Sie achtete Freiheit höher als Anerkennung
Als Frau und als Jüdin gleich doppelt benachteiligt, kämpft Rahel Varnhagen mit sprühendem Geist für die Emanzipation
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
13.12.2010

Bin ich Jüdin, will ich es sein? Eine Frau ringt geradezu verzweifelt um die eigene religiöse Identität und um gesellschaftliche Anerkennung: Rahel Varnhagen, geborene Levin. Ihre prägenden Lebensjahre liegen in der Zeit, bevor Juden in Preußen die Bürgerrechte zugestanden werden (1812). Sie ist eine geistig brillante, weithin bekannte Person. Bereits mit 24 Jahren hat sie einen literarischen Salon, in dem sich zunehmend Dichter, Künstler, Philosophen und Politiker begegnen. Johann Wolfgang von Goethe bewundert Rahel Levins Schlagfertigkeit und ihre „starken Empfindungen“.

Nur: Geradezu selbstquälerisch leidet Rahel Levin darunter, dass sie Jüdin ist. Tausende Briefe aus ihrer Feder geben davon Zeugnis. Es ist ihr Lebensthema. Sie steckt tief in jenem Dilemma, das vielen Juden ihrer Zeit sehr vertraut ist: Soll sie, um gesellschaftlich anerkannt zu werden, ihre jüdische Herkunft verleugnen und sich noch mehr der deutschen Kultur anpassen? Es ist „der zentrale Wunsch ihres Lebens, aus dem Judentum herauszukommen“, schreibt ihre Biografin Hannah Arendt. Rahel Levin leidet unter dem Judenhass der Gesellschaft, sie hat ihn sogar so sehr verinnerlicht, dass sie sich ihrer jüdischen Herkunft schämt.

Doch dabei sollte es nicht bleiben. Im hohen Alter wird ihr deutlich, dass noch so viel Assimilation nicht mehr Achtung für sie und die jüdische Bevölkerung erbringt, sondern nur weiteren Anpassungsdruck: Nach der Assimilation wäre auch noch ein gewisses Quantum Antisemitismus wünschenswert. Hannah Arendt: „Assimiliert man sich wirklich mit allen Konsequenzen (...) des Soldaritätsbruchs mit denen, die es nicht oder noch nicht geschafft haben, so wird man ein Lump.“ Am Ende ihres Lebens schreibt Rahel Varnhagen: „Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, als Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen.“ Das sagt sie, obwohl sie 43-jährig wegen ihrer Heirat mit Karl August Varnhagen den christlichen Glauben angenommen hatte.

"Für uns ist kein Platz, kein Amt, kein Titel da"

Vorbildhaft ist Rahel Varnhagen darin, wie sie lernt, ihre Freiheit höher zu achten als alle vermeintliche Anerkennung von Intellektuellen und Politikern. Am Ende ihres Lebens gibt sie unumwunden zu: Nicht oberflächliche Kompromisse, nicht gesellschaftliche Anpassung, nicht das Erschwindeln von individuellen Vorteilen führen sie als Jüdin und als Frau weiter, sondern nur das Erreichen von mehr Rechten. Diese Einsicht äußert sie zwar weniger öffentlichkeitswirksam als ihr Zeitgenosse Heinrich Heine, aber die Ziele beider gleichen sich: Recht, nicht Herkunft soll für das Leben bestimmend sein. Sie klagt zu Recht (in einem Brief von 1810): „Wir sind neben der Gesellschaft. Für uns ist kein Platz, kein Amt, kein eitler Titel da!“

Es hat auch biografische Ursachen, dass Rahel Levin mit ihren Begrenzungen hadert. Obwohl sie Tochter eines reichen preußischen Edelsteinhändlers und Schutz­juden ist, bleiben ihr höhere Schulen verschlossen, und ihr Bruder, seit dem Tod der Mutter Familienoberhaupt, erlaubt ihr auch keine Geschäftstätigkeit. So schenkte sie ihrem politisch-literarischen Salon ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie ist keine sanfte Gastgeberin. In Debatten gibt sie sich respektlos, manchmal indiskret, sie redet wie ein Wasserfall, wird dafür bewundert, aber nicht geliebt. Sie hat kaum Freunde und sucht fast verzweifelt nach einer verlässlichen Liebesbeziehung, um sie dann, wenn sich ihr ein Mann nähert, bald zu zerstören. Sie bezeichnet sich selbst als heimatlos, als ausgegrenzt, als schwach und verletzlich.

1806 besetzt Napoleon für zwei Jahre Berlin. Die Weltläufigkeit der Berliner ­Salons wich politischer Enge, nämlich einem preußischen Patriotismus, der sich nicht nur gegen die Franzosen, sondern dann bald gegen die Juden richtete. Es heißt, Rahel Varnhagen hätte ihr privates Pech, ihr Unglück nie wirklich politisch eingeordnet, es nie als Folge der Judendiskriminierung verstanden. Sie hätte, anders als die jüdischen Literaten Heinrich Heine und Ludwig Börne, nie zur Solidarität mit anderen Entrechteten aufgerufen. Richtig ist, dass Rahel Varnhagen den Judenpogrom 1819 in Preußen als Beweis dafür sah, dass eine Assimilation den Juden nicht die erwünschte Anerkennung brachte.

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