Illustration: PR
"Wir brauchen Fantasie - nicht Fantasy"
Paul ist allein zu Hause. Seine Eltern? Immer unterwegs, nie richtig für ihn da. Peter Härtlings neues Kinderbuch nimmt berufstätige Mütter aufs Korn.
07.10.2010

Herr Härtling, mit "Paul, das Hauskind" veröffentlichen Sie nach zehn Jahren wieder ein zeitkritisches Kinderbuch. Was hat Sie dazu bewogen?

Mein Interesse für Kinder und der Umgang mit meinen Enkeln. Und die Geschichten, die man da so hört. Von Kindern, die unter der Trennung der Eltern leiden. Von sogenannten "doppelten Schlüsselkindern", die sich bei Bekannten abgestellt fühlen. Wie die Gesellschaft mit Kindern umgeht, weiß ich auch von meiner Frau, die als Psychologin im Jugendamt gearbeitet hat. Ich habe zwei bis drei Jahre über Paul nachgedacht. Er und seine Geschichte sind langsam in meinem Kopf gewachsen.

Sie sind 77 Jahre alt. Können Sie sich in die Seelenlage eines Kindes versetzen?

Ich glaube, jeder Mensch hat das Kind in sich, das er gewesen ist. Und bei mir wirkt dieses Kind immer noch stark nach. Ich hatte nicht gerade eine geschützte Kindheit. Ich habe Krieg und Flucht erlebt, meine Eltern früh verloren - das spielt bestimmt eine Rolle.

Sie erzählen kompromisslos aus der Perspektive des Kindes. Die Eltern lassen Sie nicht zu Wort kommen. Warum?

So kann ich zeigen, wie es auf ein Kind wirkt, wenn die Eltern nie richtig da sind. Mir geht es um den Gefühlszustand des Kindes. Und nicht um die tausend guten Gründe, die Erwachsene für ihren Arbeitseifer bestimmt anführen könnten. Es ist mir stets wichtig, lesenden Kindern zu zeigen, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen können. Ich schreibe keine didaktischen Bücher, sondern Vormach- oder Nachmach-Bücher. Deswegen wechsle ich die Perspektive ungern.

Wer seine Gefühle aussprechen kann, ist schon weiter, betonen Sie in Ihren "Fünf Überlegungen zum Schreiben von Kinderbüchern". Wie meinen Sie das?

Es gibt Menschen, die ungern über ihre Gefühle sprechen. Sie meinen, dass sie sich dann bloßstellen. Ich glaube, Kinder müssen lernen, mit Sprache umzugehen, und zum Beispiel sagen: "Das tut mir weh." Diese Direktheit beim Sprechen halte ich für extrem wichtig: "Das tut mir weh! " - nicht nur bei körperlichem Schmerz, sondern auch, wenn Erwachsene ihnen sagen: Du bist ein Idiot! Oder wenn sie sich nicht kümmern.

Sie sprachen in den 80er Jahren bereits vom "verfluchten Wohlstandsegoismus", der das Menschliche vernachlässigt. Führen Sie die Wohlstandsverwahrlosung bei Kindern heute darauf zurück?

Ja, der Egoismus hat sich durch das extrem materielle Karrieredenken sehr deutlich gesteigert. Das hat mit der Geschichte der Frauen seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Nach 1945 waren die Frauen unglaublich emanzipiert, dann setzte sich aber wieder der Mütterchentyp durch. Danach kam die scheinideologische Emanzipation und die Verselbstständigung der Frauen. Das begann mit einem starken Egotrip, was dazu geführt hat, dass immer mehr Frauen einsame Wölfinnen wurden. Das kann man auch an der großen Zahl von Alleinerziehenden sehen. Die Abweisung der Partnerschaft hat dazu geführt, dass die Kinder allzu oft auf der Strecke blieben. Das hat mich manchmal sehr aufgebracht. Ich verstehe diese Entwicklung sehr gut, aber für Kinder ist sie nicht gut. Die Frauen antworten mit ihrem Ehrgeiz im Übrigen auf den Egoismus der Männer, die noch immer ihren Besitzstand verwalten und verteidigen.

Was ist falsch daran, wenn Frauen Beruf und Kinder wollen?

Meine Töchter arbeiten ja auch und haben Kinder. Auch bei meiner Frau war es so. Sie ist Psychologin, hat aber Mutterpause gemacht - wir haben vier Kinder. Danach war sie erst einmal hinten an. Es ist mir klar, was das bedeutet. Wäre ich rigoros, würde ich sagen: Wenn Karriere, dann lieber keine Kinder kriegen. Lasst es bleiben.

Was wird aus Kindern, die dauerhaft von Eltern alleine gelassen werden?

Psychologen sagen, Kinder sind oft Prägungen und Abbildungen der Verhältnisse, unter denen sie aufgewachsen sind. Kinder aus Familien, in denen die Eltern sich getrennt haben, trennen sich ebenso leicht von ihren Partnern, wie ihre Eltern es vorgemacht haben. Die heutige Generation der Erben verwaltet bereits mit knallhartem Egoismus ihr Leben. Bei der nächsten wird es wahrscheinlich nicht anders sein.

In Ihren früheren Büchern ist meist der Vater abwesend, in "Paul, das Hauskind" ist es die Mutter. Die Journalistin übernimmt einen Job in New York, lässt Vater und Kind zurück. Warum ist diesmal die Mutter die "Böse"?

Weil sie so sein kann. Literatur lebt von Beispielen, auch wenn sie den Lesern vielleicht nicht passen.

Pauls Vater versucht der Rolle als Vater gerecht zu werden. Letztlich ist er aber überfordert und wird depressiv. Für Sie wäre es keine Lösung, wenn sich Väter mehr um die Kinder kümmern?

Nein. Wenn die Kinder schon alleingelassen werden, müsste es Menschen geben, die sich mit Vernunft und Herz so um sie kümmern, wie diese kleine Hausgemeinschaft in der Geschichte. Aber das ist sicher eine Utopie.

Was soll Ihre Hausgemeinschaftsutopie ausdrücken?

Eine menschenfreundlichere Gesellschaft, ganz einfach. Und eine aufmerksamere. Nicht nur durch eine glänzende Welt rennen und Geld scheffeln, sondern auch zur Seite gucken.

Warum schreiben Sie inmitten des Fantasybooms ein Buch über die Seelenlage eines vernachlässigten Kindes?

Dieser Fantasyboom bringt gesellschaftliche Entwicklungen zum Ausdruck, die ich verachte. Warum muss es Vampire geben? Warum müssen kleine Mädchen Bücher lesen, in denen Zähne ausgefahren werden und Hälse bluten? Das ist so töricht, traurig und schlimm. Ich bin wahrhaftig kein konservativer Mensch, aber da bin ich beherzt konservativ. Man muss diese furchtbare Wirklichkeit mit Fantasie überlisten. Wir alle brauchen Fantasie. Aber nicht Fantasy.

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