Das Bundesverfassungsgericht erklärt die bestehenden Gesetze für verfassungwidrig. Das ist mutig, konsequent und klug.
Tim Wegner
04.05.2011

Es ist ein mutiges, konsequentes und kluges Urteil: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts  hat die Sicherungsverwahrung in der jetzigen Form gekippt und sich damit den Bedenken ihrer Kollegen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeschlossen. Bis Ende Mai 2013 haben Bundesregierung und Bundestag nun Zeit, die Gesetze neu zu ordnen. Das heutige Urteil gibt für dieses Verfahren einen wichtigen Maßstab vor: im Zweifel für die Freiheit.

Das Verfassungsgericht bleibt damit seiner Linie treu, unbequeme Urteile zu fällen und den Gesetzgeber zu korrigieren. Das ist in diesem Fall besonders mutig. Vielen Menschen fällt es schwer zu verstehen, warum Straftäter, die sehr schwere Gewalt- und Sexualtaten begangen haben, nun freikommen müssen; die Rede ist von etwa 70 Verwahrten, die bis Jahresende zu entlassen sind.

Die Antwort auf dieses Warum: Diese Menschen haben ihre Strafe mit der Haft verbüßt. Die Sicherungsverwahrung darf, so der Tenor des Urteils, diese Haftzeit nicht einfach verlängern - das verstößt gegen das Recht auf Freiheit, das für alle Menschen gilt. Nur in ganz seltenen Ausnahmen ist eine Sicherungsverwahrung zulässig, sie wird sich in Zukunft noch viel deutlicher von der Haft unterscheiden müssen. Vielleicht werden dafür – wie in den Niederlanden – sogar ganz eigene Einrichtungen außerhalb der Justizvollzugsanstalten entstehen.

An die Stelle der Sicherungsverwahrung muss in der Regel aber, so das Gericht, zukünftig ein „freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept“ treten. Das heißt: Straftätern muss nun verstärkt während der Haft die Chance zur Therapie angeboten – und natürlich auch abverlangt werden. Danach steht in der Regel die Chance, sich in Freiheit zu bewähren.

Verheerendes Signal verhindert

Das Urteil ist konsequent, weil sich die Verfassungsrichter den Bedenken des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angeschlossen haben. Hätten die Verfassungsrichter ihren Kollegen in Straßburg widersprochen, wäre das Signal verheerend gewesen: Deutschland leistet sich eine eigene Interpretation der Menschenrechte. Es wäre schwergefallen, von Staaten wie Weißrussland glaubhaft zu verlangen, sich an die Menschenrechte zu halten.

Konsequent ist auch, mit dem Flickenteppich Sicherungsverwahrung aufzuräumen und von der Politik eine komplette Neuordnung zu verlangen. Seit 1998 gab es mehr als zehn Änderungen zur Sicherungsverwahrung; selbst Juristen geben zu, dass es ihnen nur selten und nur in glücklichen Stunden vergönnt war, im Paragraphendschungel noch ein schlüssiges Gesamtkonzept zu erkennen. Immer wieder wurden Klagen und Einwände zwischen den Gerichten hin- und hergeschoben; mussten einzelne Richterinnen und Richter Verantwortung für die Frage übernehmen, wer freikommt und wer nicht.

Verantwortung liegt nun wieder bei der Politik

Diese Verantwortung liegt nun wieder bei Regierung und Bundestag. Ihre Aufgabe: Wie geht die Gesellschaft mit den Dilemmata um, die es im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit gibt? Das Verfassungsgericht gewährt der Politik für die Antwort auf diese Frage – und das ist klug – viel Zeit, nämlich zwei Jahre, bis Ende Mai 2013. Das verhindert gesetzgeberische Schnellschüsse, die zur heutigen Situation geführt haben. Und bietet zudem die Chance auf eine schwierige gesellschaftliche Debatte: Kann es eine vollkommene Sicherheit vor schweren Straftaten geben?

Nein, jedenfalls nicht, wenn eine Gesellschaft sich zu den Freiheitsrechten bekennt. Das Unvorstellbare ist nicht immer zu verhindern, das hat zuletzt die Festnahme des sogenannten Schwarzes Mannes gezeigt, der mutmaßlich über Jahre mehrere Jungen in Jugendheimen missbraucht und einige von ihnen getötet hat.

Auch die heute gekippten Regelungen zur Sicherungsverwahrung hätten diese schrecklichen Verbrechen nicht verhindern können.

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