Marlboro.

Nicht von mir, Lady Gaga.

Langweilst du dich gar nicht mit den ganzen Trampeln hier? Warum jobbst du ausgerechnet für einen Ölmulti? Habt ihr auch Duckolin und Erpol? Das sind die Kraftstoffe von Onkel Dagobert und Klaas Klever. Muss man wissen. Kann man Millionär mit werden.

Er sieht sie an. Sag mal, hast du was geschluckt? Du studierst doch Psychologie, oder? Und Philo­sophie. Wie viel Wissen hält man eigentlich aus?

Hör mal, du sagst jetzt, was du möchtest, und dann... Er hebt das Telefon von der Station. Oder sollen deine Eltern dich abholen?

Findest du mich schön?

Mit wuchtigen hundertzwanzig Schlägen pro Minute

Er tippt auf eine Taste. Sie macht auf dem Absatz kehrt. Hoffentlich zieht der aufgewirbelte Duft ihres Shampoos durch die Schleuse. Parfum ging nicht. Würde Paps morgen noch riechen.

Sie ist grad ein paar Schritte heimwärts gestolpert, da kündigt sich ein Ereignis an. Mit Synthesizerfanfaren und Basspauken von einer Wucht, die Pfähle in den Boden zu rammen vermöchte. Mit hundertzwanzig Schlägen pro Minute.

Eine weiße Stretchlimousine mit gefletschter Chromfresse und zwo, vier, sieben blinden Seitenfenstern kreuzt Leas Weg. Gleitet hinter die Zapfsäulen 1 bis 3. Durch die Palisade des Lärms dringt Gejohl – um ein Mehrfaches verstärkt, als eine Tür am Heck sich öffnet. Knappes Outfit in Orange, mit Fransen. Bobschnitt. Sonnenbrille aus Riesenrädern, hinterm Ohr eine Sonnenblume. Mit einem Absatz zerrt sie eine weiße Brautschleppe heraus. Bemerkt es am Gejohl von drinnen, hebt den Stiefel; das Getöse saugt die Schleppe wieder ins Innere.

Schritt für Schritt nähert Lea sich dem pulsierenden Dom. Ohne den Rave zu unterbrechen, hantiert Orange mit der Zapfpistole. Tanzt und tanzt, während der weiße Raumgleiter an einer Zitze des Mutterschiffs nuckelt.

Warum auf den Fußballen, könnte Lea sicher nicht mal unter Folter beantworten, aber so nähert sie sich Orange. Fasst ihr an die erhitzte, wippende Schulter und schreit in die Sonnenblume: Fahrt ihr ins Hip-o-drom?!

Orange, nachtblind von der Sonnenbrille: Willst du mit?!

Gerne!, schreit Lea.

Die Tankpistole stockt. Der Zähler zeigt 130,67. Euro oder Liter? Wahnsinn so oder so.

Steig schon mal ein! Orange klinkt die Pistole wieder ein. Tänzelt zur Panzerglasschleuse. Kramt in der Fransentasche.

Lea blickt an dem Raumgleiter entlang

Im Innern des Raumgleiters nackte Frauenbeine, die weiße Schleppe, auf dem Boden eine geköpfte Schampusflasche. Getöse, Gewoge. Lea steht da und schaut sich um. Sieht, dass Irinas Bruder sieht, wie sie da steht. Er deutet mit dem Finger nach ihr. Orange schaut her, ravend, brillenblind.

Lea blickt an dem Raumgleiter entlang. Wer wohl am Steuer sitzt? Onkel Dagobert? Klaas Klever? Und da lacht sie leise, wie sie nur lacht, wenn sie am liebsten weinen würde, und grad will sie zurück nach Haus, da fällt ihr Günther Jauch ein. Sein entstellender Tic in der linken Wange, immer gerade dann, wenn er am treuherzigsten guckt. Und plötzlich fühlt sie sich vom Balkon aus beobachtet, und zwar mit ihren eigenen Augen. Aus einer Zukunft mit Sonnenfinsternis – einsam, einsam – sieht sie sich ­selber hier stehen, als sie noch ein Mädchen war, und da fängt ihr Herz an, schneller zu pauken als der Rave.

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